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Kritik an den Inhalten professioneller Tätigkeiten bildet einen von der gegenwärtigen Linken wenig bedachten Bereich. Das war in der Bundesrepublik der 70er Jahre anders. Dieser Artikel vergegenwärtigt das damals existente Ausmaß der Auseinandersetzung, nennt einige ihrer Inhalte und Autoren, verortet arbeitsinhaltliche Ansprüche innerhalb der Widersprüche des Kapitalismus und geht der Frage nach, warum es um die auf kritische Gesellschaftstheorien bezogene Kritik an den Inhalten professioneller Tätigkeiten ruhig geworden ist.

In den 70er Jahren gab es in der Bundesrepublik eine vergleichsweise breite Kritik am Gesundheitswesen, der Schule, der Sozialarbeit sowie der Universität. Vielfältige diesbezügliche Arbeitsgruppen und Initiativen existierten. Sie sammelten sich u. a. in den verschiedenen ‚Arbeitsfeldern’ des ‚Sozialistischen Büro’. Seit 1968 existierte ein Sozialistischer Lehrerbund, dessen ‚Informationsdienst für sozialistische Lehrer’ 1973 „eine verkaufte Auflage von mindestens 5000 Exemplaren“ aufwies, „davon etwa 2000 feste Abonnenten“ (Vack 1973, 338). Das ‚Arbeitsfeld Gesundheitswesen’ bestand seit 1974 und gab einen ‚Informationsdienst Gesundheitswesen’ heraus. Der ‚Informationsdienst Sozialarbeit’ wandte sich ab 1972 „an Sozialarbeiter, Sozialpädagogen, Heimerzieher, Kindergärtnerinnen, Sozialplaner, Psychologen, Erziehungsberatungsstellen; Kriminologen, Pfarrer, Berufsschullehrer, Dozenten und Studenten an Fachausbildungsstätten, Studenten, die in sozialpolitischen Projekten arbeiten, und andere, die beruflich im Sozialbereich tätig sind“ (Vack 1973, 338). In der Ausgabe 14 (1976) ist eine Auflage von 5000 vermerkt. Die verschiedenen „Informationsdienste“ des SB wurden Anfang der 80er Jahre zu einem Periodikum zusammengefasst, das bis heute erscheint: ‚Widersprüche. Zeitschrift für sozialistische Politik im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich’.

Im Bereich der Schule wurde in den 70er Jahren vergleichsweise breit die Notwendigkeit gesehen, den verbreiteten Lehrinhalten andere Inhalte entgegenzusetzen. „Kritische Lehrer stehen vor der Schwierigkeit, tagtäglich unterrichten zu müssen, vorhandene Unterrichtshilfen wegen ihres überwiegend apologetischen Inhalts jedoch nur selten verwenden zu können. Mit der Reihe Roter Pauker werden Materialien aus der Unterrichtspraxis dargestellt: einerseits als Arbeitshilfe bei der Unterrichtsvorbereitung, andererseits als Gegenstand kritischer Reflexion und Diskussion“ (Sozialistisches Büro 1973, vorletzte, nicht mit einer Seitenzahl versehene Seite). Die Marxistische Gruppe gab noch in den späten 80er Jahren Broschüren heraus, in denen sie zentrale Inhalte des Deutschunterrichts, des Politik/Gemeinschafts- und Geschichtsunterrichts kritisierte und dies z. B. an literarischen Klassikern (Kafka, Brecht u. a.) verdeutlichte („Was man im Unterricht lernt – Marxistische Schulzeitung“) – es handelte sich um Zusammenstellungen von zuvor an Schulen verteilten Flugblättern.

Auch andere Organisationen unterhielten eigene Zeitschriften, die einzelne professionelle Praxisfelder diskutierten: Die Zeitschrift ‚Demokratische Erziehung’ war eher DKPnahen Organisationen wie dem Marxistischen Studentenbund Spartakus (MSB) und dem Sozialistischen Hochschulbund (SHB)[1] zuzuordnen, was nicht verhinderte, dass hier Aufsätze erschienen, die auch 30 Jahre später lesenswert sind[2]. Von diesem Milieu wurde auch lange der im Jahre 1968 entstandene ‚Bund demokratischer Wissenschaftler’ dominiert, der sich nach 1989 inhaltlich öffnete.

Die Marxistischen Gruppen bzw. ihre Vorläuferorganisation Rote Zellen/Arbeitskonferenz legten den Schwerpunkt ihrer Praxis darauf, seit Anfang der 70er Jahre in großem Umfang eine Kritik an vornehmlich den Sozial- und Geisteswissenschaften zu betreiben. Anspruch war hier, sich auf die Stärken des Gegners einzulassen[3]. Zusammengefasst wurde diese Kritik und die an sie geknüpfte politisch-strategische Einschätzung im damals breit diskutierten Band ‚Wissenschaft und Kapital’ (München 1972, Nachdruck Marburg 1973). Als gelungenes Beispiel dieser Kritik kann die auch heute noch lesenswerte Auseinandersetzung mit G. H. Mead gelten - auf drei eng bedruckten Zeitungsseiten in der ‚Münchner Studentenzeitung’ vom 2.5. 1974. Eindruck machte damals auch die in diesem Milieu als Prototyp einer durchgeführten Wissenschaftskritik gehandelte Kritik der Kommunikationsforschung (inklusive 80 S. Linguistikkritik) von Karl Held. Sie erschien 1973 (für heute undenkbar) im Hanser-Verlag. Die oft kurzschlüssige Selbstgewissheit[4] und das penetrante Auftreten[5] vieler MG-Adepten, das der in den Roten Zellen Marburg führende Michael Stamm bereits 1975 in seiner Austrittserklärung prägnant charakterisierte (abgedruckt in der Frankfurter Zeitschrift ‚diskus’ 3/1975, 25. Jg.), hat dieser Formation viel Antipathie und berührungsscheue Distanz eingetragen, bei gleichzeitiger Unterstützung durch Teile der Studentenschaft[6] und immanent gesehen durchaus erfolgreicher Rekrutierung langfristig treuer Anhänger. Die MG vermochte zu den seltenen von ihr veranstalteten Demonstrationen bundesweit in den 80er Jahren jeweils über 10.000 Teilnehmer zu versammeln. Früh sind die im positiven Sinne immunisierenden Effekte einer gründlichen kritischen Befassung mit Wissenschafts- bzw. Arbeitsinhalten wahrgenommen worden[7]. Von der Kritik im Beruf unterschied sich die MG-Kritik an Wissenschaften und Berufen dadurch, dass sie explizit nicht als Vorbereitung auf irgendwie kritische Berufspraxis gedacht war. Die MG hielt ihre Mitglieder und Sympathisanten dazu an, Tätigkeiten im Erwerbsleben danach zu wählen, dass sie möglichst viel Zeit und Einkommen ermöglichen für die getrennt von ihnen stattfindende politische Betätigung.

