Mai
02

(in: Telepolis, 30.4. 2023).

Sahra Wagenknecht spricht sich aus für „eine solide und soziale Politik in Deutschland und Europa, die seriöse und risikolose Geldanlagen mit einer angemessenen Rendite für alle wieder möglich macht. […] In Merkels Niedriglohnparadies Deutschland hat sogar jeder zweite Bürger kein Vermögen mehr und kann nichts ansparen, geschweige denn in Aktien investieren“ (Berliner Zeitung 4.8.2018).

Was soll „angemessene Rendite“ heißen? Bei Geldanlagen gilt bekanntlich: Je größer das Risiko, desto höher die Chancen auf hohe Rendite. Wagenknecht bemängelt, dass viele „Bürger“ nicht die Chance erhalten, „in Aktien investieren“ zu können. Dass Lohnabhängige mit Aktien sich in einen Gegensatz verstricken, kümmert Wagenknecht nicht. Der Wunsch nach „angemessenen Renditen“ aus Aktien bedeutet für die in den betreffenden Betrieben Beschäftigten häufig Arbeitshetze und Lohndruck. Wagenknecht befördert zudem die Vorstellung, mit Aktien „risikolos“ „Vermögen ansparen“ zu können. Mit „risikolosen Geldanlagen“ lässt sich das kaum bewerkstelligen.

Die gute alte Zeit
Wagenknecht trauert einer Zeit nach, in der ihrer Meinung nach – vor dem sog. Neoliberalismus und dem vermeintlichen Finanzkapitalismus – Kapital und Lohnarbeit in einer Win-win-Situation gestanden hätten: Das Kapital fuhr satte Profite ein und die Löhne stiegen. Die Epoche, in der es „tatsächlich für nahezu alle, und insbesondere für die Arbeiterschaft, aufwärtsging“, „endete in den achtziger Jahren“ (Wagenknecht 2021, 65). Die „beste Zeit“ des Kapitalismus waren die „fünfziger bis siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts“ (Ebd., 282).

Die ersten 25 Jahren in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg stellten nicht nur wegen dem Wiederaufbau eine Ausnahmesituation dar. Der Welthandel war in den 1930er Jahren massiv zurückgegangen und im 2. Weltkrieg zusammengebrochen.
Die „fordistische“ Zergliederung des Produktionsprozesses (Taylorismus) kam erst in der Bundesrepublik auf volle Touren. Ebenso die Durchkapitalisierung der Landwirtschaft sowie die Verdrängung des kleinen Handels. Die Potenziale dieses langen Nachkriegsbooms waren in den 1970er Jahren erschöpft. Nun zeigte sich wieder: Periodische Krisen sind der Normalfall im Kapitalismus.

Linke Vulgärökonomie
Wagenknecht ist der Meinung, dass der Kapitalismus am besten funktioniert, wenn es sowohl viel Konkurrenz gibt als auch eine große Nachfrage auf dem Binnenmarkt.

„Der Kapitalismus funktioniert also am besten in wettbewerbsintensiven Industrien, in denen Gesetze und starke Gewerkschaften für steigende Löhne und hohe Sozial- und Umweltstandards sorgen“. (Wagenknecht 2021, 274)

Ob die erforderlichen Maßnahmen dafür, die Klimakatastrophe abzuwenden, und das Ziel einer hohe Gewinne und Löhne abwerfenden Ökonomie zusammenpassen – diese Frage blendet Wagenknecht aus.

Die bekannteste Person der Linkspartei teilt die Vorstellung, dass Gewerkschaften und das Kapital dann nicht im Gegensatz zueinander stehen, wenn die Unternehmen begreifen würden, dass hohe Löhne ihnen den Absatz sichern (zur Kritik vgl. NN 1978). Dass für die Realisierung des Mehrwerts die Produkte verkauft werden müssen, stimmt zwar. Dabei handelt es sich aber um eine notwendige, nicht um eine hinreichende Bedingung. Wenn in der Produktion – gemessen an den Konkurrenten – nicht genügend Mehrwert geschaffen wird, hat das jeweilige Unternehmen keinen Geschäftserfolg.

