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(erschien geringfügig gekürzt in:
Makroskop, Themenheft „Energie für die Wende“, Herbst/Winter 2023, S. 40-45)

Im Postwachstum-Denken sind fragwürdige Annahmen über die prinzipielle Unverträglichkeit von Ökologie und Kapitalismus weit verbreitet. Ein neu erschienener Postwachstum-„Wegweiser“ zeigt, wie diese Szene fragwürdige Ideologeme recycelt – Hauptsache, sie lassen sich irgendwie wachstumskritisch einspannen.

„Postwachstum“-Theoreme sind gegenwärtig in einem schmalen Segment populärwissenschaftlicher Publizistik anzutreffen und finden Zuspruch bei manchen Anhängern von sozialen Bewegungen, die sich für die Abwendung der Klimakatastrophe engagieren. Eine zentrale These lautet, die Entkoppelung des Wachstums von seinen ökologisch problematischen Folgen sei unmöglich.

Behauptet wird, dass mit Einsparungen durchweg eine Erhöhung ökologisch problematischer Effekte einhergeht. Die These, dass technische Innovationen zur Einsparung von Emissionen letztendlich wirkungslos seien (Rebound-Effekt), ist letztlich aber nur zur Hälfte wahr. Sie erreichen dem Rebound-Experten Tilman Santarius (2012, 19) zufolge immerhin ca. 50% der versprochenen Einsparung. (Santarius’ Text ist herausgegeben worden vom Wuppertal Institut für Klima.) Die CO2-Emissionen und das BIP-Wachstum entwickelten sich (laut Lindner 2021) zwischen 2005 und 2018 wie folgt:

Großbritannien Frankreich Deutschland Japan USA
CO2-Emissionen - 26% - 20% - 18% - 14% - 12%
BIP + 18% + 15% + 22% + 9% + 25%

(Zur Kritik an Argumentationen zum Rebound-Effekt im Postwachstum-Denken vgl. a. Land 2011, 14; Land 2017, 6-8.)

Weit verbreitet ist die Parole, auf einer endlichen Erde sei evidenterweise kein unendliches kapitalistisches Wachstum möglich. Ein Einwand dazu lautet: „Klingt logisch, ist es aber nicht. Denn das Wachstum, das der Kapitalismus braucht, ist von anderer Art als die Grenzen der Erde. Das Wachstum ist ökonomisch, es wird in (inflationsbereinigten) Dollar, Euro oder Yuan gemessen. Die Grenzen der Erde aber sind physisch: Quadratkilometer, Kilogramm, Kilowattstunden. Wirtschaft (kapitalistisch oder nicht) wird immer Natur vernutzen. Dass aber ein Wachstum in Dollar, Euro oder Yuan notwendig mit einer immer weiter ansteigenden Nutzung von Quadratkilometern, Kilogramm und Kilowattstunden oder konkreter mit immer mehr Treibhausgrasemissionen einhergehen muss, ist alles andere als zwingend“ (Biskamp 2022).

Die Aussage vieler sog. Ökosozialisten, dass eine prinzipielle Unverträglichkeit zwischen der kapitalistischen Ökonomie und der Berücksichtigung ökologischer Nachhaltigkeitsimperative bestehe, wird häufig nur behauptet, aber nicht belegt. Diese These bildet eine Nachfolgefigur oder einen Ersatz (funktionales Äquivalent) für die Annahme, Verelendung sei im Kapitalismus notwendig und stelle den evidenten Beweis dafür dar, dass der Kapitalismus definitiv am Ende sei. Ohne sozialistische Revolution werde – so die frühere Überzeugung – die Arbeiterschaft durch überlange Arbeitszeit und Kinderarbeit physisch degenerieren. Heute tritt an die Stelle dieser Annahme die These, jede Person, die elementare ökologischer Bedingungen eines gedeihlichen menschlichen Lebens für erhaltenswert erachte, müsse für die Überwindung des Kapitalismus eintreten.

Umstritten ist auch die oft wiederholte Auffassung (vgl. z. B. Altvater 2006, 72ff., 86f., 212f.), die kapitalistische Ökonomie sei undenkbar ohne fossile Basis und unvereinbar mit einem solaren Zeitalter. Die Gegenthese lautet: „Der Kapitalismus kann auch mit der Solarenergie auskommen und mit dieser unerschöpflichen Energiequelle möglicherweise sogar eine höhere Stabilität aufweisen“ (Massarrat 2011, 55).

Wer problematische Argumente der Postwachstum-Fraktion kritisiert, muss deshalb noch kein pauschaler Befürworter von Wachstum sein. Ganz unabhängig von der ökologischen Problematik gibt es in der Bevölkerung viele erfreuliche Diskussionen dazu, ob bestimmte wirtschaftlich bedeutsame Produkte und Dienstleistungen die Lebensqualität erhöhen oder ihr eher schaden. (Vgl. Creydt 2021b.)

