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Grenzen und Widersprüche des Gleichstellungsfeminismus
(in: Telepolis, 8.3.2023)

Anhänger des Gleichstellungsfeminismus engagieren sich gegen solche Arbeitseinkommen von Frauen, die niedriger sind als die der Männer, und treten dafür ein, dass mehr Frauen in Führungspositionen gelangen. Gleichstellungsfeministinnen kritisieren zudem eine Sozialisation, die Mädchen eine schwächere Position im späteren Leben verschafft – durch Bravheit, Nachgiebigkeit und Fügsamkeit sowie durch Distanz zu technischen und naturwissenschaftlichen Themen. Feministinnen bekämpfen den männlichen Chauvinismus, der Frauen abwertet, und männliche Gewalt gegen Frauen.

Viele Feministinnen geben den Unterschied zwischen Arbeitseinkommen von Frauen und Männern in Deutschland mit 18 Prozent an. Allerdings ist

„unstrittig, dass ein großer Teil der 18-Prozent-Differenz darauf zurückzuführen ist, dass Frauen eher in schlechter bezahlten Berufen und öfter in Teilzeit arbeiten. Sie unterbrechen häufiger ihre Erwerbsbiografie, um sich um Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu kümmern, und erreichen deshalb auch seltener Führungspositionen. Rechnet man diese Faktoren heraus, verbleibt für das Jahr 2018 eine sogenannte bereinigte Entgeltlücke von 5,3 Prozent, wie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) […] ermittelt hat“ (Specht 2021).

Vertreterinnen des Gleichstellungsfeminismus sehen in diesem Unterschied der Arbeitseinkommen einen Verstoß gegen die Norm der Gleichheit. Mit dem Wertesystem der bürgerlichen Gesellschaft sind ständische Hierarchien, Ungleichbehandlung von Gleichem sowie Diskriminierung unvereinbar. ‚Gleichheit’ als Verfassungsnorm lässt sich gegen willkürliche oder sachfremde Hierarchien geltend machen, nicht aber gegen die gesellschaftlich als sachlich notwendig geltenden Hierarchien. Der Gleichheitsgrundsatz „ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, aus der Natur der Sache ergebender oder sonst wie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung nicht finden lässt“ (Hesselberger 1988, 77).

Die Zuordnung von Personen zu unterschiedlichen Positionen in den sozialen Hierarchien soll sich nach den Qualifikationen der jeweiligen Kandidaten richten. Mit der Gerechtigkeitsnorm sind weder diese Hierarchien selbst infrage gestellt noch eine gleiche Höhe aller Arbeitseinkommen vorgesehen.

Frauen und Männer werden gleichen Maßstäben unterworfen
Anhänger des Gleichstellungsfeminismus interpretieren den durchschnittlichen Unterschied zwischen den Arbeitseinkommen von Männern und Frauen als Ergebnis eines Verstoßes gegen die Verfassungsnorm der Gleichheit. Diese Erklärung sieht von den Maßstäben ab, die in der kapitalistischen Ökonomie an Männer und Frauen angelegt werden.

Frauen stellen solange ein „unternehmerisches Risiko“ dar, wie sie gebärfähig sind. Bei Schwangerschaft ist eine neue Arbeitskraft zu suchen und einzuarbeiten. Kleine Kinder sind für Krankheiten anfällig. Arbeitskollegen haben dann Mehrarbeit zu leisten. „Eben mal“ Überstunden oder eine plötzlich anberaumte Zusatzarbeit sind für Mütter häufig nicht möglich. Bei ihnen können leicht Störungen des effizient geregelten Arbeitstages anfallen, wenn der Kindergarten plötzlich anruft, weil das Kind fiebert, oder wenn die Tagesmutter überraschend absagt. Mütter kleiner Kinder unterliegen Einschränkungen in der Verfügung über ihre Arbeitskraft. Auch Frauen, die sich aktuell keine Kinder wünschen, könnten es sich ja noch anders überlegen.

Die Einstellungskriterien beziehen sich auf Maßstäbe, die nicht daraus resultieren, dass die Unternehmer Männer sind. Auch Unternehmerinnen müssen so handeln, um ihr Kapital zu erhalten, und das heißt, es zu vermehren.