Auch andere studentische Organisationen wie die NRW-weit tätige Gruppe Rheinische Zeitung (1977, 15ff., 127ff.) und der (sich später z. T. der MG anschließende) SHB/SF betrieben eine auf Gesellschaftsstrukturen des Kapitalismus bezogene Wissenschaftskritik. Selbst die ‚Arbeitshefte für sozialistische Theorie und Praxis – Beiträge zur Arbeit der Juso-Hochschulgruppen’ hatten in Heft 3 (im April 1977) zum Themenschwerpunkt die Kritik bürgerlicher Wissenschaft. In der späteren MG wurde in den 80er Jahren der Schwerpunkt eher auf innen- und weltpolitische Themen gelegt. Kurz vor der Auflösung der MG 1991 erschienen in hoher Auflage Broschüren, die die Kritik an den Inhalten der Medizin, der Psychologie und der Pädagogik zusammenfassten (unter dem Titel: Argumente gegen die Medizin bzw. Psychologie bzw. Pädagogik bzw. VWL u. a.). Die spätere Zeitschrift ‚Gegenstandpunkt’ hat seit 1992 hier kaum neue Resultate vorgelegt. Eine Absplitterung der MG organisierte sich im ‚Arbeitskreis Bildung’, der von 1978 bis 1980 neun Ausgaben der Zeitung ‚Bildung’ herausgab und in zwei Bänden die Kritik an Schule auf eine konkretere und näher mit der Praxis befasste Weise artikulierte[8]. Auch die seit 1973 bis Ende der 70er Jahre in Münster erschienenen „Arbeitshefte zur materialistischen Wissenschaft“ von Autoren, die später die Zeitschrift ‚Peripherie’ und den Verlag ‚Westfälisches Dampfboot’ gründeten, gehören in dieses Spektrum[9].

Im Editorial zu Nr. 1 von ‚Psychologie und Gesellschaftskritik’[10] hieß es für den hier vorgestellten Teil der Wissenschaftskritik einschlägig: „Eine Kritik bürgerlicher Psychologie sollte aufzeigen, dass deren Fehler, Widersprüche und Ungereimtheiten – kurzum ihre Borniertheit – der kapitalistischen Produktionsweise entspringen und innerhalb ihrer ökonomischen, politischen und ideologischen Grenzen nicht zu überwinden sind. Mit diesem Aufweis werden Illusionen zerstört, die das Erscheinen der Widersprüche mit dem Ort ihrer Bekämpfung und Aufhebung gleichsetzen. … Nur die Kritik der bürgerlichen Wissenschaft und ihrer Organisationsstruktur lässt zu, dass sich Intellektuelle politisch richtig gegenüber den Widersprüchen in ihrem Arbeitsbereich verhalten … Die Auseinandersetzung mit bürgerlicher Psychologie kann nicht heißen, ihr durch einen bloßen, subjektiven Willensakt eine ‚bessere’, nunmehr ‚Wissenschaft … im Interesse … der arbeitenden Bevölkerung’ (FACIT 1974, Nr. 36 – eine Zeitschrift des MSB, Verf.) an die Seite zu stellen“ (S. 4f.). Die Autoren hätten auf eine Argumentation Max Horkheimers hinweisen können, die hier – um den Luhmannschen Klempnerjargon zu benutzen – anschlussfähig wäre: Es geht nicht darum, „irgendwelche Mißstände abzustellen, diese erscheinen … vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. … Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat. Während es zum Individuum in der Regel hinzugehört, dass es die Grundbestimmungen seiner Existenz als vorgegeben hinnimmt und zu erfüllen strebt …, ermangelt jenes kritische Verhalten durchaus des Vertrauens in die Richtschnur, die das gesellschaftliche Leben, wie es sich nun einmal vollzieht, jedem an die Hand gibt“ (Horkheimer 1970, 27f.).

Gegenüber Vorstellungen von einer irgendwie alternativen Berufspraxis wäre in diesem Spektrum ein Vorbehalt geäußert worden, den bereits Gottfried Keller in ‚Der grüne Heinrich’ formulierte (2. Fassung, vierter Teil, 2. Kapitel): „Es gibt eine Redensart, dass man nicht nur niederreißen, sondern auch wissen müsse aufzubauen, welche Phrase von gemütlichen und oberflächlichen Leuten allerwegs angebracht wird, wo ihnen eine sichtende Tätigkeit unbequem entgegentritt. Diese Redensart ist da am Platze, wo obenhin abgesprochen oder aus törichter Neigung verneint wird; sonst aber ist sie ohne Verstand. Denn man reißt nicht nieder, um wieder aufzubauen; im Gegenteil, man reißt recht mit Fleiß nieder, um freien Raum für Licht und Luft zu gewinnen, welche überall sich von selbst einfinden, wo ein sperrender Gegenstand weggenommen ist. Wenn man den Dingen ins Gesicht schaut und sie mit Aufrichtigkeit behandelt, so ist nichts negativ, sondern alles ist positiv, um diesen Pfefferkuchenausdruck zu gebrauchen.“ Ähnliches artikuliert auch W. Benjamin in seinen Thesen zum (von ihm ‚positiv’ gesehenen) ‚destruktiven Charakter’.