Geht die kapitalistische Ökonomie vom Wachstum zur Stagnation über?
Bereits John Maynard Keynes sah die kapitalistische Akkumulationsdynamik des 19. Jahrhunderts als ein außerordentliches bzw. singuläres Phänomen an. Er prognostizierte für die Zukunft des Kapitalismus eine „Stagnation“. Dieser liegt die „Reduktion der Investitionen zugrunde, die bis zur Beschränkung auf abschreibungsfinanzierten Anlagenersatz führen kann, in dessen Rahmen aber auch technische Innovationen realisiert werden können. Das bedeutet Verzicht auf Erweiterung der kapitalistischen Reproduktion, also einen Akkumulationsstopp. So dass von einem Akkumulationszwang theoretisch nicht mehr die Rede sein kann“ (Tjaden 2011, 69).

Karl Georg Zinn weist darauf hin, dass Keynes seine langfristige Wachstumsskepsis mit der wachsenden Kapitalfülle und der deshalb sinkenden Kapitalrendite begründete. „Das sieht dann doch wie ein spätes Stiefgeschwister des Theorems vom tendenziellen Fall der Profitrate aus. Keynes und Marx gelangten auf getrennten Wegen zur gleichen Einschätzung der Zukunftsaussichten des Akkumulationskapitalismus“ (Zinn 2015, 11).
Dieser Einschätzung zufolge entfallen die Gründe dafür, „Postwachstum“ mit „nachkapitalistischer Gesellschaft“ zu verknüpfen. Bereits innerhalb des Kapitalismus erlahmt die „Bewegungskraft des Industriekapitalismus, die Kapitalakkumulation. Symptome der Akkumulationskrise sind beispielsweise die Überkapazitäten vieler Branchen und der als ‚Gesundschrumpfen? beschönigte Kapazitätsabbau, die zentralbankpolitisch zwecks Investitionsbelebung erzwungenen Niedrigzinsen usw.“ (Ebd., 9).

Als Bestätigung der Stagnationsprognose sieht Zinn „die seit etwa drei Jahrzehnten anhaltende Akkumulationsflaute der reichen Volkswirtschaften [...]. Die Krise müsste eigentlich längst als das erkannt worden sein, was sie ist: auslaufende Akkumulationsdynamik. [...] Die anhaltende Akkumulationsschwäche ließ die Überersparnis weiter ansteigen. Die Ersparnisse wurden von Spekulationsbanken in äußerst riskante, genauer: dubiose Projekte kanalisiert“ (Ebd., 41).

„Das extreme Missverhältnis zwischen Kreditangebot und seriösen Anlagemöglichkeiten, die den herkömmlichen [...] konservativen Kriterien der Kreditvergabe genügen, hat sich als dauerhaft herausgestellt. Es handelt sich also nicht um die herkömmliche konjunkturelle Überersparnis, sondern um ein recht eindeutiges Stagnationssymptom. Politik und herrschende Wirtschaftslehre wehren sich jedoch gegen die Einsicht, dass der Akkumulationsprozess ausläuft“ (Ebd., 42).

Für die Postwachstum-Position und ihre zentrale These, die modernen kapitalistischen Gesellschaften seien abhängig vom Wachstum, entsteht dann ein Problem, wenn bereits innerhalb des Kapitalismus das Wachstum massiv abnimmt.

Zinn (2015, 10) tritt dem herkömmlichen Kapitalismusverständnis entgegen, dem zufolge „ein Ende von Akkumulation und Wachstum zugleich auch das Ende jeglichen Kapitalismus schlechthin einläutet.“ Auch Karl Hermann Tjaden hält einen politisch durchzusetzenden ökologischen Rahmen für durchaus denkbar, innerhalb dessen „die eigentumsrechtliche Verfügungsgewalt und Ausbeutungsmacht der Unternehmen begrenzt, aber nicht als Institution abschafft, und ihre Konkurrenz um Extraprofite nicht verhindert“ wird (Tjaden 2011, 73).

Daniel Buck (2008, 64) betont diejenigen Extraprofite, die nicht dem Vorgehen entspringen, „auf der gleichen Ebene miteinander zu konkurrieren.“ Letzteres sei nur die zweitbeste Lösung. Die beste liege darin, wenigstens für eine Zeit lang „eine solide und unangreifbare Marktposition gegenüber der Konkurrenz“ zu erreichen (Ebd., 65). Diese vorübergehende Monopolstellung sowie Pioniergewinne lassen sich durch „neue Produkte, neue Produktionsprozesse oder Maschinen, neue Materialien, neue Ressourcen“ gewinnen. „Es geht also nicht darum, bestehende Ressourcen bloß effizienter einzusetzen, sondern neue zu schaffen“ (Ebd.).