Eine wenigstens ökonomisch rationale Arbeitsteilung
Wenn jemand unter den gegebenen Bedingungen bei der Versorgung des Nachwuchses die Arbeit aufgibt, dann eher die Person, die weniger an Einkommen nach Hause bringt. Frauen haben durch Unterbrechung ihrer Erwerbsbiographie infolge von Schwangerschaft durchschnittlich geringere Chancen zum Aufstieg in Betrieben bzw. Organisationen.

Ein Kreislauf bildet sich heraus, in dem die Nachteile, die Frauen mit Kindern in der Erwerbsarbeit haben, diese Frauen in die innerfamiliäre Arbeit drängen. Das wirkt sich wiederum nachteilig auf ihre Stellung im Erwerbsleben aus.

„Solange das Erwerbsleben zugeschnitten ist auf den Vollzeiterwerbstätigen, der weitestgehend frei von Familienverpflichtungen dem Betrieb mit ganzer Arbeitskraft zur Verfügung steht, werden Personen, die dies nicht können oder nicht wollen oder von denen nur erwartet wird, dass dies irgendwann der Fall sein könnte, Nachteile im Beruf in Kauf nehmen müssen“ (Krombholz 1991, 226).

Die Notwendigkeit, für die Betreuung der Kinder zuhause zu bleiben, steigt in dem Maße, wie es an Personal und Plätzen in Kinderkrippen und Kitas fehlt.

Um ein Resultat von Frauenfeindlichkeit oder „Männerherrschaft“ handelt es sich dabei nicht. Wir haben es vielmehr mit indirekten Konsequenzen zu tun, die aus den herrschenden Maßstäben des Geschäfts- und Erwerbslebens resultieren.

Die kapitalistische Hierarchie zwischen Mehrwertproduktion und reproduktiven Tätigkeiten
Wie kommt es zu den im Vergleich zur „Wirtschaft“ niedrigeren Arbeitseinkommen im Bereich der Kitas, Kranken- und Altenpflege?
In der kapitalistischen Ökonomie geht es primär darum, Mehrwert zu schaffen. Erziehung, Kranken- und Altenpflege stellen eine notwendige Bedingung der Mehrwertproduktion dar, aber meistens – Privatschulen und -krankenhäuser ausgenommen – keine Tätigkeiten, die selbst Mehrwert schaffen. Vielmehr werden sie durch Steuern oder durch Versicherungsbeiträge finanziert.
Erziehung, Kranken- und Altenpflege sind teurer als andere Bereiche, insofern in ihnen die Produktivität der Tätigkeit geringer ist als in der Industrie. Diese vermag Arbeitskosten leichter durch Maschinisierung zu senken.

Zur kapitalistischen Marktwirtschaft gehört die Notwendigkeit, an diesen Bereichen so weit zu sparen wie eben möglich und sie nur so weit auszustatten wie eben nötig. Aus der Tatsache, dass im Bereich von Erziehung, Kranken- und Altenpflege sehr viel mehr Frauen als Männer beschäftigt sind, ist es üblich geworden, von „Frauenberufen“ zu sprechen. Die im Vergleich zu mehrwerttauglichen Betrieben im Durchschnitt geringere Bezahlung hat seine Ursache nicht in der Geringschätzung des Geschlechts der dort hauptsächlich tätigen Personen.
Das gegenwärtige Verhältnis zwischen Erziehungswesen, Kranken- bzw. Altenpflege und Industrie ist kein Verhältnis zwischen Frauen und Männern, sondern zwischen Tätigkeiten, die im Kapitalismus unterschiedlich zählen: Die einen schaffen Mehrwert, die anderen nicht.
Wer für höhere Arbeitseinkommen von Erziehern, Kranken- und Altenpflegekräften in öffentlichen Einrichtungen eintritt, hat nicht „das Patriarchat“ gegen sich. Ebenso wenig gibt es deshalb im Friseurhandwerk schlechte Löhne, weil es sich meist um Frauen handelt, die diesen Beruf ausüben.