Anspruch einer im Praxisbereich betriebenen kritischen Arbeit war es, bspw. in der Schule „gegen die Schul-Bildung, deren Mittel (Unterrichtsgegenstände) zum Zweck des Erkennens zu machen. … Nur indem man die besonderen Unterrichtsgegenstände selbst für sich ernst nimmt … ermöglicht man eine Erklärung jener Umwelt, die die kapitalistische Bildung als nicht mehr zu ‚hinterfragende’ Voraussetzung zur Einübung ihr gemäßen Verhaltens nimmt. Wissen vermitteln heißt, die Inhalte aus ihrer Instrumentalisierung durch Erkennen zu lösen. Im Resultat werden die Abstraktionen abstrakt allgemeiner Bildung auf das zurückgeführt, wovon sie Abstraktionen sind, nämlich auf die kapitalistische Gesellschaft“ (Arbeitskreis Bildung 1979, 12).

Eine Diskussion um kritische Berufspraxis fand sich u. a. im Kursbuch 40 von 1975 (Titel: Beruf: Langer oder kurzer Marsch) und in Nr. 10 der in Berlin erschienenen ‚Schwarze Protokolle’ (1975). Im Argument-Verlag erschienen in der Reihe ‚Schule und Erziehung’ in den 70er Jahren und Anfang der 80er acht (???) Argument-Sonderbände mit Artikeln zur Kritik des Bildungswesens. Eine Mischung zwischen Kritischer Theorie, Foucault und Kritik der politischen Ökonomie enthielt die für die Kritik der Pädagogik wesentliche Zeitschrift ‚Randgänge der Pädagogik’. Sie erschien in Marburg von 1976 an in 13 Bänden. Als organisationsunabhängige Zeitschriften bzw. Schriftenreihe erscheinen bis heute zur Kritik der Psychologie das ‚Forum Kritische Psychologie’ als Publikation der Holzkamp-Schule und seit 1977 die Zeitschrift ‚Psychologie- und Gesellschaftskritik’. Sie hatte zunächst den Untertitel ‚Zeitschrift zur Kritik bürgerlicher Psychologie’. An ihr lässt sich ablesen, wie der ursprünglich kritische Impuls, die Analysen im Kontext eines grundsätzlichen, kritischen gesellschaftstheoretischen Horizonts zu verorten, verloren ging zunächst zugunsten irgendwie alternativer Vorschläge und Meinungen. Schließlich wurde dies Blatt (und seine Tendenz ist prototypisch auch für andere Blätter) zum Tummelplatz von Nachwuchswissenschaftlern und ihres Profilierungseifers („publish or perish“). Psychologie- und psychiatriekritische Artikel fanden sich auch in den 70er Jahren in der Zeitschrift ‚Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis’, die entgegen landläufigen Auffassungen von Verhaltenstherapie politisch kritischer war als das Gros der Psychoanalytiker.

Eine organisationsunabhängige Zeitschrift zur kritischen Auseinandersetzung mit der Medizin erschien im Argument-Verlag ab 1970 unter dem Titel ‚Kritik bürgerlicher Medizin’, hieß ab 1972 ‚Argumente für eine soziale Medizin’ und ab 1976 Reihe bzw. Jahrbuch ‚Kritische Medizin’. Weiterhin gab es das ‚Forum für Medizin und Gesundheitspolitik’ (ab 1977) und das ‚Gesundheitspolitische Forum. Kollektives Organ im Gesundheitssektor arbeitender Gruppen’ in der Mitte der 70er Jahre sowie die heute noch existierende Zeitschrift ‚Dr. med. Mabuse’. In München erschienen von 1979 bis 1986 elf Ausgaben der psychiatrie- und psychologiekritischen Zeitschrift ‚Türspalt’.

Vielfältige und zum Teil nicht an grundsätzliche Gesellschaftskritik anknüpfende Ansätze zur Kritik am Medizinsystem fanden ihren Ausdruck in Großveranstaltungen wie dem Gesundheitstag 1980 in Berlin. Zeitweise bestanden ‚Gesundheitsläden’, in denen ganz pragmatisch und verbraucherfreundlich Patienten beraten und alternativmedizinische Praktiken empfohlen wurden. Die grundsätzliche Kritik an der Medizin in der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie André Gorz (1977, 97-108) knapp und prägnant formulierte, wurde hier selten erreicht[11]. Die Kritik bewegte sich von der gesellschaftsformationsspezifischen Kritik weg zu einer allgemein modernekritischen Thematisierung des Experten. Von der „potentiellen Gemeingefährlichkeit“ (Goode 1972, 160) der Professionen wird gesprochen, sind sie doch von außen, von Vorgesetzten oder vom Laienpublikum, aus Kompetenzmangel nicht wirksam zu beurteilen oder gar zu kontrollieren. Mit Illich wurde die Macht in der Gesellschaft auf die Macht der Experten enggeführt.[12]

Seit 1976 existieren oppositionelle Listen in den Landesärztekammern und seit 1986 ein ‚Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte’ (vdää). 1976 errang in Hessen die ‚Liste demokratischer Ärzte’ „mit einem deutlich linken Wahlprogramm“ (Beck 2002, 78) aus dem Stand 10 % der Stimmen. Die Listen in anderen Bundesländern – in den neuen Bundesländern entstanden laut Beck keine – nannten sich ‚Liste Gesundheit’, ‚Liste Soziales Gesundheitswesen’, ‚Liste unabhängiger demokratischer ÄrztInnen’. „Bis etwa 1992 legten die oppositionellen Listen Wahl für Wahl zu und erreichten schließlich einen durchschnittlichen Stimmenanteil von 22 %. Seit 1996 allerdings hat sich das Blatt gewendet, stabilisieren sich die Wählerstimmen bei durchschnittlich 15-20%“ (Ebd., 78f.). In Berlin gelang es der ‚Fraktion Gesundheit’ über Koalitionen, ab 1987 den Präsidenten der Ärztekammer zu stellen. Ellis Huber wurde 1998 abgewählt. Seine Positionen (s. sein Buch „Liebe statt Valium. Plädoyer für ein neues Gesundheitswesen“. Berlin 1993, Taschenbuchausgabe 1995) waren Beispiel für eine radikale, wenn auch gesellschaftstheoretisch nicht fundierte Kritik am Medizinsystem. Es wäre zu fragen, inwieweit die von Winfried Beck (2002, 79), Vorsitzender des ‚vdää’ seit 1986, für die 70er Jahre genannten inhaltlichen Schwerpunkte der Medizinkritik in den 70er Jahren (Aufmerksamkeit für Umweltmedizin, für Nazivergangenheit der Medizin, für § 218, für psychosoziale Fächer als Inhalt der Ausbildung, für Psychiatriereform) den Horizont der Medizinkritik richtig umreißen. Becks eigener „radikaler Reformvorschlag“ (Ebd. 81f.) geht darüber weit hinaus, thematisiert aber nicht gesellschaftstheoretisch fundiert die Hindernisse der Realisierung solcher Vorschläge und die Denk- und Habitusformen im medizinischen Bereich (vgl. dazu Creydt 2006a).