Es gibt gute Gründe, für die Überwindung der kapitalistischen Ökonomie einzutreten. Die Frage ist, ob das Engagement für die Abwendung der Klimakatastrophe zu diesen Gründen gehört. Die Diskussionslage zur Frage, ob es möglich ist, die kapitalistische Ökonomie ökologisch nachhaltig zu gestalten, ist alles andere als eindeutig. Manche sind der Auffassung, die ökologische Modernisierung dieser Wirtschaft sei ebenso möglich wie der Übergang vom Manchester-Kapitalismus zum Sozialstaat. Dieser Übergang galt zu Zeiten von 12-Stunden-Arbeitstag, 6-Tage-Woche und Kinderarbeit als unvorstellbar.

Auf einer anderen Ebene argumentiert ein pragmatischer Einwand: Wer für „Öko-Sozialismus“ eintritt, kann damit vielleicht die bereits von ökologischer Nachhaltigkeit Überzeugten ansprechen, wird mit dem Votum für Sozialismus aber den Zulauf zur „Klima-Bewegung“ gegenwärtig kaum verstärken. „Gegner der Klimabewegung behaupten schon länger, den Aktivisten gehe es nicht allein um die Umwelt, sondern darum, sozialistische Reformen durch die Hintertür einzuführen“ (Cwiertnia 2019).

Technologische Innovationen
Es gibt gute Argumente gegen die Vorstellung, die CO2-Verpressung oder die Kernfusion seien effiziente Mittel für den Zweck, die Klimakrise vermeiden zu können (vgl. z. B. Blume 2023, Speckmann 2023). Aus der Absage an einzelne Technologien sollte aber keine pauschale Skepsis gegenüber Technologien entstehen, die geeignet sind, negative Folgen des Wirtschaftens auf das Klima massiv zu verringern. Diejenigen, die gegenwärtig die mangelnde Nachhaltigkeit für einen zentralen Einspruchsgrund gegen die kapitalistische Ökonomie halten, unterschätzen notorisch die Möglichkeit, „dass Durchbrüche in Feldern wie Nanotechnologie, Biotechnologie oder Gentechnik nicht nur neue Treibstoffe, energieeffizientere Produkte und industrielle Prozesse bringen werden, sondern völlig neue Produkte, hergestellt mit Materialien und in Produktionsprozessen, die wir uns zur Zeit noch gar nicht vorstellen können“ (Buck 2008, 69).

Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass technisch-wissenschaftliche Innovation und Dynamik zwangsläufig mit einem ökologisch problematischen Wachstum zusammenfallen.

Dass technologische Innovationen einen zentralen Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise leisten können, heißt keineswegs, dass sich Innovationen im gegenwärtigen Kapitalismus automatisch durchsetzen müssen. Diese Hoffnung lässt außer Acht, dass „das Geheimnis“ der „schwachen und rückläufigen Entwicklung in der wirtschaftlichen Volatilität und der anhaltenden Profitkrise“ liegt, „von denen die USA und die gesamte Welt seit den 1970er Jahren geplagt werden“ (Moody 2019, 154). Auch diese beide Phänomene tragen dazu bei, dass Unternehmen sich mit „großen und kontinuierlichen Investitionen in neue Technologien“ zurückhalten (Ebd.). Die Kapazitätsauslastung in der Industrie lag in den USA noch über 80% und schwankt mittlerweile um 75% (Ebd.). „Ohne ein Wirtschaftswunder dürfte der weitere Vormarsch der Roboter in weiten Teilen der Industrie holprig und langsam verlaufen“ (Ebd.).

Faktisch ist der Zusammenhang von kapitalistischer Marktwirtschaft und Innovation nicht so eng, wie es häufig im Kontext der pauschalen Gleichsetzung von Kapitalismus mit Wachstum behauptet wird. Der Anteil der deutschen Unternehmen, die Innovationen vorgenommen haben („Innovatorenquote“), lag 1992 bei 60%, 2015 bei 36% (Schmidt 2019, 73). Ähnliche Daten finden sich auch für die USA (vgl. Moody 2019, 151-153). Moody nennt als Ursachen für eine die USA betreffende zurückhaltende Investition in teure Robotik („Der Vormarsch der Roboter erlahmt“ (ebd., 137) die Produktivitätssteigerungen durch Intensivierung der Arbeit (ebd., 141f.) und die grundlegenden Entwicklungsproblemen der Robotik.