Wagenknecht tritt nicht ein für eine Überwindung der kapitalistischen Marktwirtschaft bzw. der Kapitalakkumulation, sondern gegen „Kurzsichtigkeit, Maßlosigkeit, Vorliebe für Bluff, Tricks und Bilanzkosmetik sowie eine rücksichtslose Orientierung allein an den Interessen der Aktionäre und des Managements“.
Sie redet sich in Rage über eine „innovationsfaule Ökonomie, in der Marktmacht und sogar Monopole an die Stelle offener Märkte getreten sind und echter, fairer Wettbewerb eine immer geringere Rolle spielt“ (Wagenknecht 2021, 283).

Sie kritisiert, dass der Kapitalismus nicht (mehr) so erfolgreich sei, wie er verspricht. Dabei ignoriert Wagenknecht diejenigen Kosten, die just durch eben den von ihr befürworteten Erfolg des Kapitalismus entstehen.
Welche gesundheitlichen Negativfolgen die Überforderung und Überstressung in der kapitalistischen Erwerbsarbeit hat (vgl. Cechura 2018), welche massive Schädigung der Gesundheit durch Fremdstoffe die Kehrseite des Erfolgs der Chemieindustrie bildet (vgl. Donner 2021), welche ökologischen Folgen die kapitalistische Marktwirtschaft hervorbringt – das interessiert Wagenknecht kaum. Für sie ist alles gut, wenn es nur hohe Löhne und eine dynamische Wirtschaft gibt.

Das Gespenst des Monopolkapitalismus
Wagenknecht bemängelt am gegenwärtigen Kapitalismus den Mangel an „offenen Märkten“ und an „echtem fairen Wettbewerb“. Erst dieses Defizit mache den Kapitalismus kritikwürdig. Die Attacke auf den Monopolkapitalismus verkennt jedoch die begrenzte Macht von Monopolen im modernen Kapitalismus.
Sie „wird in der Konkurrenz immer wieder abgebaut, wobei durchaus die Möglichkeit besteht, dass aufgrund besonderer Bedingungen das Schwinden von monopolistischen Profiten sich über längere Zeiträume verzögert, dass die Wirkungsweise des Wertgesetzes sich also nur modifiziert durchsetzt“ (Altvater 1975, 188).

„Das Wertgesetz begrenzt also monopolistische Machtentfaltung, die Monopolmacht kann niemals an die Stelle des Wertgesetzes treten. Aber sie modifiziert seine Durchsetzung. Sie wirkt dahin, dass sich die Bewegungsgesetze der Produktionsweise eben nur als Tendenzen durchsetzen“ (Ebd., 190).

Die Abschottung des Monopolisten gegen den Zustrom anderen Kapitals in seine Produktionssphäre ist auf Dauer nicht aufrechtzuerhalten.

„Selbst in der Ölwirtschaft – wo heute (2013) gewaltige Summen für den Neueinstieg erforderlich sind – gibt es kein umfassendes und weltweit wirkendes Kartell. Es kommen immer wieder neue Ölförderer hinzu, und es gibt bei der Exploitation neuer Ölfelder, bei der Nutzung neuer Ölfördertechniken usw. einen erbitterten Konkurrenzkampf“ (Sandleben, Schäfer 2013, 55).

Kartelle – als Vorformen von Monopolen – werden häufig von innen aufgesprengt. Die im Kartell zusammengeschlossenen Kapitale konkurrieren untereinander um Anteile an der Produktionsmenge und an Erlösen.

„Es genügt, dass technische Verbesserungen, Erfindungen oder eine Ausweitung der Kapazität Veränderungen im Kräfteverhältnis dieser Firmen hervorrufen, damit diejenige, die sich in der Konkurrenz am stärksten fühlt, das Abkommen in der Absicht bricht, einen höheren Marktanteil zu erobern“ (Mandel 1972, 546).

Anhänger der Lehre vom „Monopolkapitalismus“ können nicht beantworten, warum die Profitraten der Monopole nicht steigen, obwohl es sich bei ihnen doch angeblich um die Mächtigsten der Mächtigen handele.

„Empirische Untersuchungen (konnten – Verf.) für Deutschland nachweisen, dass die Legende einer Hierarchie der Profitraten – also strukturell höhere Profitraten der zu Monopolen titulierten Großunternehmen – vor der ökonomischen Wirklichkeit keinen Bestand hatte (Saß 1978). Stephan Krüger vermerkt in seinen eigenen empirischen Untersuchungen auf Basis des amtlichen statistischen Materials, dass diese Untersuchungen ‚eher das gerade Gegenteil’ der Monopoltheorie oder der Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus zeigen, ‚nämlich eine gemein niedrigere Profitrate großer Kapitalgesellschaften’ (Krüger 2010, 138)“ (Wendl 2013, 67).