Kritik an Technik und Ingenieurskünsten formulierte die Zeitschrift ‚Wechselwirkung’[13] seit 1978 und die in vergleichsweise hoher Auflage erschienene Taschenbuchreihe ‚Technologie und Politik’ im Rowohlt-Verlag in der zweiten Hälfte der 70er Jahre. Leider wurde hier nicht angeknüpft an eine bereits 1932 von Heinrich Hardensett formulierte Analyse der zur kapitalistischen Gesellschaftsformation in Divergenz stehenden Momente von Technik.

Ulrich Beck und Michael Brater haben arbeitsinhaltliche Ansprüche als notwendiges und nicht zu tilgendes Moment kapitalistischer Gesellschaften analysiert. Ihre These lautet, „dass diese Maßstäbe und Ansprüche aus den widersprüchlichen Strukturbedingungen der Berufsarbeit selbst hervorgehen und damit in genau derselben Weise gesellschaftlich-historisch begründbar und ‚realistisch’ sind wie die anderen, gemeinhin als sehr viel unproblematischer empfundenen ökonomisch-tauschbezogenen Interessen und Ansprüche im Beruf. Etwas pointiert ausgedrückt wollen wir den Gedanken ausarbeiten, dass sich unser Gesellschaftssystem über den Beruf potentiell selbst kritisiert und in Frage stellt, indem es hier strukturell Zwecke für subjektives Handeln hervorbringen muss, die ihm zugleich widersprechen bzw. den Maßstab darstellen, an dem es selber kritisch zu messen ist“ (Beck, Brater, Daheim 1980, 265). In der Zeitschrift ‚Leviathan’ wurden 1976 diese Thesen breit diskutiert.

Zwar bildet der Gebrauchswert kein exterritoriales Gelände gegenüber den kapitalistischen Strukturen, Formen und Bewusstseinsinhalten und wird von ihnen nicht einfach äußerlich unterworfen, setzt aber immerhin einer instrumentalistischen Warentauschorientierung Grenzen. Hoffnung mache, „wie wenig letztlich die subjektive Bedeutung der konkreten Inhalte der Berufsarbeit psychisch substituierbar ist durch abstrakte Gratifikationen“ (Beck, Brater 1976, 207). Allerdings müssen unter herrschenden Bedingungen die Arbeitenden schon aus eigenem Interesse ihre arbeitsinhaltlichen Ansprüche dann senken, wenn die sonst überbeanspruchte Arbeitskraft geschont werden soll und insofern Leistungszurückhaltung und -einschränkung nahe liegen. Und ebenso sind eigene Karrierechancen allzu oft mit einer Identifizierung mit dem ‚Angesagten’ verbunden. Hartwig Schmidt (1995) hat die hier einschlägigen Selbstunterwerfungen und Verkehrungen meisterlich charakterisiert. Emanzipatorische arbeitsinhaltliche Ansprüche geraten in Konflikt mit dem Bedürfnis nach Anerkennung[14]. Es kommt zu einer Art doppelter Verkehrung zwischen – etwas moralisch formuliert – betrogenen Betrügern (vgl. Creydt 2000, 296-303). Die Anbieter sichern sich ihren Absatz auch, indem sie der Herausarbeitung der Bedürfnisse mit ihrer Kompetenz zuvorkommen, vor der Frage die Antwort zu liefern. Umgekehrt finden sich die Anbieter beschränkt durch die entsprechend inhaltlich-qualitativ umstrittene Nachfrage, die sich zwar am vorfindlichen Angebot hatte bilden können, die Anbieter dann aber auf das entsprechende Niveau festlegt.

Beck/Brater betonen zu Recht, dass die individuelle konkrete Berufsarbeit lebensgeschichtlich in einen individuellen Entwurf eingestellt ist, der das Arbeiten in einen umfassenden Deutungs- und Sinnzusammenhang rückt. Alle Kritik an den die Individuen der Vergegenwärtigung ihrer eigenen prosaischen Realität enthebenden Sinnangeboten kann sich zum Sinnbedürfnis insofern nicht einfach negierend verhalten, als dieses auch „eine lebendige verdrängte, aber nicht aufgelöste Realität“ (1976, 191) beinhaltet. Arbeitsinhaltliche Ansprüche widersprechen der Orientierung am Prinzip, „erst dann etwas für andere zu tun, wenn man selbst ‚etwas davon hat’“ (Ebd.). Selbstverständlich sind „Selbstlosigkeit und Verantwortung für andere“ sowie „Interesse und Engagement an einer Aufgabe um ihrer selbst willen“ sowie „die Bereitschaft, die Arbeit nach ‚sachadäquaten’ und inhaltlichen Maßstäben zu verrichten“ (Ebd.) ambivalent. Die Berufs- und Helferideologien sind gewiss Gegenstand der gründlichen Auseinandersetzung, wenn an arbeitsinhaltlichen Ansprüchen im emanzipatorischen Sinne angesetzt werden können soll, sie veröden dieses Terrain aber nicht apriori zum für emanzipatorische Ansätze verbrannten Boden.