Vertreterinnen und Vertreter des Gleichstellungsfeminismus wenden sich gegen stereotype Bilder von Weiblichkeit und Männlichkeit. An den Schulen wird einiges dafür unternommen, dass auch Mädchen sich für MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) interessieren. Männliche Grundschullehrer und Erzieher sind gegenwärtig händeringend gesucht, damit die Kinder es in Kita und Grundschule nicht ausschließlich mit Frauen zu tun haben.

Der Gleichstellungsfeminismus lehnt zu Recht ungleiche Arbeitseinkommen bei gleicher Leistung sowie wie eine Kinder ungleich behandelnde Sozialisation ab. Entsprechendes gilt für Vorstellungen über „die“ weibliche oder männliche „Natur“. Solche Unterschiede in der Sozialisation werden als ein Grund dafür angeführt, warum Mädchen und Jungen bislang unterschiedliche berufliche Präferenzen haben. Männer bilden eine winzige Minderheit unter Sprechstundenhilfen und eine kleine Minderheit unter Erziehern und Krankenpflegepersonal. Frauen sind unter Mechanikern, Elektrikern und Ingenieuren selten.

Männer – das faule Geschlecht?
Von den legitimen Anliegen des Gleichstellungsfeminismus unterscheidet sich das in seinen Reihen beliebte Urteil, Frauen müssten im Durchschnitt mehr arbeiten als Männer.
Der Titel eines feministischen Buches (von Claudia Pinl) lautet: „Das faule Geschlecht. Wie Männer es schaffen, Frauen für sich arbeiten zu lassen.“ (Frankfurt M. 2000). Zeitbudgetuntersuchungen bestätigen diese Vorstellung nicht. Einer Untersuchung des Statistischen Bundesamts von 1994 zufolge herrscht zwischen den Geschlechtern eine ausgewogene Bilanz: Frauen leisteten 15,1 Stunden bezahlte Arbeit in einer Woche, Männer 30,7 Stunden. Frauen leisteten 35 Stunden unbezahlte Arbeit, Männer 19,5. Insgesamt kamen Frauen auf 50,1 und Männer auf 50,2 Stunden (Ernst, Herbst 1997, 207).

Das Ergebnis der Zeitverwendungserhebung 2012/13 für Personen im Erwerbsalter zeigt:

„Erwerbstätige Männer verbringen im Durchschnitt täglich 5:32 Stunden mit bezahlter Arbeit, etwa 1,2-mal so viel Zeit wie erwerbstätige Frauen (4:15 Stunden). Erwerbstätige Frauen verwenden auf unbezahlte Arbeit im Schnitt 3:29 Stunden und damit etwa 1,6-mal so viel Zeit wie erwerbstätige Männer (2:08 Stunden).“ Insgesamt „fällt die Gesamtarbeitszeit von erwerbstätigen Frauen und Männern ähnlich hoch aus – die Frauen arbeiten im Schnitt täglich 7:44 Stunden, die Männer 7:40 Stunden“
(https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-unbezahlte-arbeit-frauen-leisten-mehr-3675.html).

Die Ergebnisse der Zeitverwendungserhebung 2022/23 liegen noch nicht vor.

Es sind weniger Frauen als Männer erwerbstätig und Frauen arbeiten viel öfter als Männer in Teilzeit.

2016 waren 69,8% der Frauen und 77,8% der Männer erwerbstätig. 9,3% der Männer und 46,7% der Frauen arbeiten in Teilzeit (Eurostat 2019). Althaber (2018) zufolge „arbeitet fast jede zweite erwerbstätige Frau in sozialversicherungspflichtiger Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung (46%), ein Großteil davon sind Mütter. Bei Männern sind es lediglich 9%. […] Diese ausgeprägten Unterschiede in der Teilzeitbeschäftigung von Frauen und Männern haben sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. […] Das ist insofern erstaunlich, als in derselben Zeit andere Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern abgebaut wurden: Frauen und Männer haben heute vergleichbare Qualifikationen und damit ähnliche Startbedingungen für den Arbeitsmarkt“.

Feministinnen heben häufig hervor, dass Männer in Familien weniger Hausarbeit und Care-Tätigkeiten übernehmen, übergehen aber gern das von Männern geleistete höhere Ausmaß an Erwerbsarbeit.