Monopole stehen nicht über den Gesetzen der kapitalistischen Wirtschaft. Wagenknecht baut sie zum Hauptgegner auf. Im Kontrast zu diesem Schreckgespenst bekommt die Konkurrenz in der kapitalistischen Marktwirtschaft ein positives Image.

Wagenknecht tritt gegen „einen zu großen Finanzsektor“ im Kapitalismus ein, denn „dass ein zu großer Finanzsektor dem realwirtschaftlichen Wachstum schadet, ist seit Längerem bekannt“ (S. 278). Das sog. produktive Kapital und das Finanzkapital streiten seit eh und je um die Höhe z. B. der Kreditzinsen.
Wie viele andere auch stellt sich Wagenknecht auf die Seite des „guten“ Kapitals, das seinen Profit mit der Produktion erzielt. Dafür kann es diskussionswürdige Argumente geben. Dieses Engagement überschreitet jedoch nicht den Rahmen der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Branchen der Kapitalwirtschaft. Die Transformation hin zu einer anderen Gesellschaftsordnung ist etwas anderes.

Wagenknecht vertritt eine Kritik am gegenwärtigen Kapitalismus, die zwei Besonderheiten aufweist. Die Probleme, die die kapitalistische Wirtschaft den Leuten bereitet und sich selbst, resultieren Wagenknecht zufolge daher, dass der Kapitalismus nicht mehr so recht Kapitalismus sei, sondern von Monopolen und dem Finanzsektor beherrscht werde.
Unsere Erfolgsautorin wiederholt eine sattsam bekannte Erzählung. Ihr zufolge handelt es sich bei den reichen und mächtigen 0,1% um autokratische Herrscher. Sie steuern die Wirtschaft, lenken die Politiker und manipulieren über die Medien die Bevölkerung. (Zur Analyse und Kritik dieser social fiction vgl. Creydt 2019.) Die andere Eigentümlichkeit von Wagenknechts Auffassung liegt im Lob desjenigen Kapitalismus, in dem ihrer Meinung nach noch fairer Wettbewerb eine hohe Innovationsneigung schaffe.

Wagenknecht befürwortet z. T. Belegschaftseigentum und Genossenschaften. Beide verändern nichts an der Notwendigkeit des Betriebs in der Marktwirtschaft, sein Kapital zu verwerten und dafür möglichst viel Mehrwert zu erwirtschaften. Rosa Luxemburg schrieb dazu schon im Jahr 1899:

„In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus [aus der Marktlage] die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erforderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst“ (Luxemburg 1970, 44).

Befürwortenswertes Engagement und Unterstützung fragwürdiger Positionen
Mit ihrem Eintreten gegen Waffenlieferungen und für eine Friedenslösung im Ukrainekrieg hat Wagenknecht sich zu Recht gegen die Bundestagsparteien und die tonangebenden Medien positioniert. Sie weiß um die geopolitische Vorgeschichte des Ukrainekriegs und den Beitrag der NATO zur Eskalation.
Der Inhalt ihrer Rede auf der großen Kundgebung am 25.2. rechtfertigt nicht die Vorwürfe, die ihr gemacht wurden. Weder hat sie an Kritik der russischen Führung gespart noch die AfD geschont, die die gigantische Aufrüstung der Bundeswehr befürwortet und sich zugleich als Friedenspartei ausgibt.

In anderen Fragen – wie der Covid-Pandemie – hat Wagenknecht regressive Proteststimmungen (vgl. dazu Creydt 2022) aufgegriffen und vernünftige Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung angegriffen. In der ARD-Talkshow „Anne Will“ begründete Wagenknecht ihre Entscheidung, bisher auf eine Impfung zu verzichten, unter anderem damit, dass es sich um „neuartige Impfungen“ im Vergleich zum „klassischen Impfstoff“ handele. „Jetzt bekommen wir einen genetischen Code geimpft. Das ist ein anderes Verfahren.“
„Junge, gesunde Menschen zu ermutigen, eine Impfung zu machen, deren Langzeitfolgen völlig unklar sind, halte ich für fahrlässig“, erklärte sie am 10.12. 2020. Wagenknecht tritt hier faktisch für das Primat der Ökonomie vor der Gesundheit ein. Das Opfer einer sehr viel höheren Erkrankungs- und Todesrate sei zu erbringen, „damit wir unsere Wirtschaft nicht ruinieren“, wie sie im Februar 2021 bei Anne Will erklärte.
Dabei handelt sich schon um ein recht spezielles Verständnis von „Zusammenhalt und Gemeinsinn“ (so der Untertitel ihres Buches von 2022).

