Dez
06

Die innere Vermüllung der Menschen mit Fremdstoffen
(in Telepolis 15.11. 2025)

Flammschutzmittel entweichen aus Autopolstern und Computern, Weichmacher aus Kinderspielzeug und Farben, hormonähnliche Substanzen aus Reinigungsmitteln und Unkrautvernichtern. In einem Statement des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland heißt es: „Ob ein Stoff z.B. Krebs auslöst, das menschliche Erbgut oder Haut- und Atemwege schädigt, ist für den Großteil aller Chemikalien ungewiss. Viele Studien zeigen jedoch: Für viele Stoffe in unserer täglichen Umgebung besteht der Verdacht, dass sie bspw. Brust- und Hodenkrebs, Leukämie, Allergien, Fortpflanzungsprobleme oder Geburtsfehler auslösen. Viele Stoffe werden für eine verfrühte Pubertät, sinkende Spermienzahlen und zahlreiche Berufskrankheiten verantwortlich gemacht. Besonders besorgniserregend sind Stoffe, die in der Umwelt nicht rasch abgebaut werden (‚persistent’ sind), sich in unseren Körpern ansammeln können (‚bioakkumulierbar’ sind), giftige (‚toxische’) Eigenschaften aufweisen und unser Hormonsystem beeinträchtigen können (eine ‚endokrine’ Wirkung haben)“ (BUND 2008, 6).

Der Toxikologe Peter Clausing (2017) nennt folgende alarmierende Zahl: „Nach konservativen Schätzungen belaufen sich in der EU die von hormonschädlichen Substanzen (in Pestiziden, Weichmachern und anderen Bestandteilen von Plastik – Verf.) verursachten Gesundheitskosten auf jährlich 157 Mrd. Euro.“

„350.000 Chemikalien und technisch erstellte Zusammensetzungen sind einer Studie zufolge weltweit bekannt“ (MDR 2022). Allein die Muttermilch enthält gegenwärtig 2800 Fremdstoffe (Donner 2021, 9). Das Branchenmedium der Bestatter heißt frivolerweise „Drunter und Drüber”. Es berichtet darüber, wie chemische Fremdstoffe in der Leiche deren Verwesung stören bzw. gefährlich für die Umwelt werden. Es handelt sich um Dioxin und PCBs, Flammschutzmittel, Weichmacher, Konservierungsstoffe, Pestizide, Schwermetalle. Die Anforderungen an die Filter der Feuerbestattungsanlagen steigen. Umweltmediziner sprechen inzwischen davon, es handele sich bei Leichen um „Sondermüll“.

Die Chemikerin Susanne Donner zeigt in ihrem Buch „Endlager Mensch“ (2021) die vielfältigen Wege, wie Fremdstoffe in den menschlichen Körper gelangen und dort Schaden stiften. Sie vergegenwärtigt dies z. B. an verschiedenen Bestandteilen von Kosmetika, Deos, Haarwasch- und Sonnenschutzmitteln. Sie zeigt „über welche verschlungenen Wege Mineralöle in unsere Speisen und Getränke gelangen, warum Chlorate trotz behördlicher Verbote unser Obst und Gemüse verunreinigen und weshalb polyfluorierte Kohlenstoffe weiterhin als wasserabweisende Beschichtung für Wegwerfverpackungen wie Pizzakartons und Popcornschachteln verwendet werden, obwohl Forscher seit Langem vor diesen langlebigen Substanzen warnen“ (Lutterotti 2021).

Früher war der Fisch in der Verpackung, heute ist die Verpackung im Fisch

Die To-go-Becher, in die der Kaffee abgefüllt wird, sind aus Pappe. Damit sie nicht durchweicht, ist sie mit Polyethylen beschichtet. Sie enthält Zusätze wie Weichmacher und UV-Stabilisatoren. Anders als bei festen Behältern gehen Spuren dieser Substanzen ins heiße Getränk über. „Der Deckel ist gewöhnlich aus dem Kunststoff Polystyrol. Schwappt die heiße Brühe dagegen, gelangen immer auch geringe Mengen der Stoffe Ethylbenzol und Styrol hinein, wiesen polnische Chemiker nach. Letzteres ist wahrscheinlich fortpflanzungsschädigend und krebserregend. Man trinkt aus diesem Becher also nicht nur Kaffee, sondern ein bisschen Verpackung“ (Donner 2021, 146f.). Ähnliches gilt für Plastikverpackungen, in die Lebensmittel eingepackt sind.