Der Robotik-Experte Hans Moravec stellt fest, es sei „vergleichsweise einfach, Computer mit der Leistungsfähigkeit von Erwachsenen Mathematikaufgaben lösen, Intelligenztests bewältigen oder Schach spielen zu lassen, dass es hingegen schwer oder unmöglich war, sie in Hinblick auf Wahrnehmung und Bewegung mit den Fertigkeiten eines einjährigen Kindes auszustatten“ (Brynjolfsson, McAfee 2014, 40). Die Zeitschrift ‚Economist’ berichtet 2016 über einen vom Pentagon gesponserten Roboterwettbewerb: „Sie fielen aufs Gesicht und sie fielen auf den Rücken. Sie stürzten wie Kleinkinder, falteten sich wie billige Anzüge zusammen oder gingen wie eine Tonne Ziegelsteine zu Boden“ (The Economist: Humanoid Robots: After the Fall, 13.6.2015).

Holger Görg, Leiter des Forschungszentrums Internationale Arbeitsteilung am Institut für Weltwirtschaft Kiel weist hin auf „das Beispiel des Adidas-Konzerns, der den 3D-Druck-Versuch mit einem Turnschuhmodell nach kurzer Zeit einstellte. Es habe sich einfach nicht gerechnet. ‚Die Möglichkeiten technologischer Entwicklung sind da, aber beim Ausschöpfen sprechen wir eher von Dekaden’, sagt er“ (Pezzei 2020).

Dem amerikanischen Ökonomen Robert K. Gordon (2012) zufolge haben wir es in den USA mit einer „stockenden Innovation“ zu tun. „Die Innovationen seit dem Jahr 2000 haben sich auf Entertainment- und Kommunikationstools konzentriert, die kleiner, smarter, multifunktioneller sind als die vorhergehende, aber die auf keine fundamentale Weise die Arbeitsproduktivität oder auch unseren Lebensstandard beeinflussen.“

Eine US-amerikanische Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, „dass zwar die Zahl der wissenschaftlichen Artikel wächst, die disruptive Forschung, die mit bekannten Mustern bricht, aber nicht. Das Gros der Wissenschaft folgt eher ausgetretenen Pfaden und optimiert vorhandenes Wissen. Das zeigt sich bereits in den Überschriften vieler Fachartikel, in denen heute öfter Wörter wie ‚improve? oder ‚use? vorkommen“ (Krull 2023). Eine unmittelbare Ursache dafür liegt darin, dass „die Forschungspolitik möglichst schnelle Ergebnisse erwartet und die Forschungsförderung tendenziell das Vorhersehbare belohnt. Wer sich heute um Drittmittel bewirbt, muss in seinem Antrag genau definieren, was er in welcher Zeit erforschen möchte. Zugespitzt formuliert: Er muss schon wissen, was er im Ergebnis herausfinden möchte. Das funktioniert am besten, wenn er an bekannten Stellen einfach tiefer bohrt. Bei einem solchen Vorgehen entsteht aber kaum grundsätzlich Neues. [...] Alles, was die bisherige Erfolgsspur verlässt, ist begründungsbedürftig und damit aufwendig für alle Seiten“ (Ebd.).

Inwieweit könnte der Staat solche Forschungs- und Entwicklungstechnologien (nun: für die Bewältigung der Klimakrise) bündeln und forcieren, die im kapitalistischen business as usual keine Resonanz finden? In diesem Zusammenhang wird gern auf das nachahmenswerte Beispiel des Verbunds von Großprojekten für das US-Amerikanische Apollo-Mondfahrt-Projekt hingewiesen. Aus sich heraus, ohne die Staatsintervention, bringe – so die hier einschlägige Auffassung – die kapitalistische Ökonomie nicht genügend technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt zur Bewältigung zentraler Aufgaben hervor.

Bausteine des „Postwachstum“-Denkens und ihre Kollateralschäden

Das Postwachstum-Denken sieht im „kulturellen Verlangen nach Weltreichweitenvergrößerung“ (Adler 2022, 109), im „instrumentellen Verhältnis zur Natur“ (ebd., 24) und im „Profitstreben“ (ebd., 30) drei verschiedene Ausdrücke für ein und dasselbe: das Wachstumsparadigma. Tragend für die Geisteshaltung, die Adler in seinem „Wegweiser“ zum Postwachstum vorstellt, der über 600 engbedruckte Seiten umfasst, ist das Analogiedenken. Es analysiert keinen speziellen Denkansatz und kein besondere Anliegen in der großen weiten Welt sozialer Bewegungen für sich genommen. Jedes Engagement wird vielmehr sogleich der überwertigen formellen Abstraktion (Wachstum) subsumiert und für den Postwachstums-Zweck vereinnahmt. Mithilfe des Oberbegriffs „Postwachstum“ soll ein ebenso vages wie pseudoradikales Bündnis von Kapitalismus-, Fortschritts-, Technik- und Patriarchatskritikern sowie Gegnern der „imperialen Lebensweise“ geschmiedet werden. Faktisch handelt es sich um einen neuen Versuch, politisch auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu setzen.

