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Nicht der Rassismus ist der Kern des neuen rechten Populismus, sondern eine „moralische“ Deutung des Ökonomischen
(in: der Freitag, 27.11. 2025, S. 19)

Oft ist angesichts der Zustimmungswerte für die AfD zu hören, die anderen Parteien sollten die „berechtigten Sorgen” von AfD-Wählern aufnehmen und auf sie „bessere Antworten” geben. Ist diese Empfehlung dem Bewusstsein von AfD-Anhängern gewachsen?

Wir beginnen mit einem scheinbar harmlosen Satz: „Eigentlich ist es in unserer Gesellschaftsordnung möglich und zu erwarten, dass der Tüchtige Erfolg hat.” Das denken Viele mit gewissen Modifikationen. SPD-Wähler machen die Möglichkeit des Erfolgs davon abhängig, dass per Sozialpolitik, Kita und Schule schichtspezifische Nachteile verringert werden. Wähler der grünen Partei halten den individuellen Erfolg erst dann für legitim, wenn er nicht zulasten der ökologischen Lebensbedingungen geht. Beide Einschränkungen sind für AfD-Anhänger nicht charakteristisch. Vielmehr bildet der genannte Satz die Prämisse oder Voraussetzung ihrer Selbst- und Weltsicht.

Nun bleibt nicht aus, dass auch AfD-Wähler allerhand Situationen zur Kenntnis nehmen, in denen dies nicht der Fall zu sein scheint. Es muss sich dabei nicht um Schwierigkeiten handeln, die die eigene Person betreffen. Es reicht, wenn sie die „allgemeine Lage” pessimistisch beurteilt. Umfragen zeigen, dass die selbe Person häufig ihre eigene Lage als „gut” bewertet.

Die als schlecht wahrgenommenen Situationen lassen sich ganz verschieden interpretieren. Viele sind der Meinung, die Betroffenen seien letztlich „selbst schuld” an ihrer Misere. Das Ausbleiben des Erfolgs ließe sich auch dadurch erklären, dass andere im Marktgeschehen einfach „mehr Glück” hatten als die Betroffenen. Letztere hätten, wie es zu manchem Fußballspiel heißt, besser gespielt, als es sich im Ergebnis darstellt.

Bei AfD-Anhänger dominiert eine andere Deutung. Sie machen bestimmte Gruppen ausfindig, die das eigentlich gute Funktionieren der Ordnung empfindlich stören. „Die Migranten”, die „rotgrün Versifften”, „die vielen faulen Bürgergeld-Schmarotzer”, die „dem Leistungsprinzip abgewandten Figuren im öffentlichen Dienst” oder andere Gruppen verhindern dieser Meinung zufolge, dass „unsere gute Ordnung” zur Geltung kommt.
AfD-Wähler interpretieren die wirtschaftliche Gemengelage und den Erfolg bzw. Misserfolg von ökonomischen Akteuren nicht ökonomisch. Sie wollen den Auf- oder Abstieg bestimmter Firmen, Branchen oder Nationen nicht als normale Phänomene der Konkurrenz ansehen. Sie sagen sich nicht „In der Konkurrenz gibt es nun einmal Sieger und Verlierer. Das gehört zur Konkurrenz dazu.”

Wird Tüchtigkeit nicht durch Erfolg belohnt, hat dies für AfD-Wähler nichts mit der von ihnen als gut erachteten Wirtschaftsordnung zu tun. Vielmehr identifizieren sie Gruppen, die die Tüchtigen „benachteiligen”, „betrügen” oder zumindest „unzureichend würdigen”. Ökonomische Sachverhalte werden als Missetaten interpretiert. Und die Missetäter handeln dieser Meinung zufolge nicht aus Zufall oder Missgeschick so, wie sie es tun, sondern weil sie keinen Sinn für Tüchtigkeit haben und danach streben, ohne Tüchtigkeit Erfolg zu haben.