Viele „Frauenforscherinnen zählen Tätigkeiten wie Steuererklärung, Autowartung oder Kleinreparaturen“ nicht zur Hausarbeit. Solche Tätigkeiten werden häufiger von den Männern übernommen als von den Frauen.

„Diese Aktivitäten sind aber keineswegs männliche Selbstverwirklichung im Hobbykeller. Es handelt sich vielmehr um Service- und Instandhaltungstätigkeiten, damit die Lampe im Bad wieder funktioniert oder das Fahrrad einwandfrei läuft, mit dem die Kinder aus der Tagesstätte abgeholt oder Einkäufe gemacht werden. Selbstverständlich ist das also auch Familienarbeit“ (Gesterkamp 2012, 5).

Leisten Frauen unbezahlte Arbeit?
Kai Paulsen fragt, ob Gleichstellungsfeministinnen „den Fehler machen, eine von der Frau geleistete Speisezubereitung komplett als unbezahlte Care-Tätigkeit zu buchen? (Gleiches gilt ja auch für die übrige Hausarbeit.) Immerhin fällt ja auch für die Frau etwas dabei ab. Sie wäre ja nur dann komplett als Haushaltshilfe tätig, wenn sie die Wohnung nicht bewohnt und auch nicht mitisst.“

Männer in Partnerschaften teilen ihr Einkommen mit dem der Frauen. Wer in einer Partnerschaft oder Ehe ein höheres Arbeitseinkommen nach Hause bringt, ermöglicht der jeweils anderen Person insofern einen höheren Lebensstandard. Frauen in Partnerschaften trugen 2013 in Deutschland durchschnittlich ein gutes Drittel zum gemeinsamen Haushaltseinkommen bei (Frankfurter Rundschau 23.6. 2017).

Dass im Durchschnitt immer noch Frauen mehr Haus- und Erziehungsarbeit in einer Paarbeziehung oder einer Familie leisten als Männer, heißt dann nicht, dass sie unbezahlte Arbeit leisten, wenn der Mann mehr Erwerbsarbeit leistet und mit seinem Arbeitseinkommen die weniger oder gar nicht verdienende Frau finanziell mitversorgt. Gewiss bezahlt der Mann nicht zu Hause bei seiner Frau für das von ihr gekochte Essen. Aber die Hausfrau verschuldet sich auch nicht finanziell beim erwerbstätigen Mann. Aus der Tatsache, dass sie durchschnittlich zwei Drittel des gemeinsamen Haushaltseinkommens einbringen, leiten selbst Männer nicht das Recht in der Partnerschaft ab, zwei Drittel der Ausgaben für sich beanspruchen zu dürfen.

Doppelte Maßstäbe
Bislang ging es um die Frage: Wo nehmen Anhängerinnen des Gleichberechtigungsfeminismus zu Recht faktisch bestehende Benachteiligungen von Frauen wahr und wo nicht? Wir diskutierten nun die Vorstellung, das gegenwärtige Geschlechterverhältnis hätte ausschließlich für Frauen Nachteile.

Die gegenwärtig durchschnittlich 4,8 Jahre kürzere Lebenszeit von Männern in Deutschland (Gesterkamp 2023) bildet keine Kleinigkeit, wenn die Frage aufkommt nach den unterschiedlichen Lasten, die Frauen und Männer zu tragen haben. Die meisten Feministinnen klammern das aus.
Viele von ihnen fordern Quoten für Frauen z. B. im öffentlichen Dienst. Frauenquoten für Bereiche wie den Straßenbau, die Bauwirtschaft oder Berufskraftfahrer (Frauenanteil 2020 2%) verlangen sie nicht.
Die höheren gesundheitlichen Risiken, denen Männer unterliegen, sind zum großen Teil nicht selbstgemacht, sondern hängen mit längeren Arbeitszeiten in der Erwerbsarbeit, gefährlicheren Arbeitsaufgaben und höherem Arbeitsstress zusammen (vgl. Brandes 2002, S. 227f.).

Regelmäßig entfallen über 90% der tödlichen Arbeitsunfälle in Deutschland auf Männer.