Diese Fusion erfordert freilich von ihren Parteigängern ein geistiges Opfer: die Konfusion. Bspw. sieht Birgit Mahnkopf (2015, 97) das „unbegrenzte Anspruchsdenken (in der Form des Profits oder des Konsums)“ als Ursache des Wachstums an. Mahnkopf tut mit dieser Aufzählung so, als handele es sich um Gleichrangiges. Es kümmert sie auch nicht, wer sonst angesichts von Lohnforderungen und Forderungen nach sozialstaatlichen Leistungen notorisch von „Anspruchsdenken“ spricht.

Wortführer der Postwachstum-Szene schreiben: „Ebenso wichtig sind Wertschöpfungsketten, die eine billige Aneignung von Ressourcen und Arbeitskräften andernorts ermöglichen, sowie laxe Abgasnormen und eine gesellschaftliche Statuskonkurrenz, die auch über den Autobesitz ausgetragen wird“ (Wissen, Brand 2017, 79). Die objektiven Strukturen und die Mentalitäten der „Statuskonkurrenz“ gelten hier für die Erklärung der Gesellschaft als „ebenso wichtige“ Faktoren. Die Kritik am objektivistischen Reduktionismus führt nicht weit, wenn sie meint, alles sei gleich objektiv oder subjektiv ober objektiv-subjektiv. Für Gesellschaftstheoretiker bedeutet diese Aussage einen Offenbarungseid.

Auf ähnlichem Niveau meinen Meike Spitzner und Ulrike Röhr (2011, 5), feststellen zu können: „Die Priorisierung des Autoverkehrs gegenüber allen anderen Personenverkehrsinfrastrukturen ist bis heute einer genderspezifischen Rationalität geschuldet“.
Gegenwärtig genießt das Auto im Durchschnitt weniger emotionale Wertschätzung bei Frauen als bei Männern. Vielleicht lässt sich an diesem Sachverhalt im Engagement für eine Umgestaltung des Verkehrsbereichs anknüpfen. Die „genderspezifische Rationalität“ ist aber nicht mit der Ursache dafür zu verwechseln, dass im Verkehrswesen des modernen Kapitalismus der Pkw dominiert. Mit seiner Produktion lässt sich sehr viel mehr Mehrwert schaffen als mit der Produktion von Bahnen, Bussen, Sammeltaxis u. ä. (vgl. Paulsen 2020).

Daran wird sich auch dann nichts ändern, wenn der Unterschied zwischen Frauen und Männer in Bezug auf die psychische „Besetzung“ des Autos und des Autofahrens verschwindet. Wer objektive Ursachen für Wachstum und subjektive bzw. kulturelle Motive für es auf eine Stufe stellt, bringt mit Fleiß alles durcheinander. Das gleicht der Vorgehensweisen von Christen, die in ihren sündenstolzen Bußpredigten das schelten, was sie unter „Materialismus“ verstehen.

Als Anwalt des vermeintlich kleinsten gemeinsamen Nenners tragen Vertreter des „Postwachstum“-Ansatzes jeder Fraktion an, sie möge sich mit „Postwachstum“ identifizieren. Die Fraktionen selbst werden genau umgekehrt vorgehen. Dass Feministinnen schon den Stellenwert des Pkw aus einer „genderspezifischen Rationalität“ erklären wollen, also Kontributives bzw. sekundär begünstigende Momente als Konstitutives ausgeben, lässt nichts Gutes erwarten. Sie werden sich nicht darauf beschränken, die „wachstumstreibende Männlichkeit“ zu kritisieren, sondern darauf bestehen, dass ihr Spezialanliegen im Zentrum von „Postwachstum“ steht. Der Streit zwischen den Fraktionen ist vorprogrammiert. Dessen Verlaufsform ist die Heuchelei. Jeder Vertreter seines partikularen Anliegens gibt den eigenen Standpunkt als vortrefflichsten Ausdruck oder als wesentlichste Bedingung des Allgemeinen (hier: „Postwachstum“) aus. Nicht anders verfahren die verschiedenen Interessengruppen, wenn sie für ihre gebührliche Berücksichtigung durch den Staat werben.