Zur Tüchtigkeit gehört für AfD-Anhänger die Härte gegen sich selbst. Sie meinen, der Sozialstaat trage zur Verwöhnung und Verweichlichung bei. Sie mache die Betroffenen „lebensuntüchtig”. Eine Person, die solche Parolen vertritt, muss nicht davon überzeugt sein, sie sei selbst ein Ausbund an Robustheit. Viele kultivieren ein Bewusstsein, das weniger zu dem passt, wie sie faktisch sind, als zu dem, wie sie gern wären.
Wer sich die Erfolglosigkeit seines eigenen Handelns selbst zuschreibt, hat häufig Scham- und Schuldgefühle. Generalpräventiv gegen die Selbstbeschuldigung wirkt diejenige Deutung der schlechten Lage, die in ihr keine Niederlage, sondern ein Unrecht sieht.

Diese Interpretation entlastet diejenigen, die von der schlechten Lage betroffen sind oder betroffen sein könnten. Es macht einen großen Unterschied, ob man angesichts negativer Auswirkungen eines als unveränderbar erscheinenden Wirtschaftssystems sich selbst als ohnmächtig ansieht oder ob man sich auffasst als jemand, der wegen einem eindeutigen Rechtsverstoß nicht zu dem kommt, was ihm eigentlich zusteht. Im zweiten Fall tragen Personen für ihre schlechte Lage keine Eigenverantwortung. Zudem gehen AfD-Anhänger davon aus, die schlechte Lage sei in der gegebenen Gesellschaftsordnung keinesfalls notwendig. Vielmehr sei sie leicht vermeidbar, wenn nicht länger an den richtigen Stellen die falschen Leute sitzen. Die Kampagne gegen die genannten Gruppen von „Versagern”, die „die Tüchtigen” um den Lohn ihrer Tüchtigkeit bringen, hat einen weiteren Vorteil. Während Linke das Wirtschaftssystem und die Rechtsordnung massiv verändern wollen, meinen AfD-Anhänger, es komme einzig und allein darauf an, die Maßstäbe der geltenden Wirtschafts- und Rechtsordnung durchzusetzen gegen die „Versager” und gegen die Cliquen, die widerrechtlich Macht ergriffen hätten.

Das Subjekt spielt im Weltbild von AfD-Anhängern eine große Rolle. Für sie gibt es keine Erklärung von Problemen aus objektiven ökonomie-internen Zusammenhängen. Probleme resultieren AfD-Wählern zufolge daraus, dass böse Subjekte bzw. Störenfriede eine gute Ordnung sabotieren. AfD-Anhänger haben von sich das Selbstbild, sie könnten mit ihrem „Durchblick” die politischen und wirtschaftlichen Phänomene leicht einordnen und begreifen. Damit unterscheiden sich AfD-Wähler von vielen Mitbürgern. Unter letzteren ist folgende Meinung weit verbreitet: „Die Ökonomie und Politik sind für mich undurchschaubar. Ich verstehe vieles Entscheidende nicht bzw. mir ist häufig noch nicht einmal klar, was wirtschaftlich oder politisch als entscheidend und was als nebensächlich zu gelten hat.” AfD-Anhänger sehen sich selbst als Personen an, denen „man nichts vormachen kann”. Sie machen für alle Probleme Strippenzieher, Betrüger und widerrechtlich sich Raum und Macht verschaffende Kollektivsubjekte verantwortlich. „Ja, so einfach ist das!” So gelingt es AfD-Anhängern, sich selbst wenigstens in einer Hinsicht als Subjekt aufzufassen. Sich als Subjekt verstehen kann nur diejenige Person, die sich weder einer undurchschaubaren Gemengelage von Faktoren gegenübersieht noch meint, von ihnen auf unvorhersagbare Weise abhängig zu sein, wie dies bspw. bei Wirtschaftskonjunkturen und -krisen der Fall ist.