Mikroplastik
Unter Mikroplastik werden winzige Kunststoffteilchen verstanden, die dann entstehen, wenn größere Plastikprodukte wie Tüten oder Verpackungen zerfallen, wenn Autoreifen abgerieben werden oder wenn Kunststofffasern aus Teppichen, Kleidung, Polstern oder Vorhängen in die Luft geraten.

In einer Sendung des Deutschlandfunks vom 1. August 2025 heißt es: „Seit 2018 wurden laut WWF fast 1500 Studien zu den gesundheitlichen Folgen von Mikroplastik veröffentlicht. Viele dieser Stoffe lassen sich bereits im Körper nachweisen, etwa im Blut oder Lungengewebe. Studien zeigen mögliche Zusammenhänge mit zahlreichen Erkrankungen, darunter hormonell bedingte Krebsarten wie Brust- und Hodenkrebs, Unfruchtbarkeit, Asthma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Fettleibigkeit sowie neurologische Störungen wie ADHS, Autismus und Demenz.”

Zu hoher Anpassungsstress für Organismen
Susanne Donner stellt die These zur Diskussion, dass die in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegene Einwirkung eines „Cocktails von Fremdstoffen“, die zum Teil „erbgutschädigend oder gar mutationsauslösend wirken“, die Menschen – aus evolutionsbiologischer Perspektive gesehen – „einem neuen Umweltstress“ aussetzen, an den sich die Organismen anzupassen versuchen (Donner 51). Mit dem erhöhten Anpassungsstress ist – so die Molekularbiologin Susan Rosenberg – eine höhere Mutationsrate verbunden. Die erhöhte Mutationsrate könne eine Ursache für die Zunahme von Krebserkrankungen sein. Der Anpassungsstress trage bei zu den sog. Zivilisationskrankheiten. Diabetes, Herz-Kreis-Erkrankungen, Autoimmunkrankheiten von Allergien über Asthma bis zu rheumatoider Arthritis und Rückenleiden stellen dieser These zufolge auch „Anpassungskrankheiten“ dar (Ebd., 53).

Nicht nur die Umweltverschmutzung bildet ein zentrales Problem, sondern auch die „innere Vermüllung der Menschen“ mit Fremdstoffen. Das ist eine Formulierung der Toxikologin Marike Kolossa-Gehring vom Umweltbundesamt.

Forschende vom Stockholm Environment Institute sowie von der ETH Zürich definieren erstmals eine planetare Belastungsgrenze für Chemikalien einschließlich Plastik. Joachim Laukenmann (2022) fasst die Ergebnisse so zusammen: „Eine gefährliche Grenze ist dann überschritten, wenn die Gefahrenbeurteilung und die Regulierung neuer Chemikalien mit deren Markteinführung nicht mehr Schritt halten kann, wenn die Gesellschaft also die Kontrolle verliert über all die neuen Substanzen. Denn dann geraten potenziell giftige Stoffe in die Umwelt, bevor Regulierungsbehörden einschreiten können.”

Die Schwierigkeit der Zurechnung
Die direkte Zuschreibung eines Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs erweist sich aus verschiedenen Gründen als schwierig. Die negativen Effekte bauen sich erst langsam im Körper auf. Wenn nach Jahren und Jahrzehnten Krankheiten auftreten und dies gehäuft geschieht, erst dann entsteht die Frage nach mögliche Ursachen. Die Industrie profitiert von diesem Zeitverzug. Sie kann zunächst lange Zeit Stoffe unbekümmert um deren negative Folgen einsetzen. Es verhält sich so, als ob mit der Bevölkerung durchgetestet wird, wie viel Schädigungen durchgehen und wann sich wirksamer Protest regt.

Auch in Bezug auf die gesundheitsabträglichen Wirkungen der Fremdstoffe dominiert in Deutschland eine reaktive Technologiepolitik. Sie „lässt den Strom der technischen Entwicklung zunächst unkontrolliert anschwellen, um dann gewisse Verunreinigungen herauszufiltern. Sie wartet zunächst, bis bestimmte technische Entwicklungen bereits eine gewisse Gestalt angenommen haben, und untersucht erst dann, ob sie wünschenswert sind oder nicht. Statt dessen käme es darauf an, an den Quellen jenes Stromes anzusetzen und daraufhin zu wirken, dass nur erwünschte Gewässer in den Strom einmünden“. Es „müsste die technische Entwicklung so beeinflusst werden, dass sie unerwünschte Neuerungen gar nicht erst hervorbringt, sondern zielstrebig auf das gesellschaftlich Erwünschte hinarbeitet“ (Ropohl 1985, 236).