Im Rahmen des Analogiedenkens, das im von Adler akribisch vorgestellten Postwachstum-Spektrum vorherrscht, lässt sich unschwer eine „Werte-Verwandtschaft“ bestimmter (differenz-)feministischer Auffassungen zu Postwachstum feststellen (Adler 2022, 127). Sie präsentieren Klischees von der friedlichen, fürsorglichen, unexpansiven und naturnahen Weiblichkeit im Gegensatz zur instrumentellen, außenorientierten und gegen Frau und Natur gewaltsamen Männlichkeit. Der Postwachstum- „Wegweiser“ spart die vielfältig vorhandene Kritik am Differenzfeminismus aus. (Zur Auseinandersetzung mit den zugrundeliegenden Auffassungen von Chodorov, Gilligan und Ruddick vgl. Rommelspacher 1992 sowie Segal 1989, 175-194, 220-229, 246-266. Vgl. a. Dieckmann 1995).

Eine andere Feminismusvariante, der „Ökofeminismus“ von Bennholdt-Thomsen, Mies und Werlhof, weist einen noch höheren Ideologiegehalt auf als der „Differenzfeminismus“ (vgl. Creydt 2023). Kritik an der von diesen Autorinnen vertretenen Verherrlichung der Mutter sowie am Subsistenzkitsch liegt seit langem vor (vgl. z. B. Wichterich 1989, Attia 1991, Haubner 2015). Der Postwachstum-„Wegweiser“ (Adler 2022, 127ff.) referiert diesen „Ökofeminismus“ affirmativ.

Adler (2022, 130) teilt die Meinung, es bedürfe erst eines „erweiterten öffentlichen Care-Sektors“, um „fürsorgliche Männlichkeit“ zu schaffen. Diese Auffassung, die Fürsorge darauf reduziert, dass eine Person sich unmittelbar für seinen Mitmensch engagiert, schließt aus, dass Männer fürsorglich sind, wenn sie mit der von ihnen in höherem Ausmaß als von Frauen geleisteten Erwerbsarbeit ihre Familie finanzieren. Der Postwachstum- „Wegweiser“ macht sich die ökofeministische Gleichsetzung der Ausbeutung der Frau mit der Ausbeutung der Natur zu eigen (Adler 2022, 128f.).

Adler referiert ebenfalls unkritisch Meinungen, die die Ausbeutung der weiblichen Care- und Hausarbeit durch den Mann in der Familie als typisch bzw. vorherrschend annehmen. Solche Thesen ignorieren die Ergebnisse von Zeitbudgetuntersuchungen. Sie zeigen: In Deutschland leisten Männer und Frauen in Deutschland eine durchschnittlich gleiche Zahl von (bezahlten plus unbezahlten) Arbeitsstunden. Frauen leisten mehr Care-Arbeit, Männer mehr Erwerbsarbeit. (Vgl. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/Frueher/PD15_179_63931.html). Frauen in Partnerschaften trugen 2013 in Deutschland durchschnittlich ein gutes Drittel zum gemeinsamen Haushaltseinkommen bei (Frankfurter Rundschau 23.6.2017). Vgl. eingehender Creydt 2023a.

Adler hebt lobend hervor, sowohl der Postwachstum-Ansatz als auch „feministische Ökonominnen“ „gehen aus von der Existenz eines nicht-kapitalistischen ‚Außen? dessen Vereinnahmung, Aneignung und Verwertung eine Bedingung fortgesetzter profitabler Kapitalakkumulation ist“ (Ebd.). Bernd Röttger 2011 und Michael Wendl 2013 haben die These von der für die kapitalistische Ökonomie unerlässlichen „Landnahme“ instruktiv kritisiert. Auch diese Auseinandersetzung kommt im Postwachstum-„Wegweiser“ erst gar nicht vor.

Als weitere Konvergenz aus dem Bereich heutiger Diskurse zum Postwachstum führt Adler (2022, 131ff.) die Auffassung von der „imperialen Lebensweise“ an, die den westlichen Reichtum vorrangig aus der Ausplünderung des globalen Südens erklärt. Diese Position erinnert an frühere Bestechungstheoreme („Die Arbeiteraristokratie zehrt von den Profiten der imperialistischen Ausbeutung anderer Länder“) sowie an den Sündenstolz christlicher Dritte-Welt-Gruppen. Mit den seit langem vorliegenden kritischen Argumentationen zu „Imperiale Lebensweise“- Konstrukten setzt Adler sich nicht auseinander. (Zu ihnen vgl. Muggenthaler 2018, Creydt 2021a, Schmidt, Radl 2022). Als neu wird mit dem Label „imperiale Lebensweise“ eine Collage von Ideologemen ausgegeben, die altbekannt sind. Auch hier „führt das Gebot, Neuheiten zu bringen, zu einer ähnlichen Umkehrung, zu einer mechanischen Wiederholung des Alten, wie man dies seit einigen Jahren auf dem […] Ideologiemarkt verfolgen kann, wo jeder Sprung nach rückwärts bei der Exhumierung der Vorfahren sich als die Neuentdeckung der Saison ausgibt“ (Debray 1981, 131).