„In den USA hat sich der weibliche Vorsprung (an Lebenserwartung – Verf.) seit dem Jahr 1900 vervierfacht: von damals zwei auf heute rund acht Jahre. In Deutschland ist er nicht ganz so stark gewachsen, aber immer noch von knapp drei Jahren zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 auf gegenwärtig annähernd sieben. Die Kluft ist also großenteils das Werk des 20. Jahrhunderts und hat insofern eher gesellschaftliche als natürliche Ursachen“ (Traub 1997, 23).

Gern skandalisieren Gleichstellungsfeministinnen das Verhalten solche Männer, die, obwohl sie nicht mehr Erwerbsarbeit leisten als ihre Frauen oder gar keine, im Haushalt keine Aktivität zeigen. Derartige Beispiele sollen als evidenter Beleg für eine pauschale Aussage über Männer dienen. Dabei soll es durchaus vorkommen, dass Frauen ihre Männer ausnutzen. Feministinnen halten sich hier zurück, eine Verallgemeinerung vorzunehmen.
Feministinnen nahmen keinen Anstoß an der 2011 ausgesetzten (nicht: abgeschafften) Wehrpflicht für Männer und sahen in ihr keine geschlechtsspezifische Diskriminierung. Der Bremer Juraprof. Felix Eckardt (2007, 138-141) hält die Wehrpflicht für nicht vereinbar mit dem Gleichberechtigungsgebot.
Der Anteil der Frauen an Hauptschulabschlüssen im Jahr 2016 betrug 40%. Der Anteil der jungen Frauen unter den Abiturienten lag 2021 bei 54,1 Prozent. 62 Prozent der Abiturienten, die 2017 einen Schnitt von 1,8 oder besser erzielten, waren Frauen (Müller 2021).
Feministinnen werten die gegenwärtig im Durchschnitt schlechteren Schulabschlüsse von Jungen nicht als Benachteiligung eines Geschlechts. Gleiches gilt für die Tatsache, dass Jungen bei gleichen schulischen Leistungen schlechtere Noten erhalten als Mädchen. (Vgl. dazu den dritten Band der „Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung“ (Iglu) von 2005 zum Leseverständnis von Viertklässlern. Vgl. a. die Ergebnisse einer Studie von Prof. Heike Diefenbach (2007, 104).)

Diejenigen selbstschädigenden Verhaltensstile und Mentalitäten, die eher bei Frauen zu beobachten sind, interpretieren Feministinnen als negative Folge der geschlechtsspezifischen Sozialisation. Kommt die Rede allerdings auf die Tatsache, dass Männer sich bislang weniger um ihre Gesundheit kümmern, häufiger Suizid verüben sowie den übergroßen Anteil der Obdachlosen und Gefängnisinsassen stellen, entsteht (auch) bei Feministinnen auffällig schnell die Assoziation „selbst schuld“.
Viele Feministinnen erachten die für Frauen nachteilige Sozialisation als ein Symptom einer Gesellschaft, die von der Herrschaft der Männer bestimmt sei. Die Sozialisation von Männern zur Härte gegen sich selbst sehen Feministinnen nicht als etwas an, das ihre Diagnose infrage stellt, die Männer seien das privilegierte Geschlecht.

Der Stellenwert, den die Teilnahme am Erwerbsleben hat
Unternehmen sind daran interessiert, alle Begabungen auszunutzen. Aus ihrer Perspektive erscheint die Zurückhaltung von Müttern mit jüngeren Kindern gegenüber der Erwerbstätigkeit als eine skandalöse Vergeudung von „Humankapital“. Gleichstellungsfeministinnen sehen das häufig ähnlich. Zu den Mühen, den entnervenden Wiederholungen und der Enge, die das Dasein als Mutter kleiner Kinder und als Hausfrau mit sich bringt, gibt es viele eindrucksvolle Erfahrungsberichte (vgl. z. B. Drust 2011, Maier 2008).

Dennoch sieht ein nicht unerheblicher Teil der Frauen in der Haus- und Erziehungsarbeit größere Freiheitsspielräume und eine höhere Befriedigung, als dies gegenwärtig in vielen Erwerbsarbeiten zu erwarten ist.