AfD-Anhängern gelten die langen Jahrzehnte des westdeutschen Wirtschaftswachstum nach dem 2. Weltkrieg keinesfalls als Wirtschafts„wunder”. Vielmehr greifen sie auf ihre Prämisse „Erfolg hat der Tüchtige” zurück. In Westdeutschland hätten die Deutschen gezeigt, was sie können. In der DDR seien die Deutschen nicht minder tüchtig, aber „der Russe” und die SED hätten sie um den Lohn ihrer Tüchtigkeit gebracht. In Deutschland sei seit 1989 der Einfluss tüchtigkeits- und wirtschaftsfeindliche Gruppen zu groß geworden. Nicht nur hätten „Klimahysterie” und „falsche Nachsicht gegenüber den Faulen und Arbeitsverweigerern” den Sinn für die Tüchtigkeit geschwächt. Vor allem habe unglücklicherweise eine Auffassung in der Politik an Einfluss verloren. Diese Auffassung lautet: „Deutschland hatte Erfolg, weil die Deutschen tüchtig waren. Andere Länder waren nicht erfolgreich, weil ihre Bevölkerung – wenigstens im Durchschnitt – viel weniger tüchtig war. Migranten kommen häufig aus diesen Ländern, bringen ihre geringe Tüchtigkeit mit und senken den Anteil der Tüchtigen in Deutschland enorm. Deshalb gilt es die Migration von Untüchtigen zu stoppen und diejenigen, die bereits hier sind, müssen Deutschland verlassen, damit es wieder zum Land der Tüchtigen werden kann.”

Der Vorschlag, vom Denken der AfD-Wähler die „falschen” Antworten abzuziehen (wie eine Zahl von einer anderen) und dann auf deren „berechtigte Sorgen” oder „richtige Fragen” bessere Antworten zu geben, bleibt diesem Bewusstsein äußerlich. Es ist keine lose Kombination von harmlosen Fragen und gefährlichen Antworten. Wer das annimmt, blendet die eigene Folgerichtigkeit des AfD-Denkens aus. Es formuliert die Problemstellungen so, dass sie zu dem skizzierten Welt- und Selbstbild passen. Viele Linke meinen, AfD-Wähler folgten einem eigentlich anerkennenswerten Protest, der lediglich bislang durch die AfD fehlgeleitet werde. Es gibt zwar gute Gründe, für eine linke Wohnungs- und Sozialpolitik stärker in der Öffentlichkeit einzutreten. Die Erwartung aber, damit die Zustimmung zur AfD kleinzukriegen, unterschätzt die (ideologisch und psychisch attraktive) Weltanschauung ihrer Anhänger.

Anhang

Tobias Kröll schreibt am 28. 11. in der crit-psych-Mailingliste zu meinem Artikel „Ideologie der Tüchtigkeit” (erschien in: der Freitag, 27.11.25):

„Es werden unbelegte Pauschalurteile über Menschen gefällt, die AfD wählen, im Gegensatz zu Linken und allen anderen. Ich vermute, dass es keine belegbaren grundlegenden Unterschiede gibt im ‚Menschsein’, außer in der jeweiligen individuellen Sozialisation und den jeweils aktuellen Lebenszusammenhängen.”

Mein Artikel enthält keine „Pauschalurteile über Menschen”. Er interessiert sich gar nicht dafür, ob AfDler z. B. gute Ehepartner oder hilfsbereite Nachbarn sind oder nicht. Der Artikel hat nicht das „Menschsein” von AfDlern zum Thema, sondern die in ihrem Denken dominierenden Deutungsmuster.

Der Artikel formuliert eine Alternative zu zwei häufig anzutreffenden Charakterisierungen des Denkens von AfDlern. 1) Es sei rassistisch oder faschistisch. 2) Es sei von legitimen Sorgen erfüllt, biege dann aber „falsch” ab, weil es den AfD-Antworten zustimmt. Gegenüber diesen beiden Interpretationen schlägt der Artikel vor zu probieren, wie weit man damit kommt, das Denken von AfDlern als einer moralischen Deutung des ökonomischen Geschehens bzw. einer ideologischen Tüchtigkeitsmentalität folgend zu verstehen.