Dass die Arbeit von ihrer subjektiven Seite her Selbstzweck wird, wird bisweilen von Berufsmenschen anders realisiert als Gesellschaftskritiker sich es vorstellen. Auf die subjektive Verausgabung kommt es dann oft dem Individuum (neben der extrinsischen Belohnung) an. und dies überwuchert die Aufmerksamkeit für die soziale Dimension der Arbeit. So ist bspw. zu beobachten, wie Ingenieure in der Produktion sich gleichgültig gegenüber Zweck und Grund des Produktes und der sozialen Abwicklung der Produktion (z. B. Entlassungen) verhalten, wenn es ihnen nur selbst gelingt, sich mit einer Tätigkeit geltend zu machen, in der sie sich, wie es so heißt, ‚einbringen’ können. Die Konkurrenz um die interessanten Arbeitsaufgaben vergiftet die Atmosphäre. „Wenn man mit ‚denen ganz oben’, ‚privat’, über sein ‚eigenes Projekt’ verhandeln kann, das man dann in der Freizeit zu Hause für den Betrieb realisiert, so sichert man sich die Arbeit, die kreativ ist, mit der man sich identifizieren kann, in die keiner reinreden kann, mit der man quasi sein eigener Unternehmer wird. Einmal abgesehen von dem finanziellen Vorteil sichert man sich im Konkurrenzkampf nicht nur die interessanten Entwicklungsaufgaben, sondern zugleich auch ein Stück Autonomie und berufliche Identität. Damit lässt sich auch jenes psychische Gleichgewicht erhalten, das durch die Verunsicherung durch die alltägliche Routinearbeit im Betrieb verloren zu gehen droht. Zwar arbeitet man bis spät in die Nacht und achtet wenig auf die Gesundheit; aber man arbeitet nicht für den Papierkorb“ (Leithäuser u.a.1987, 203f.).

Arbeitsinhaltliche Ansprüche sind demgegenüber im emanzipatorischen Sinne immer auf im emphatischen Sinne gute Arbeit für gute Zwecke bezogen. Beck/Brater betonen, dass es einer an ihrer emphatisch verstandenen Gestaltung interessierten Gesellschaft daran gelegen sein muss, die instrumentelle Orientierung der Arbeitenden und deren Gleichgültigkeit gegenüber den Arbeitsinhalten zu überwinden. Zwar vermeidet diese Orientierung eine Schönfärbung der Arbeitsrealität unter Beanspruchung des sozialen Sinns der Arbeiten für ihre Adressaten, geht aber mit einer Delegation der Inhaltsbestimmung an Arbeit’geber’ und einer entsprechenden Entmündigung der Arbeitenden einher. „In dem Maße dagegen, in dem die Arbeitenden ihre Arbeit aus subjektiven Motiven heraus inhaltlich ernstnehmen, entwickeln sie Vorstellungen und Ansprüche, in Bezug auf diese Arbeit, werden sie in diesem Sinne zu deren bewusstem Subjekt, das nach eigenen Kriterien gestaltend und fordernd eingreift“ (Beck, Brater 1976, 209), und stellen das arbeitsinhaltliche Verfügungsmonopol der Arbeitgeber infrage. Insgesamt verbindet sich mit dieser arbeitsinhaltlich motivierten Gesellschaftskritik eine Utopie, in der „Arbeitsbedingungen und -ziele sich tatsächlich nach menschlichen Bedürfnissen richten, Persönlichkeit wirklich in der Arbeit entfaltet und gefordert wird, Produktionsarbeiter tatsächlich Nützliches herstellen, Werbefachleute wirklich kritische Informationen erarbeiten, Ärzte tatsächlich heilen, Lehrer Schülern wirklich Sinnvolles beibringen“ (Ebd. 212).

Die grundsätzlich kritische Aufmerksamkeit in und gegenüber den benannten professionellen Praxisfeldern ist im Laufe der 80er Jahre in den Hintergrund gerückt. Eine auf das Ganze der Gesellschaft bezogene Kritik der Professionen verlor mit einer Infragestellung dieses Theorietypus u. a. durch ökologische und feministische Perspektiven an Bedeutung. „Zwar lässt sich vermuten, dass die Zahl der im weitesten Sinne ‚links’ oder ‚alternativ’ politisch arbeitenden Menschen keineswegs abgenommen hat, aber ihre Orientierungen und Zielsetzungen sind anders geworden. Mangels praktikabler Perspektiven einer wirklichen Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse konzentriert sich ‚linke’, kritische und emanzipative Politik immer stärker auf Schadensbegrenzung, Abwehr von Diskriminierung und Übergriffen aller Art, Notfallhilfe und Katastropheneinsatz. Sie wird immer sektoraler und bereichsspezifischer, defensiver, auf punktuelle Missstände, spezifische soziale Gruppen und aktuelle Konflikte konzentriert. Was weitgehend fehlt, ist eine etwas umfassendere gesellschaftliche Perspektive“ (Joachim Hirsch, in: links, Zeitung des Sozialistischen Büros, H. 3/94, S. 51).

Der Abschied von der Einheit der Gesellschaftskritik motivierte sich auch oft aus dem reduktionistisch-abstrakten Charakter der gesellschaftskritischen theoretischen Entwürfe bzw. ihrem unentwickelten Stand. Auch die Propagandisten der Gesellschaftskritik und -theorie nahmen oft die Absicht für die Tat[15]. Auch ihnen fehlte der lange Atem. Die ‚neuen Franzosen’ und die Foucault-Rezeption trugen dazu bei, dass ein auf Allgemeinheit gerichteter Theorietyp als selbst gewaltsame Mimesis ans Schlecht-Allgemeine in Verruf geriet. Die in der zweiten Hälfte der 70er Jahre erstarkende spontaneistische Bewegung war großenteils mit einem starken Affekt gegen Theorie verbunden. Ihr wurde eine intellektualisierende Entfernung von vermeintlich unmittelbaren ‚Betroffenheiten’ vorgeworfen. Zudem schoben sich auch andere, wiederum einheitsstiftende übergreifende Themen in den Vordergrund – wie bspw. die ‚Repression’ 1976/77, die Abwehr von F. J. Strauß als Kanzlerkandidat oder die ‚Nachrüstung’. Auch die Ökologie wurde zu einer Art neuer Weltanschauung mit apokalyptischem Zeithorizont. Diese Themen einer alarmistischen Fünf-vor-Zwölf-Stimmung, die Ende der 70er, Anfang der 80er den kritischen Zeitgeist beschlagnahmten, standen einer geduldigen Arbeit an einer allgemeinen Gesellschaftskritik, die intern derart differenziert ist, dass sie in der Lage ist, die Praxisfelder von innen aufzuschließen, ebenso entgegen wie einer geduldigen Aufbauarbeit kritischer Praxis und einschlägiger Gegenöffentlichkeiten. Weiterhin zeigten bereits die Alternativbewegung und die Etablierung der Grünen das Bedürfnis, unmittelbar praktische Umsetzungsergebnisse der Kritik zu erzielen. Dies ging zulasten von deren Tiefe und führte zu einer pragmatischen Verwässerung im ‚Bessermachen’ unter unveränderten übergreifenden gesellschaftlichen Strukturen. Gewiss hat zum Erlahmen der Kritik der Berufsinhalte auch beigetragen, dass die im Vergleich zu den 70er Jahren später ungleich höhere Arbeitslosigkeit bereits Studenten nolens volens karriereorientierter werden ließ.