Früher hieß es: Alle Wege führen nach Rom. Dem Postwachstum-„Wegweiser“ zufolge führen vielleicht nicht alle, aber doch sehr viele heutige „Diskurse“ in Richtung Postwachstum. Adler ist damit zufrieden, allerlei positive Übereinstimmungen mit dem Postwachstum-Paradigma und Entsprechungen zu ihm vorzustellen. Er meint auf diese Weise „Postwachstum“ als integrierendes Zentrum ausweisen zu können.

Welche Qualität kann aber eine Konstruktion aufweisen, deren tragende Bestandteile keiner Prüfung unterliegen? Selbst zentrale Probleme bzw. „Fallen“ der Umweltbewegungen kommen in Adlers Buch nicht vor. (Vgl. dazu Eisel 2009, Thürmer-Rohr 1999, 117ff., Creydt 2021.) Der „Wegweiser“ blendet die Kritik an den von ihm für Postwachstum unterstützend herangezogenen Positionen (Differenzfeminismus, These von der Wesensgleichheit der Ausbeutung der Frau und der Natur, Ökofeminismus, imperiale Lebensweise u. a.) durchgehend aus. Wer frei ist von diesen dogmatischen Scheuklappen, kommt zu einem anderen Schluss. Die angegebenen Positionen werfen wenig Licht, aber viel Schatten auf „Postwachstum“. Es macht – dem Postwachstum-„Wegweiser“ zufolge – den Eindruck, das Sammelbecken von vielen empirisch unzutreffenden Behauptungen und von Ideologien darzustellen.

Eines lässt sich dem Postwachstum-Wegweiser gewiss nicht nachsagen: An Differenziertheit fehlt es ihm nicht, wenn er die Unterschiede innerhalb der Postwachstum-Großfamilie schildert. Die ausführliche Binnendifferenzierung entspricht dem Ausmaß, in dem sich der Autor mit seinem Gegenstand identifiziert und von ihm eingenommen zeigt. Dem Postwachstum-„Wegweiser“ fehlt die reflexive Distanz. Dass jemand – außerhalb der fanatischen Befürworter von Wachstum – nicht das Postwachstum-Denken teilt, das scheint für Adler unbegreiflich. Er bewegt sich in einer unthematisierten Immanenz wie ein Fisch im Wasser, ohne ein Außen zu kennen.

Die oben skizzierte Umfunktionierung der technologisch-wissenschaftlichen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sowie die Möglichkeit einer kapitalistische Ökonomie ohne Klimakatastrophe auch nur ernsthaft und ergebnisoffen zu diskutieren ist unter der Würde einer Weltanschauung, der es um Höheres geht: Wachstum oder Postwachstum – das ist die ebenso prinzipielle wie pauschale Frage dieser Bekenner. Postwachstum gerät ihnen zu einer „catch-all“-Kategorie. Alle sollen sich in ihr wiederfinden können. Die einen treten für Postwachstum mit der Meinung ein, ohne „ökosozialistische“ Überwindung des Kapitalismus sei die Klimakatastrophe unvermeidlich. Die anderen votieren für Postwachstum, weil die „alte“ „Systemfrage“ in Zeiten der Klimakastastrophe „überholt“ sei.

Beim „Postwachstum“-Ansatz wiederholt sich ein zentrales Problem der Klimabewegungen: Einerseits soll der Kampf von allen getragen werden können. Andererseits ist es schwer, sich auf gemeinsame Ziele zu einigen, wenn die Unterstützung für die Klimabewegung aus den verschiedensten politischen Lagern kommt. „Einen Kessel zum Kochen bringen nützt wenig, wenn man keine Idee hat, was man mit dem heißen Wasser anfangen soll. […] Sobald es nicht mehr nur um ein allgemeines Ziel geht, sondern um konkrete Maßnahmen, wird deutlich: Die unterschiedlichen Wege zum Klimaschutz sind kaum miteinander vereinbar“ (Cwiertnia 2019).

Das Postwachstum-Denken beeindruckt manche mit der Parole, es könne nicht mehr so weitergehen wie bisher. „Da ist wirklich etwas dran“ denken viele zu Recht. Der im Postwachstum-Denken existierende Gegensatz wird allerdings gern übersehen. Einerseits heißt es „Es muss sich alles ändern“, andererseits soll sich am Denken nichts ändern.

 

PS: Eine ausführlichere gesellschaftstheoretische Auseinandersetzung findet sich im Artikel „Problematische Denkweisen im Postwachstum-Milieu“. Er erscheint im Frühjahr 2024 in Berlin (Verbrecher Verlag) in einem Sammelband, der den Titel „Klimawandel und Gesellschaftskritik“ trägt.