„Das Umfeld kann gestaltet werden, äußerlich, akustisch. Pausen können individuell genommen und gestaltet werden. Solche Privilegien sind in Betriebshierarchien erst auf einer hohen Ebene möglich. Und ein Teil der zu leistenden Arbeit kann auch noch lustbetont sein: ‚die verspielten, verschmusten, verplemperten Nachmittage zusammen mit dem Kind’ (Dilloo 1992)“ (Stach 1993, 268).

Viele Frauen machen eine Gegenrechnung auf gegenüber all dem, was in der Marktwirtschaft als Erfolg und als prestigeträchtige Führungsposition gilt. Sie nehmen die „Kosten“ der Selbstinstrumentalisierung und einer monokulturellen Erwerbstätigkeit wahr.
Gleichstellungsfeministinnen fokussieren sich demgegenüber nur auf die Verluste von Frauen, die sie als Mutter und Hausfrau im Vergleich zur Teilnahme an der Erwerbstätigkeit erleiden. Gleichstellungsfeministinnen fällt es enorm schwer, auch nur zu verstehen, warum viele Frauen im Rennen um die obereren Posten in der Hierarchie keine ganz persönliche „Herausforderung“ sehen.

Der Vergleich des Unvergleichbaren
Der Gleichstellungsfeminismus konzentriert sich auf Quantitäten (Einkommen, zeitlicher Aufwand), die sich bei Männern und Frauen vergleichen lassen. Der Vergleich stößt auf Grenzen:

„Die Trennung Arbeit/Hobby/Freizeit lässt sich bei der Hausarbeit nicht per definitionem lösen. So ist Kochen mit Sicherheit Hausarbeit, Wäsche waschen auch; aber wie ist das mit einem Pullover für den Mann stricken, einen schönen Blumenstrauß hinstellen, mit den Kindern spielen? – die Grenzen sind flüssig“ (Keil 1978, 97f.).

Der Alltag der Erwerbsarbeit und der Alltag der Tätigkeiten für die Kinder und im Haushalt ist sehr verschieden.

„Beziehungsbilanzen sind viel komplizierter zu erstellen als empirische Untersuchungen über die mangelnde Beteiligung der Männer an der Hausarbeit. Dass er der Familie zuliebe vor fünf Jahren auf eine wichtige berufliche Chance verzichtet hat, lässt sich kaum problemlos damit verrechnen, dass sie die Wäsche alleine versorgt. […] Kann man eine Stunde im Stau mit einer Gute-Nacht-Geschichte vergleichen?“ (Gesterkamp, Schnack 1998, 102).

Das gegenseitige Aufrechnen von qualitativ Unvergleichbarem trägt häufig dazu bei „dass sich hinterher beide gleichermaßen erschöpft und unverstanden fühlen“ (Ebd.).

Schluss
Insoweit Frauen in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft schlecht gestellt sind, muss dies nicht zwingend aus Frauendiskriminierung oder einer „Herrschaft der Männer“ resultieren. Gleichstellungsfeministinnen tun aber gern so als ob. Das soll den eigenen Forderungen zusätzliches moralisches Gewicht verleihen. Faktisch handelt es sich um einen Konflikt unter Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft. Ähnlich wie Junge und Alte (in der Auseinandersetzung um Rentenbeiträge, Rentenhöhe und „Lebensleistung“) wenden sich Anhängerinnen des Gleichstellungsfeminismus gegen ein wirkliches oder vermeintliches Missverhältnis zwischen Geben und Nehmen. Das ist in Tauschverhältnissen auch sonst häufig umstritten.
Interessengruppen erfinden auch schon mal Benachteiligungen, um damit ihrer Agitation für höhere Zuteilungen mehr Eindruck zu verschaffen. Zu diesen Legenden gehört die Auffassung, die Frauen seien auch bei der Covid-Pandemie … das Hauptopfer. (Einige dem entgegengesetzte Informationen finden sich bei N.N. 2022.)