Allerdings ist auch aus den letzen 15 Jahren von Zeitschriften und Publikationen zu berichten, die den kritischen Impuls der grundsätzlichen Kritik an den professionellen Praxisfeldern weiterentwickeln. Die Kritik am Schulwesen wird im letzten Jahrzehnt formuliert u. a. von Andreas Gruschka und in der von ihm initiierten Zeitschrift ‚Pädagogische Korrespondenz’, in Klaus Holzkamps Buch von 1993 über das ‚Lernen’ (vgl. auch die entsprechenden Diskussionen u. a. im ‚Forum Kritische Psychologie’), von Freerk Huisken (1991, 1992) und Rolf Gutte (1994). Diese Publikationen zeigen an, dass eine grundsätzlich gesellschaftstheoretisch fundierte und zugleich sich auf die Besonderheit des Gegenstands einlassende Schul- und Pädagogik-Kritik formuliert und nachgefragt wird. Neuere Literatur zur grundsätzlichen und nicht nur verteilungstheoretisch oder gerechtigkeitsbezogenen (‚Die Armen sterben früher’) Kritik am Gesundheitswesen nenne ich in Creydt 2006. Eine sowohl mit ihrem Gegenstand vertraute als auch grundsätzliche Kritik an der Sozialarbeit hat Kurt Bader (1985, 1990) vorgelegt. Auch aus Fachbereichen wie der Landschaftsplanung ist von grundlegenden Analysen und Kritiken zu berichten, die das Besondere aus sich selbst heraus zum Allgemeinen aufschließen und über die Landschaftsplanung hinaus für die Debatten um das Verhältnis Gesellschaft-Natur, Ökologie, Nachhaltigkeit und Geschlechterverhältnis zentral sind[16].

Eine studentische Initiative zur Wissenschaftskritik veröffentlichte ab 2002 in Bremen eine ‚Schriftenreihe zu Bildung&Wissenschaft des AStA Uni Bremen’.[17] Auch im ‚Forum Wissenschaft’ – der Zeitschrift des BdWi – finden sich bisweilen kritische Artikel zur Wissenschaft und zu einzelnen Professionen. Einen Text, der die Notwendigkeit von Wissenschaftskritik als Schwerpunkt linker Praxis an den Hochschulen begründet, sowie eine nach behandelten Themen und Autoren gegliederte Liste jener Veröffentlichungen aus den letzten 30 Jahren, die als gute Exemplare bereits durchgeführter Wissenschaftskritik gelten können, liefert Creydt 2001.

In heutigen Positionsbestimmungen des der ‚Linkspartei’ nahe stehenden studentischen Verbandes mit dem sehr ansprüchigen Namen SDS spielen hingegen eine Kritik an Wissenschaften und Professionen keine Rolle. Wenn aber Studentenpolitik mehr sein soll als Werbung oder Nachwuchsrekrutierung für eine Wahlpartei oder akademischer Syndikalismus, dann ließe sich an vielen der oben genannten Analysen und Kritiken, Erfahrungen und Projekte anknüpfen.

Auch bewegungs-, gewerkschafts[18] - und ordnungspolitisch überschreiten die hier thematisierten arbeitsinhaltlichen Ansprüche den Begriff einer ergonomisch, arbeitsrechtlich und verteilungspolitisch verstandenen ‚guten Arbeit’, wie er bei vielen Linken dominiert. Demgegenüber geht es um die Aufmerksamkeit und Urteilskraft, die die externen und indirekten Effekte des Arbeitens, der Arbeitsprodukte und -voraussetzungen und der mit ihnen verbundenen Sozialbeziehungen im Blick hat. Auch Ursachen, Gründe und Motive des Bedürfnisses lassen sich vergegenwärtigen, wenn im kommunikativen Austausch von Produzenten, Konsumenten und anderweitig Betroffenen gefragt wird, welches Arbeitsprodukt welche Arbeitsmühe lohnt und welche Mängel der Lebensweise nicht selbst bearbeitet werden, sondern kompensatorisch oder überkompensatorisch Ausweichkonsum nahe legen. Diese Aufmerksamkeit übersteigt den Horizont der Warentauschenden.

Die jeweils Tätigen sind nun „Repräsentanten“ ihrer Kunden, Klienten und der von den Tätigkeiten und ihren direkten und indirekten Resultaten sonst Betroffenen (MEW 1, 325). Über die Qualität der sozialen Synthesis erweist sich als mitentscheidend, dass in der im guten Sinne professionellen Tätigkeit mitreflektiert wird, welche problematischen Effekte und Voraussetzungen dieses Tun nicht bedienen darf, soll es als Tun gelingen. Zu kritisieren ist z. B. der Missbrauch der Medizin zum Reparaturbetrieb für andernorts durch Arbeit an den Ursachen von Krankheiten zu beseitigendes oder zu minimierendes Leid. Medizin – um bei diesem Beispiel zu bleiben – muss über sich selbst hinausgreifen, um selbst gelingen zu können (vgl. ausführlicher dazu Creydt 2006a). Dass sich professionelles Tun an den beschriebenen arbeitsinhaltlichen Maßstäben orientiert, errichtet zudem Schranken gegenüber der individuellen Vorteilsnahme oder der minderwertigen Pseudoleistung vor dem Hintergrund des Kompetenzgefälles zum Kunden oder Klienten. Zu vergegenwärtigen und entwickeln ist in vielen Arbeiten eine ihnen eigene, nicht bornierende und nicht monopolisierungs- und immunisierungsanfällige professionelle ‚Ehre’, die sich nicht auf eine selbstwertdienliche Stilisierung des eigenen Tuns, sondern auf eine Innenlenkung bezieht, welche arbeitsinhaltliche Ansprüche und die Verortung des eigenen Tuns in der sozialen Welt zur Bremse für merkantile Ambitionen und zum fördernden Moment für die Arbeit an der Gestaltung der Gesellschaft geraten lässt: „Arbeit für die Welt und für uns“ (MEW 1, 346).