In der Flüchtlingsfrage hat Wagenknecht Konfusion gestiftet. Auf einer Pressekonferenz am 11.1. 2016 sagte sie: „Wer Gastrecht missbraucht, der hat das Gastrecht dann eben auch verwirkt“. Es ist legitim, auf die Fragwürdigkeit von Forderungen wie „Offene Grenzen für alle“ hinzuweisen.
Um Gäste handelt es sich bei denjenigen jungen Männer aus dem nordafrikanischen und arabischen Raum nicht, die sich in der Sylvesternacht in Köln sexuell übergriffig gegenüber Frauen verhielten. Gäste können kommen und gehen, wann sie wollen. Das gilt für Flüchtlinge nicht.
Das Asylrecht ist ein Grund- und kein Gnadenrecht, das man bei schlechtem Benehmen wieder entziehen kann. Wagenknechts Formulierung „Gäste, die ihr Gastrecht missbrauchen, haben es verwirkt“ läuft im Klartext auf die Forderung hinaus: „Sofortige Abschiebung straffälliger Ausländer“.
Wagenknecht tut mit der Rede von Gästen so, als ob es sich darum handele, jemand, der als Gast dabei erwischt wird, ins Waschbecken zu pinkeln, zukünftig von der Einladungsliste für Übernachtungen im Gästezimmer zu streichen. Das bedeutet für den „Gast“ aber etwas völlig anderes als die Abschiebung für den Flüchtling.

Bei Wagenknecht ergibt sich immer wieder der Eindruck des Bluffs. Sie behauptet, „eine Debatte darüber, ob beim fundamentalistischen Islamismus die Grenzen des Tolerierbaren überschritten“ seien, ist „bis zum Herbst 2020 tabu“ (Wagenknecht 2021, 199) gewesen. Wagenknecht will sich als mutige Zerstörerin eines Tabus stilisieren, das einzig und allein in ihrer Phantasie existiert.

Wagenknechts Popularität
Sie tritt ein für „Werte“, als existierten keine Gegensätze zwischen den verschiedenen Werten der bürgerlichen Gesellschaft. Ihre „wertekonservative“ Position (2022, 275) tut so, als ob es jemals eine bürgerliche Gesellschaft mit Werteintegration gegeben habe oder geben könne.
Dabei standen und stehen in dieser Gesellschaft immer schon die Werte der „individuelle Freiheit“ und des Privatinteresses im Konflikt mit den Werten des gesellschaftlichen Konsens und der staatsbürgerlichen Gesinnung. Genauso fiktiv wie ihr Bezug auf früher angeblich eindeutige und Einigkeit ermöglichende gute Werte ist ihre Nähe zu den „einfachen Leuten“.
Wagenknecht bauscht postmoderne Meinungen und woke Positionen zum Hauptproblem der heutigen Linken auf. Dort sieht sie überall und ausschließlich „Selbstgerechte“ am Werk. Diese Dramatisierung dient ihr dazu, sich – im Kontrast zu diesem Feindbild – als populäre Linke zu stilisieren.
Mit dem Kampf für hohe Löhne und für sichere Renten hat ihr Plädoyer für Vermögensbildung durch Aktien aber nichts zu tun. Es unterstützt faktisch das Kapital gegen die Lohnarbeit sowie bestätigt diejenigen, die die Privatisierung der Altersvorsorge vorantreiben.

Wagenknechts Popularität resultiert auch aus dem Umstand, dass sie den Leuten das erzählt, was diese gern hören wollen. Sie bestätigt den Wunsch nach sicheren Aktien, nach Vermögensbildung durch Aktien, nach freiem Wettbewerb und nach der idyllischen Vorstellung, in kleinen und mittleren Unternehmen gehe es menschlicher zu als in großen Firmen.
Sie redet ihrem Publikum ein, alles wirtschaftlich Problematische lasse sich auf klar eingrenzbare und von der kapitalistischen Marktwirtschaft sauber unterschiedene und aus ihr folglich leicht entfernbare Problembären wie das Monopol- und Finanzkapital reduzieren. Realpolitisch ihr Publikum anzusprechen heißt für Wagenknecht, die Leute dort abzuholen, wo sie inhaltlich stehen, und sie auch genau dorthin wieder zurückzubringen.