Faktisch verfolgen die Bewegungen für die Gleichstellung der Frau ebenso wie die Gewerkschaften Ziele, die innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und Marktwirtschaft verbleiben. Gegen ihre Anliegen spricht das nicht. Nur sollte niemand diese mit der Orientierung an einer grundlegenden Gesellschaftsveränderung oder -transformation verwechseln. Selbst im sonst eher unpoetischen Hamburger Grundsatzprogramm der SPD heißt es: „Wer die menschliche Gesellschaft will, muss die männliche überwinden.“ Weder sind die Grundstrukturen der gegenwärtigen Gesellschaft und Ökonomie männlich noch ist eine „menschliche Gesellschaft“ nicht-männlich.

Problematisch wird der Gleichstellungsfeminismus insofern, als er sich das Geschlechterverhältnis allein so wünscht, dass es Frauen keine Nachteile bereitet. Es handelt sich um eine egozentrische Urteilsform. Sie nimmt Gleichstellung ausschließlich aus der Perspektive einer Seite wahr und blendet die umgekehrte Perspektive aus. (Es ist so, als ob Inge sagt: „Max ist mein Bruder“, aber nicht „Ich, Inge, bin die Schwester von Max.“) An den Nachteilen des vorfindlichen Geschlechterverhältnis für die Männer und an seinen Vorteilen für die Frauen nimmt der Gleichstellungsfeminismus keinen Anstoß. Um „Gleichstellung“ geht es ihm insofern nur recht relativ.

Literatur:
Althaber, Agnieszka 2018: Die Suche nach Gemeinsamkeiten. Strukturelle Gründe für die Teilzeitarbeit von Frauen und Männern. In: Wissenschaftszentrum Berlin: WZB-Mitteilungen, Nr. 161
Brandes, Holger 2002: Der männliche Habitus. Band 2: Männerforschung und Männerpolitik. Opladen
Ekardt, Felix 2007: Wird die Demokratie ungerecht? München
Diefenbach, Heike 2007: Die schulische Bildung von Jungen und jungen Männern in Deutschland. In: Walter
Drust, Rike 2011: Muttergefühle. Gesamtausgabe. München
Hollstein, Michael Matzner (Hg.): Soziale Arbeit mit Jungen und Männern. München
Ernst, Andrea; Herbst, Vera (Hg.) 1997: Kursbuch Frauen. Köln
Gesterkamp, Thomas 2012: Für Männer, aber nicht gegen Frauen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 62. Jg., H. 40
Gesterkamp, Thomas 2023: Männergesundheit: Jungs weinen nicht. In: Taz, 1.1. 2023 https://taz.de/Maennergesundheit/!5901721/
Gesterkamp, Thomas; Schnack, Dieter 1998: Hauptsache Arbeit - Männer zwischen Beruf und Familie. Reinbek bei Hamburg
Hesselberger, Dieter 1988: Das Grundgesetz. Neuwied
Keil, Gertraude 1978: Zur geschlechtsspezifischen Verteilung von Produktions- und Zirkulationsarbeit. In: Mehrwert, Nr. 15/16. Berlin
Krombholz, Heinz 1991: Arbeit und Familie. In: Hans Bertram (Hg.): Die Familie in Westdeutschland. Opladen
Maier, Corinne 2008: No kid. 40 Gründe, keine Kinder zu haben. Reinbek bei Hamburg
MEW: Karl Marx, Friedrich Engels Werke. Berlin (DDR) 1956 ff.
Müller, Christoph 2021: Geschlechterunterschiede im Abitur und ihre Auswirkung auf die Zulassungschancen in den medizinischen Studienfächern. In: Das Hochschulwesen. Forum für Hochschulforschung, -praxis und -politik. Jg.69, H.5+6
N. N. 2022: Frauenpolitische Corona-Behauptungen – der Faktencheck. 18.5.2022 https://manndat.de/geschlechterpolitik/frauenpolitische-corona-behauptungen-der-faktencheck.html
Specht, Frank 2021: Gender pay gap. In: Handelsblatt, 9.3.2021 https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/gender-pay-gap-18-prozent-weniger-gehalt-die-gruende-fuer-die-finanzielle-luecke-zwischen-frau-und-mann/26982930.html
Stach, Meinhard 1993: Frauenunterdrückung als Tat beider Geschlechter. In: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur, Jg. 4, H. 2
Traub, Rainer 1997: Adams Fall. In: Spiegel-Special Nr. 7: Der deutsche Mann