Mit dem Scheitern des sog. ‚real existierenden Sozialismus’ gewannen die Anreizvorteile der ‚Marktwirtschaft’ an Glanz. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung und dem Mangel an intrinsischer Arbeitsmotivation auch im modernen Kapitalismus[19] stellt sich die für jede sozialistische Perspektive zentrale Frage, wie die Beteiligten zu einer sorgsamen, effizienten und ihrer Effekte und Voraussetzungen bewussten Arbeit finden. Auch für die Antwort auf diese Frage bildet die Vergegenwärtigung und Entwicklung der hier beschriebenen arbeitsinhaltlichen Ansprüche ein wesentliches Moment.

* Ohne Rücksprache hat die Redaktion dem Artikel die Überschrift „Gesundheitswesen, Bildungswesen, Wissenschaften und Sozialarbeit. Professionelle Tätigkeiten als Gegenstand kritischer Reflexion“ gegeben. Die Aufzählung in der ersten Hälfte ist disparat (Professionsbereiche und Wissenschaft sind nicht auf einer Ebene angesiedelt) und in ihrer Reihenfolge ungeordnet. Die Kopfzeile der Zeitschriftenseiten enthält die von der Redaktion ebenfalls ohne Rücksprache formulierte Überschrift „Intellektuelle und Soziale Arbeit“. Diese (auch in Anzeigen für das Juniheft der Zeitschrift meinem Artikel zugeordnete) Überschrift suggeriert, Sozialarbeit sei das zentrale Thema des Artikels. Dies ist nicht der Fall.

[1] Der SHB hieß bis zum Namensentzug seitens der SPD 1973 Sozialdemokratischer Hochschulbund.

[2] Vgl. bspw. Georg Auernheimer 1977: Mündigkeit und Allgemeinbildung als Erziehungsanforderungen der bürgerlichen Gesellschaft. In: Demokratische Erziehung H. 3

[3] „Ferner muss die Widerlegung nicht von außen kommen, d.h. nicht von Annahmen ausgehen, welche außer jenem System liegen, denen es nicht entspricht. Es braucht jene Annahmen nur nicht anzuerkennen; der Mangel ist nur für den ein Mangel, welcher von den auf sie gegründeten Bedürfnissen und Forderungen ausgeht… Die wahrhafte Widerlegung muss in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht“ (Hegel).

[4] Sie ist Teilmenge einer übergreifenden Problematik, „die ungeheure Marxsche Arbeit der Kritik und ‚Verarbeitung’ lebendig zu erhalten“, so dass die Ergebnisse nicht zu „toten Evidenzen, wie Maschinen ohne Arbeiter“ werden. „Die marxistische Theorie kann sich der Geschichte gegenüber verspäten und sich selbst gegenüber verspäten, wenn sie jemals glaubt, angekommen zu sein“ (Louis Althusser 1977: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Hamburg, 76f.). Die Negativität missrät bei der MG bzw. ihren Anhängern oft zu einer neuen Positivität. Die Wahrheit wird dann, einem Wort Brechts zufolge, geglaubt wie die Lüge. „Die Selbstzufriedenheit des Vorwegbescheidwissens und die Verklärung der Negativität zur Erlösung sind unwahre Formen des Widerstandes gegen den Betrug“ (Adorno, Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Amsterdam 1947, 36).

[5] Den einschlägigen Habitus – auch und gerade in innerlinken Auseinandersetzungen – hat Rudolf Burger treffend charakterisiert in ‚Ästhetik und Kommunikation’ 31/1978.

[6] Die Rote Zellen/AK besetzten bis zur Abschaffung 1974 den AstA der Münchner Uni (LMU). Die MG errang 1978 in Bremen 5 von 25 und in Marburg 6 von 40 Sitzen im Studentenparlament.

[7] „Was sich auf den ersten Blick als Rückkehr zu bürgerlichem Wissenschaftsverständnis ausnimmt, als Leugnung von Habermas’ ‚Erkenntnis und Interesse’…, kann, als Wirkung in der Sozialisation der Studenten gesehen, Kontrollfunktion gegen ihre Herkunft und Zukunft gewinnen. Wer sich als Kleinbürger und künftiger Akademiker vornimmt, sich kein anderes Lebensziel zu setzen als das der Überwindung des Kapitalverhältnisses, stellt sich radikal in den Dienst eines Ziels, das er selbst nur durch den Kopf zu gewinnen glaubt … Wer als Lehrer, als Volkswirt, als Jurist so in den Beruf geht, hat eine hohe Mauer gegen den Weg nach oben gebaut, jedenfalls eine charakterliche“ (Fuchs 1977, 219).

[8] Auch heute noch von Interesse sind die Texte: Schule (I): Auslese. Kassel 1978, Programmatische Erklärung des Arbeitskreis Bildung. In: Ders.: Bildung Nr. 5. Göttingen 1979, Schule II: Anforderungen (1). Sich als Bürger verhalten können – Die Lernzielerfassung des Bürgers. Kassel 1979.

[9] Vgl. am prononciertesten das 140 Seiten umfassende Heft 13 (1978) zum „Hochschulsozialismus“ und deN Band 7/8 „Zur politischen Praxis von Lehrern“ (1977).

[10] Die Zeitschrift hieß 1977 zunächst ‚Psychologie und Gesellschaft’.

[11] Vgl. zu einer frühen Kritik an der Ausblendung grundsätzlicher, an Gesellschaftskritik anknüpfender Überlegungen den Beitrag von Thomas Willmann und mir im Info des Berliner Gesundheitsladens von 1982.

[12] „Ich schlage vor, dass wir die Mitte des 20. Jahrhunderts die Epoche der entmündigenden Expertenherrschaft nennen“. Die Experten werden zu „Machern der gesellschaftlichen Wünsche und Phantasien und der kulturellen Werte“ (Illich 1979, 7). Aus den jeweiligen Sonderrollen der Experten und Professionellen scheint sich selbst noch in ihrer Selbstkritik die Gewohnheit fortzusetzen, die eigene Stellung nicht relativieren zu können. Sie bleiben Gläubige ihres eigenen Scheins – wenn auch nun mit umgekehrtem Vorzeichen.