Ob sich Deutungsmuster durch empirische Untersuchungen „belegen” lassen, darüber sind sich Sozialforscher bekanntlich sehr uneinig.
Der Artikel folgt der Annahme, dass sich Deutungsmuster benennen lassen, die eher für AfDler charakteristisch sind als z. B. für Wähler der grünen Partei. Gewiss gibt es Unterschiede zwischen AfD-Anhängern, aber daraus folgt nicht die These: „Alle sind jeweils individuell derart einzigartig, dass sich nichts Gemeinsames über sie feststellen lässt.”

T. Kröll meint, es sei sinnvoller zu fragen, wie das AfD-Denken bei Individuen entstehen bzw. sich herausbilden könne. Er geht damit zu einem anderen Thema über („individuelle Sozialisation”, „jeweils aktuelle Lebenszusammenhänge”). Allerdings kommt auch diejenige Person, die sich fragt, wie eine Person zu einem AfD-Anhänger wird, nicht darum herum zu klären, um was für ein Denken es sich inhaltlich überhaupt handelt.

T. Kröll berichtet im weiteren Verlauf seiner Stellungnahme von allerhand Assoziationen, die ihm zur Entstehung des Bewusstseins von AfDlern einfallen, ohne sich noch an seinen kurz vorher geäußerten nominalistischen bzw. postmodernen Vorbehalt (wer über einzelne einzigartige Individuen etwas ihnen Gemeinsames sagt, werde zwangsläufig „pauschal”) zu erinnern.

In seiner Stellungnahme zeigt T. Kröll, was er tut, während er meinen Artikel kommentieren möchte. Er befasst sich mit mancherlei, nur nicht mit der Argumentation des Artikels.

PS:
T. Kröll fragt sich nicht, wie sein pauschales Hantieren mit dem „pauschal”-Vorwurf in Zusammenhang steht mit der ideologischen Selbstdeutung vieler vermeintlicher Individualisten. Der vereinzelte Einzelne hat häufig Anlass zu meinen, in seinem „wirklichen” Sein nicht „gesehen” oder berücksichtigt zu werden. Seine Einzigartigkeit komme angesichts allgemeiner Vorgaben nicht zur Geltung. Die Frustrationen in der gesellschaftlichen Realität verarbeiten viele Individuen als Nivellierungserfahrung und beantworten sie mit einem reaktiven Subjektivismus. Die Betroffenen steigern „das verbleibende Privateigentum des geistigen Ich zu um so eifersüchtigerer Ausschließlichkeit“ (Georg Simmel). Es kommt dann dazu, „dass man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert beimisst als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität“ (Norbert Elias). Untersuchungen kommen zu dem „Ergebnis, dass spezialisiertes Training und detailliertere Information die Urteilsgenauigkeit bei der Personwahrnehmung eher mindern als erhöhen.” Die Konzentration auf die „differentielle Genauigkeit, d. h. auf die individuellen Unterschiede”, führt dazu, „die Unterschiede zwischen Menschen zu übertreiben“ (Joseph P. Forgas). „Wer Differenzen predigt und sie immer wieder betont, der sorgt dafür, dass man diese stärker wahrnimmt und sich auch an diesen Differenzen stärker stören kann“ (Nils Heisterhagen). (Vgl. ausführlicher zu dieser Thematik: https://www.rosalux.de/publikation/id/45141/terry-eagletons-analyse-und-kritik-populaerer-postmoderner-denkweisen) Wer, wie T. Kröll, pauschal mit dem „pauschal”-Vorwurf hantiert, muss sich fragen, in das Anziehungsfeld welcher Mentalitäten er damit gerät.

Elias, Norbert 1987: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt M.
Forgas, Joseph P. 1987: Sozialpsychologie – Eine Einführung in die Psychologie der sozialen Interaktionen. München
Heisterhagen, Nils 2018: Die liberale Illusion. Warum wir einen linken Realismus brauchen. Bonn