Eine eingehende und fachkundige Analyse sowie Kritik von Wagenknechts ökonomischer Argumentation kommt zum Ergebnis, dass sie in „einem konfusen, also in sich selbst theoretisch widersprüchlichen Eklektizismus“ besteht (Wendl 2022). Der Ordoliberalismus, den sie (als Kritik an der Verfälschung des freien Wettbewerbs durch Kartelle und Monopole) lobt, habe mit dem tatsächlichen Ordoliberalismus wenig zu tun.
Die Gedanken, die sie der Marxschen Kapitalismuskritik sowie dem Keynesianismus entlehnt, wirken wie ausgerissene Vogelfedern. Wagenknecht versteht das Spiel, sich bei einem konservativen Publikum als Linke anzubiedern, die es nicht nur drängt, Goethes ‚Faust‘ auf Veranstaltungen zu besprechen, sondern eine Renaissance des Ordoliberalismus zu fordern.
In ihrer „Deutschland, aber ganz normal“-Gegenfixierung auf woke Zeitgeister kehrt sie die Nähe zu den „einfachen Leuten“ hervor. Sie wärmt mit dem ihr eigenen publizistischen Fleiß all die Schuldzuschreibungen auf, mit denen Verteidiger des Kapitalismus dessen Härten auf die Verfälschung des eigentlich guten Kapitalismus zurückführen.

Sie blinkt links und bestätigt zugleich die naivsten Illusionen über die kapitalistische Marktwirtschaft. Die Vorstellung, mit freier Konkurrenz und innovativen Unternehmen nutze der Kapitalismus den Reichen und den Armen gleichermaßen, enttarnt Wagenknecht nicht als Ideologie.
Wagenknecht meint, es handele sich um immanente Kritik, wenn sie Kapitalismuskritik so formuliert, dass sie die Ideologien einer freien Marktwirtschaft zum Maßstab wählt.
Das Finanz- und das Monopolkapital stellt Wagenknecht als unmoralische Eindringlinge dar, die sich eines Wesens bemächtigen, das von sich aus rein und gut sei. Das Finanz- und Monopolkapital verderben die schöne heile Welt der kapitalistischen Marktwirtschaft mit lauter Bosheiten: „Kurzsichtigkeit, Maßlosigkeit, Vorliebe für Bluff, Tricks und Bilanzkosmetik sowie einer rücksichtslose Orientierung“ (Wagenknecht 2022, 283). Eine Ursache in der kapitalistischen Marktwirtschaft hat dieses Böse nicht. Es ist die Ursache seiner selbst, also aus sich heraus („endogen“) böse.
Das Tröstliche an dieser Botschaft: All diese „Räuberbarone“ oder „Schurkenwirtschaft“ (Wagenknecht 2022) sind in der kapitalistischen Marktwirtschaft eigentlich unnötig. In der anstrebenswerten Gesellschaft kann fast alles so bleiben, wie es ist, mit Ausnahme von Finanz- und Monopolkapital. Beides lassen sich Wagenknecht zufolge aus der kapitalistischen Marktwirtschaft ebenso problemlos entfernen wie ein überflüssiger Bestandteil aus dem Körper (Blinddarm, Stielwarze oder ähnliches).

Wagenknecht gibt sich als tiefe Denkerin. Faktisch hat sie ein instrumentelles und advokatorisches Verhältnis zur Analyse von Wirtschaft und Gesellschaft. Ihre politische Einschätzung, mit der Verdammung des Finanzkapitals, dem Plädoyer für freien Wettbewerb u. a. beim Publikum punkten zu wollen, bildet den Dreh- und Angelpunkt ihres Denkens.
Wer das Finanzkapital und die Monopole verdamme, der sei auf der richtigen Seite. Auf solchen ebenso oberflächlichen wie nebulösen „Standpunkten“ bleibt Wagenknecht stehen. Von ihnen her zieht sie ihre Gedankengänge auf und sucht sich die passenden Theorieversatzstücke zusammen wie eine Elster.
Sie bildet bei ihren Lesern keine Substanz an entwickelten Argumentationen und verändertem Bewusstsein, sondern versorgt deren Vorurteile mit Legitimationen. Wagenknecht macht viel Getöse um eine ebenso konfus wie diffus bleibende Opposition. Ihre Anhänger bewundern sie dafür und bemerken nicht, dass viele der Wagenknecht-Effekte sich gegenseitig aufheben.
Sie „nimmt in die gleich bleibende Form des Gedankens etwas […] Fremdes oder Entgegengesetztes auf. Verkehrung ist nicht nur Umkehrung ins Gegenteil, sondern die Verkoppelung des Wesensverschiedenen […], die dazu führt, mit der gedanklichen Form einer ursprünglichen Wahrheit etwas, das diese Wahrheit wieder aufhebt, zu ergreifen“ (Jaspers 1966, 63).