[13] In einer Werbeanzeige (von 1981) heißt es: „Wechselwirkung berichtet über politische Aktivitäten im naturwissenschaftlich-technischen Bereich, Gewerkschaftsarbeit und soziale Konflikte. Wechselwirkung analysiert die soziale, politische und ökonomische Funktion von Wissenschaft und Technik und zeigt deren Perspektiven und Alternativen auf. Wechselwirkung ist ein Diskussionsforum für Naturwissenschaftler, Ingenieure und Techniker.“

[14] Die viel beschworene ‚offene Gesellschaft’ funktioniert unter der Voraussetzung, dass sie „keine Differenz mehr kennt, die ihre Offenheit bezeugte. Natürlich erlaubt das System die Formulierung kritischer oder gar oppositioneller Ansichten. Doch wen interessierte das? Für die meisten Leute geht es schon lange nicht mehr darum, in irgendeiner Form Recht zu behalten gegen die normative Dampfwalze des Faktischen. Im Wesentlichen geht es vielmehr darum, dabeizubleiben – um nicht zu den Verlierern zu gehören“ (Rossum 2004, 38).

[15] Dabei kritisierte Marx die „klassische Ökonomie“ dafür, „unmittelbar, ohne die Mittelglieder die Reduktion zu unternehmen und die Identität der Quelle der verschiednen Formen nachzuweisen. … Sie (die klassische Ökonomie – Verf.) hat nicht das Interesse, die verschiednen Formen genetisch zu entwickeln, sondern sie durch Analyse auf ihre Einheit zurückzuführen…“ (MEW 26.3, 491).

[16] Vgl. die vielfältigen Publikationen von Ulrich Eisel seit 1980. Die Herausgabe eines ‚best-of’- Bandes der von Eisel neben seinen Büchern veröffentlichten Artikel ist überfällig.

[17] Gegenstand der Kritik waren der ‚Radikale Konstruktivismus’, das „Lernen unter dem Diktat der Note“, „Victor Klemperers antifaschistische Sprachkritik als Faschismuskritik aus dem Geist des Nationalismus“ u. a.

[18] Vgl. Creydt 2006b.

[19] „Nur 47% der deutschen Arbeitnehmer sind wirklich motiviert im Job. Die restlichen 53 % haben sich innerlich schon von ihrem Arbeitgeber verabschiedet oder werden von anderen Motivationen geleitet – vielen geht es nur um den Joberhalt, sie arbeiten um zu leben und nicht umgekehrt. Das kam jüngst bei einer Befragung von ‚The Executive Committee’, einer Organisation mittelständischer Führungskräfte, heraus“ (Schmincke 2005, 30).

Literatur:

Bader; Kurt 1985: Viel Frust und wenig Hilfe. Die Entmystifizierung sozialer Arbeit. Weinheim. Bd. 2 erschien 1990.

Beck, Ulrich; Brater, Michael 1976: Grenzen abstrakter Arbeit. Subjektbezogene Bedingungen der Gebrauchswertproduktion und ihre Bedeutung für kritische Berufspraxis. In: Leviathan 2/1976

Beck, Ulrich; Brater, Michael, Daheim, Hansjürgen 1980: Soziologie der Arbeit und Berufe. Reinbek bei Hamburg 1980

Beck, Winfried 2002: Gesundheitsmarkt – Oppositionelle Strömungen in der Ärzteschaft. In: Forschungsjournal NSB (Neue Soziale Bewegungen), Jg. 15, H. 3

Creydt, Meinhard 2000: Theorie gesellschaftlicher Müdigkeit. Frankf. M.

Ders. 2001: Die Wissenschaft, die nicht denkt. (In: Fachschaftsreferat des AstA FU Berlin (Hg.): Reader zum kritischen Hochschultag am 23.5.2001, S. 2 - 11 und 111ff.)

Ders 2006a: Selbstverantwortung als Ideologie. Die Medizin des Gesundheitswesens. In: Forum Wissenschaft 1/2006

Creydt, Meinhard 2006 b: Die Befreiung der Arbeit. In: Utopie kreativ Bd. 7/8

Meine Texte finden sich unter: www.meinhard-creydt.de

Fuchs, Werner 1977: Der Weg nach oben. In: Ortmann, Hedwig; Müller, Burkhard; Fuchs, Werner: Universitärer Alltag. Gießen

Goode, William J. 1972: Professionen und die Gesellschaft. In. T. Luckmann, W. Sprondel (Hg.): Berufssoziologie. Köln

Gorz, André 1971: Zerschlagt die Universität. In: Sozialistisches Jahrbuch 3. Berlin

Gorz, André 1977: Ökologie und Politik. Reinbek bei Hamburg

Gruppe Rheinische Zeitung 1977: Sozialistische Hochschulpolitik. Bonn

Gutte, Rolf 1994: Lehrer – Ein Beruf auf dem Prüfstand. Reinbek bei Hamburg

Hardensett, Heinrich 1932: Der kapitalistische und der technische Mensch. München

Holzkamp, Klaus 1993: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankf. M.

Horkheimer, Marx 1970: Traditionelle und kritische Theorie. Frankf. M.

Huisken, Freerk 1991: Die Wissenschaft von der Erziehung. Hamburg

Huisken, Freerk 1992: Weder für die Schule noch fürs Leben. Hamburg

Die beiden Bände erschienen … in einem Band.

Illich, Ivan u. a. 1979: Entmündigung durch Experten. Reinbek bei Hamburg

Leithäuser, Thomas u. a. 1987: Lebenswelt Betrieb. Opladen

Rossum, Walter von 2004: Meine Sonntage mit ‚Sabine Christiansen’. Wie das Palaver uns regiert. Köln

Schmidt, Hartwig 1995: Subjektivierende Unterwerfung. Erlebt in vorzugsweise intellektuellen Milieus. In: Ders.: Das unterwürfige Selbst. Mainz

Schmincke, Polly 2005: Krankmacher Karriere. In: Hochschulanzeiger (der FAZ) Nr. 80

Vack, Klaus 1973: Bericht über die Entwicklung des Sozialistischen Büros. In: Sozialistisches Büro (Hg.): Für eine neue sozialistische Linke. Frankf. M.