Chemische Dünge- und Pflanzenschutzmittel schädigen auch die Gesundheit der Beschäftigten in der Landwirtschaft. Wenn sie lange mit bestimmten Pflanzenschutzmitteln arbeiten und eine Parkinson-Erkrankung entwickeln, wird das (nach der Berufskrankheiten-Verordnung) inzwischen als Berufskrankheit anerkannt. Diese Anerkennung ist ein Fortschritt, drückt aber zugleich eine recht spezielle Präferenz der Rechtsprechung und Politik aus. Eher bekommen diejenigen, die in besonderem Ausmaß Opfer des Einsatzes von chemischen Dünge- und Pflanzenschutzmittel sind, die ärztliche Begleitung bei der scheußlichen Krankheit Parkinson bezahlt, als dass man die krankmachenden Substanzen aus dem Verkehr zieht.

Sich der Verantwortung entziehen
Die krankmachenden Wirkungen von Fremd- bzw. Schadstoffen treffen auf menschliche Organismen, die bereits durch stressige und belastende Arbeit, durch zu wenigen oder schlechten Schlaf, durch Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung, Nikotin und Alkohol geschwächt und geschädigt sind. Das erleichtert der Chemieindustrie die Ausrede, an ihren Substanzen habe es nicht gelegen, dass Menschen krank werden bzw. weniger widerstandsfähig sind gegen Krankheiten.

Ist die Entstehung einer Krankheit multifaktoriell verursacht, so spielen die Verursacher der gesundheitsabträglichen Schädigungen gern Verschiebebahnhof. Es gibt dann viele Möglichkeiten, die Ursachen für die Erkrankung bzw. die Schwächung der Abwehrkräfte anderswo zu verorten und den eigenen Beitrag interessiert auszusparen. Bei „Abwesenheit von isolierbaren Einzelursachen und Verantwortlichkeiten“ entsteht „eine allgemeine Komplizenschaft und eine allgemeine Verantwortungslosigkeit. Die Ursachen verkrümeln sich in einer allgemeinen Wechselhaftigkeit von Akteuren und Bedingungen, Reaktionen und Gegenreaktionen“ (Beck 1986, 43).

Wie die Chemieindustrie es denjenigen schwer macht, die die Risiken der Stoffe ermitteln wollen
Bereits personell weist die Chemieindustrie eine vielfache Übermacht an hochqualifizierten Spezialisten auf gegenüber den Behörden bzw. Instituten, die die Risiken der Fremdstoffe feststellen sollen. Die Hersteller übermitteln meist nur unzureichende Daten zu den Substanzen.

Das Bundesinstitut für Risikobewertung und das Umweltbundesamt „nahmen sich in Eigenregie bis 2018 die eingereichten Unterlagen zu fast 2000 Stoffen vor und studierten die Daten. Dabei handelt es sich wiederum um Chemikalien, die in sehr hohem Volumen mit mehr als tausend Tonnen pro Jahr in den Handeln gelangen. Die Behörden monierten, rund ein Drittel der Informationen seien unzureichend. Oft fehlten gerade die brisanten Daten zur Langzeitwirkung auf Menschen. […] Bei mindestens einem weiteren Drittel der Unterlagen erscheine die Lage komplex und lasse sich im Rahmen der Durchsicht nicht beurteilen. Und nur ein letztes knappes Drittel erscheine zumindest konform mit den Datenanforderungen“ (Donner 2021, 75f.)

Der Ökotoxikologe Rolf Altenburger arbeitet am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig und stellt fest: „Jeden Tag werden vier neue Substanzen in Laboren synthetisiert. Es gibt eine riesige Lücke. Von zigtausenden Stoffen haben wir gar keine fundierten Daten über die Wirkung auf Mensch und Umwelt. Deshalb kommt es ständig zu bösen Überraschungen“ (zit. n. Donner 2021, 81).

Die Begutachtung der chemischen Stoffe begnügt sich bisher in der allermeisten Fällen mit einer Einzelstoffbewertung der Substanzen. Im Organismus aber wirken die verschiedensten Fremdstoffe zusammen. „Meist fehlen uns schlicht Daten über die Wirkungen der Einzelstoffe, um abzuschätzen, was sie im Mix anrichten“, so Andreas Kortenkamp, Toxikologe an der Brunel University in London (zit. n. Donner 2021, 32).