Wagenknecht verhält sich parasitär zu linker Kritik am Kapitalismus, indem sie in das Gewand der Gesellschaftskritikerin schlüpft, tatsächlich aber Loblieder auf die freie kapitalistische Marktwirtschaft singt. Dass diese Verkehrung einer politisch linken Person nicht zugetraut wird, nutzt Wagenknecht. Sie redet den Leuten ein, alles müsse sich verändern, damit alles bleiben könne, wie es in der guten Vergangenheit bereits war.
In ihren Darlegungen wird das Votum für grundlegende Veränderung ununterscheidbar vom Plädoyer für eine Marktwirtschaft, wie sie nur in den Köpfen von deren Ideologen existiert. Wagenknecht bedient den Wunsch nach einer Orientierung, die eine grundlegende Veränderung verspricht, bei der sich nichts von Grund auf verändern muss. Sie bietet eine Utopie ohne Utopie.

Sie greift den Wunsch nach Veränderung auf und verwandelt ihn in die Nachfrage nach ihren Büchern. Die Leser lernen durch sie, die kapitalistische Marktwirtschaft anders zu interpretieren und auf diesem Wege nicht nur zu akzeptieren, sondern gutzuheißen.

Dass Wagenknecht die populärste Person der Linkspartei ist, sagt sowohl etwas über diese Partei aus als auch über die dominierende Öffentlichkeit.
Letztere leistet sich den Luxus, solche Linke zu lieben, die die Öffentlichkeit mit einer paradox anmutenden Mixtur überraschen und mit einer dosierten Diskrepanz unterhalten, aber zugleich in entscheidenden Fragen beruhigenderweise den Konsens bestätigen.

Literatur
Altvater, Elmar 1975:Wertgesetz und Monopolmacht. In: Argument-Sonderbd. 6. Zur Theorie des Monopols. Berlin
Cechura, Suitbert 2018: Unsere Gesellschaft macht krank. Baden-Baden
Creydt, Meinhard 2019: Krysmanskis Geschichten von tausend und einer Jacht. Zentrale Fehler regressiver Kapitalismuskritik. In: Kritiknetz August 2019.
Creydt, Meinhard 2022: Das ganz normale Denken von Demonstranten gegen die Covid-Politik. In: Telepolis 28.1. 2022
Donner, Susanne 2021: „Endlager Mensch“. Wie Schadstoffe unsere Gesundheit belasten. Hamburg
Jaspers, Karl 1966: Descartes und die Philosophie. Berlin
Luxemburg, Rosa 1970: Sozialreform oder Revolution. In: Dies.: Schriften zur Theorie der Spontaneität. Reinbek bei Hamburg
Mandel, Ernest 1972: Marxistische Wirtschaftstheorie. Bd. 2. Frankfurt M.
NN 1978: Die „Steigerung der Massenkaufkraft“ oder das Wunderwässerchen der reformistischen Scharlatane. In: Kommunistisches Programm, Nr. 19. Westberlin
Sandleben, Günter; Schäfer, Jakob 2013: Apologie von links. Zur Kritik gängiger Krisentheorien. Köln
Wagenknecht, Sahra 2021: Die Selbstgerechten – mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammhalt. Frankfurt M.
Wendl, Michael 2013: Machttheorie oder Werttheorie. Hamburg
Wendl, Michael 2022: Marktwirtschaft statt Kapitalismus – Wagenknechts ökonomisches Glaubensbekenntnis. Vom „einfachen“ Marxismus zur ordoliberalen Kapitalismuskritik. In: Klaus Weber, Wolfgang Veiglhuber (Hg.): Wagenknecht – Nationale Sitten und Schicksalsgemeinschaft. Hamburg