 
 
 

Literatur:
Die Angabe des Hefts (H.) bezieht sich bei Zeitschriften bzw. Zeitungen auf die Reihenfolge innerhalb eines Jahrgangs, die der Nummer (Nr.) auf die insgesamt erschienenen Ausgaben.

Adler, Frank 2022: Wachstumskritik Postwachstum Degrowth. München
Altvater, Elmar 2006: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Münster
Attia, Iman 1991: Wider die Verherrlichung des Weiblichen. Kritik des Ökofeminismus. In: Psychologie- und Gesellschaftskritik, Jg. 15, Nr. 59/60 https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/26629
Biskamp, Floris 2022: Ist Kapitalismus ohne Wachstum denkbar? In: Der Freitag, H. 50, 15.12. 2022, S. 18
Blume, Jutta 2023: Warum CO2-Verpressung eine Scheinlösung ist. In: Telepolis, 26.1.2023
https://www.telepolis.de/features/Warum-CO2-Verpressung-eine-Scheinloesung-ist-7470678.html?seite=all
Brynjolfsson, Erik; McAfee, Andrew 2014: The Second Machine Age. Wie die nächste digitale Revolution unser aller Leben verändern wird. Kulmbach
Buck, Daniel 2008: Die ökologische Frage: Kann der Kapitalismus die Oberhand behalten? In: Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 73. Frankfurt M.
Creydt, Meinhard 2021: Die blinden Flecken der Klimaschutzbewegung(en). In: Telepolis 21.8. 2021
http://www.meinhard-creydt.de/archives/1254
Creydt, Meinhard 2021a: Stimmt die These „Unser Reichtum stammt aus der Ausbeutung armer Länder“? In: Telepolis, 29.4. 2021 http://www.meinhard-creydt.de/archives/1105
Creydt, Meinhard 2021b: Der Überfluss an problematischen Produkten und Dienstleistungen. In: Junge Welt, 23. 12., S. 12f. http://www.meinhard-creydt.de/archives/1359
Creydt, Meinhard 2023: Der Mann als „Parasit“. Eine Kritik der zentralen Positionen und Argumente des Ökofeminismus. In: Junge Welt, 22.6. 2023, S. 12f. http://www.meinhard-creydt.de/archives/1650
Creydt, Meinhard 2023a: Grenzen und Widersprüche des Gleichstellungsfeminismus. In: Telepolis 8. 3. 2023
http://www.meinhard-creydt.de/archives/1564
Cwiertnia, Laura 2019: Muss Klimaprotest links sein? In: Die Zeit, Nr. 42, 10.10. 2019, S. 24
Debray, Régis 1981: ‚Voltaire verhaftet man nicht!’ Die Intellektuellen und die Macht in Frankreich. Köln-Lövenich
Dieckmann, Dorothea 1995: Unter Müttern. Reinbek bei Hamburg
Eisel, Ulrich 2009: Sokrates und die Praktiker – eine Polemik über die Wirklichkeit der ökologischen Krise. In: Reinhard Piechoki, Karl-Heinz Erdmann (Bearb.): Naturschutzbegründungen im Visier. Konflikte um ökologische und ethische Argumentationsmuster. Veröffentlichungen des Bundesamtes für Naturschutz, BfN-Skripte 254, Bonn-Bad Godesberg
Gordon, Robert J. 2012: Is U.S. Economic Groth Over? Cambridge, M. A.
http: //www.nber.org/papers/w18315.pdf
Haubner, Tine 2015: Rezension zu: Claudia v. Werlhof, Maria Mies, Veronika Bennholdt-Thomsen: Frauen, die letzte Kolonie. Reinbek bei Hamburg 1988. In: Kritisch lesen de 8.1. 2015
https://kritisch-lesen.de/rezension/der-proletarier-ist-tot-es-lebe-die-hausfrau
Krull, Wilhelm 2023: „Der Raum für Kreativität ist geschrumpft“. In: Die Zeit, H. 3, 12. 1.2023, S. 35
Land, Rainer 2011: Kritik der Wachstumskritik. Zur Unterscheidung zwischen wirtschaftlichem Wachstum und wirtschaftlicher Entwicklung.
http://docplayer.org/114522519-Rainer-land-abstrakt-kritik-der-wachstumskritik-zur-unterscheidung-X zwischen-wirtschaftlichem-wachstum-und-wirtschaftlicher-entwicklung.html
Land, Rainer 2017: Der Irrtum der Postwachstumsdebatte, Teil 3. In: Makroskop, 29.4. 2017
Lindner, Fabian 2021: Muss die Wirtschaft schrumpfen, um das Klima zu retten?