Wie sich der Bedarf an Produkten der Chemieindustrie massiv verringern lässt
Wir klammern in diesem Artikel ein anderes gravierendes Problem aus. Die Chemieindustrie stößt in sehr hohem Maße Treibhausgas aus und auch ihr Stromverbrauch ist enorm. Diesem Problem widmet sich ein ebenso knapper wie instruktiver Text von Klaus Meier (2022). Er weist darauf hin, wie sich der Bedarf an chemischen Produkten senken lässt. Viel Chemie steckt in ultrakurzlebigen Verpackungen. Eine Pfandpflicht auf Behälter bzw. Gläser würde hier für Abhilfe sorgen. Die Transformation des Verkehrswesens in eine Richtung, in der der Pkw-Verkehr an Bedeutung abnimmt und der Stellenwert des Öffentlichen Personenverkehrs zunimmt, vermindert massiv den Bedarf an chemischen Produkten wie Kunststoffsitze, Armaturen, Autolacke oder auch Autoreifen.
Eine ökologisch verträgliche und der Gesundheit der Konsumenten zuträgliche Landwirtschaft
wird den Einsatz chemischer Düngemittel sowie chemischer Stoffe zur Schädlingsvernichtung massiv zurückfahren.

Politische Folgerungen

Die Chemieindustrie eilt von Geschäftserfolg zu Geschäftserfolg. Zugleich bildet sie das Paradebeispiel für die Orientierung an einem recht partikularen Zweck. Er besteht in der profitablen Herstellung gut verkaufbarer Produkte. Ob sie direkt oder indirekt die Gesundheit schädigen, interessiert die Firmen erst dann wirklich, wenn die Schädigung zum Skandal führt und dies den Geschäftserfolg bedroht. Die gegenwärtigen staatlichen Aktivitäten schützen die Verbraucher nur sehr unzureichend vor den negativen Folgen.

Häufig wird der Lebensstandard daran gemessen, wie viel Geld die Bewohner eines Landes ausgeben können. Diese Auffassung blendet aus, was die angebotenen Produkte mit den Menschen machen. Der Kampf um die Verteilung verändert die Proportionen zwischen den verschiedenen Klassen. Die einen bekommen dann mehr vom Kuchen, die anderen weniger. Die Qualität des Reichtums bzw. der produzierten Güter ändert das nicht.

Würden die in der kapitalistischen Marktwirtschaft angebotenen problematischen Gebrauchswerte (vgl. Creydt 2021) ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, dann verändern sich auch die sozialen Konflikte. Es könnte die Erwartung entstehen, nicht lediglich mehr vom vorhandenen Kuchen zu bekommen, sondern einen anderen Kuchen zu backen. In diesem Zusammenhang lässt sich auch nach dem bestehenden Betriebssystems der Wirtschaft fragen. Unter seiner Voraussetzung lohnt es sich, problematische Produkte zu produzieren und zu verkaufen.

Literatur:
Beck, Ulrich 1986: Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt M.
BUND 2008: Endstation Mensch – Nur nicht giftig werden. Berlin
Clausing, Peter 2017: Eingeklemmt zwischen Großkonzernen. In: Der Rabe Ralf. Die Berliner Umweltzeitung. H. 3 (April), S. 12
Creydt, Meinhard 2021: Der Überfluss an problematischen Produkten und Dienstleistungen. In: Junge Welt, 23. 12. 2021, S. 12f.
Deutschlandfunk 2025: Plastik im Körper – Unsichtbare Gefahr
Donner, Susanne 2021: „Endlager Mensch“. Wie Schadstoffe unsere Gesundheit belasten. Hamburg
Laukenmann, Joachim 2022: Enorme Umweltverschmutzung – Chemikalien sprengen die Belastungsgrenzen des Planeten.
Lutterotti, Nicola von 2021: Schadstoffe im Körper: Die Risiken und Wechselwirkungen kennt kaum jemand. In: FAZ 18.08. 2021
MDR 2022: Chemiecocktail des Alltags. Sorgt er für verzögerte Sprachentwicklung? MDR 14.3. 2022
Meier, Klaus 2022: Eine Chemieindustrie ohne CO2-Emissionen? Wie es gehen kann.
Ropohl, Günter 1985: Die unvollkommene Technik. Frankfurt M.