Mai
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(in: Telepolis 15.5. 202§)

Kaum hatte sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, unter „Zeitenwende“ die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung der Klimakatastrophe zu verstehen, schon verkündet Kanzler Scholz auf einmal, bei „Zeitenwende“ sei von nun ab an den Angriff Russlands auf die Ukraine zu denken.

Oft ist zu hören, in der Ukraine werde – gegen Russland – für „westliche Werte“ gekämpft. Zuletzt erklärte Ursula von der Leyen am 9.5. in Kiew: „Kiew als Hauptstadt der Ukraine ist das pulsierende Herz der europäischen Werte. Die Ukraine ist an vorderster Front, wenn es um die Verteidigung all dessen geht, was uns Europäerinnen und Europäern lieb und teuer ist: unsere Freiheit, unsere Demokratie, unsere Meinungs- und Gedankenfreiheit. Heldenhaft kämpft die Ukraine für jene Ideale Europas, die wir heute feiern.“

Wie steht es in der Ukraine um „westliche Werte“?
Das World Justice Project bewertet die Rechtsstaatlichkeit nach acht Faktoren: Begrenzung der Regierungsmacht, Korruption, Offenheit der Verwaltung, Grundrechte, Ausmaß von Ordnung und Sicherheit, Strafverfolgung, Zivilgerichtsbarkeit und Strafgerichtsbarkeit. Die Ukraine steht im internationalen Rechtsstaatlichkeit-Ranking auf Platz 76, Russland auf Platz 107, Mexiko auf Platz 115, die Türkei auf Platz 116.

Der Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index, CPI) 2022 ist am 31. Januar 2023 erschienen. Der CPI ist der weltweit bekannteste Korruptionsindikator. Er wird vom Internationalen Sekretariat von Transparency International erstellt. Die Ukraine steht in Sachen Korruption auf Platz 120, Russland auf Platz 138.

In der Rangliste der Pressefreiheit, die die „Reporter ohne Grenzen“ aufgestellt haben, steht die Ukraine auf Platz 79 – hinter Guinea-Bissau und Malaysia.

Dass es um die Demokratie in Russland nicht gut steht, ist den meisten bekannt. Weniger informiert zeigen sich viele Mitbürger darüber, wie es in der Ukraine damit aussieht.

Die ukrainische Kommunistische Partei hatte 2012 mehr als 100.000 Mitglieder, bekam im selben Jahr bei der Parlamentswahl 13,2% der Stimmen und landete auf Platz 4. 2014 wurde die KPU „zum Ziel von gewalttätigen Angriffen durch Unterstützer des Euromaidan. Die Parteizentrale in Kiew war zeitweise besetzt, andere Büros der Partei wurden verwüstet oder mit Molotowcocktails in Brand gesetzt. Die Abgeordneten der KPU in der Werchowna Rada (Parlament) wurden teilweise bedroht und unter Druck gesetzt. In einer am 27. Februar 2014 angenommenen Resolution verurteilte das Europäische Parlament den Angriff auf den Sitz der KPU. Am 10. April wurde die Parteizentrale auf gerichtlichen Beschluss von den Besetzern geräumt, dabei wurden die Räume in Brand gesetzt“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Kommunistische_Partei_der_Ukraine.) 2015 kam dann das Verbot der KPU. „Anfang Februar 2021 wurden zunächst drei oppositionelle Fernsehsender – NewsOne, Zik und 112 Ukraine – abgeschaltet. Ein weiterer oppositioneller Sender, Nash, wurde Anfang 2022, also noch vor Beginn des Krieges, verboten. Nach Ausbruch des Krieges wurden im März Dutzende unabhängiger Journalisten, Blogger und Analysten verhaftet; die meisten von ihnen vertreten linke Ansichten“ (Olga Baysha).

„Westliche Werte“ sind weder in der Ukraine noch in Russland sonderlich relevant. Wer die Welt vom Standpunkt dieser Werte betrachtet, dem müssten beide Gesellschaften recht unsympathisch sein. Ursula von der Leyen spricht von der Ukraine als einer „freien Gesellschaft“. Das trifft nicht zu.

Die Höhe der bundesdeutschen Ausgaben in Bezug auf die Ukraine würde vermuten lassen, dass eine lupenreine Demokratie von einem faschistischen Staat angegriffen wird. Faktisch steht eine undemokratische, korrupte und wenig rechtsstaatliche Nation (Ukraine) mit einem anderen Land (Russland) in Konflikt, in dem es in Bezug auf diese westlichen Werte zwar etwas schlechter aussieht. Beide Staaten aber teilen die Positionierung im hinteren Feld der Rankings.

Die Opfer, die die Bundesregierung der deutschen Bevölkerung zumutet (schon durch die Verteuerung der Energie infolge der Sanktionen gegen Russland), stehen in keinem Verhältnis zum Unterschied zwischen den Konfliktparteien. Zum Kampf zwischen Gesellschaften mit schlechten Werten in puncto Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit und Korruption passt der Enthusiasmus nicht, mit dem hiesige Ukraine-Unterstützer die Parole „Der Angegriffene hat immer Recht und muss bedingungslos verteidigt werden“ vertreten.

Bei jedem anderen Konflikt würden dieselben Personen, die jetzt bei der Ukraine so eindeutig Flagge zeigen, eine einfache Täter/Opfer-Unterscheidung infrage stellen. Sie verschließen die Augen vor der ukrainischen Missachtung der Minsker Abkommens, vor den ukrainischen Angriffen auf die abtrünnigen Provinzen im Osten sowie vor der Aggression gegen alle, die den Maidan nicht begrüßten.

Das Nein zum Angriffskrieg steht in der Bundesrepublik felsenfest – wenigstens für Leute mit einem kurzen Gedächtnis
Zu den westlichen Werten, für die – so heißt es – in der Ukraine gekämpft werde, gehört, dass ein Land nicht einen Angriffskrieg gegen ein anderes Land führen dürfe. Allerdings zeigt die jüngere Geschichte: Ein Angriffskrieg gilt als mit den „westlichen Werten“ vereinbar, wenn er vermeintlich einem guten Zweck dient. Da brauchen wir gar nicht auf andere Kontinente blicken (vgl. den Einmarsch in den Irak 2003), sondern können uns an den Angriffskrieg gegen Serbien 1999 erinnern. Mit deutscher Beteiligung zerstörte oder beschädigte die Nato 60 Brücken, 110 Krankenhäuser, 480 Schulobjekte, 365 Klöster, die Strom- und Wasserversorgung, 121 Industriebetriebe. 2500 Menschen fanden den Tod. Um Kriegsverbrechen handelte es sich beim Einsatz von über 30.000 Urangeschossen an über 80 Orten sowie bei der vorsätzlichen Bombardierung der großen Chemiezentren (in Pančevo, Novi Sad und Bor).

Hartmut Sommerschuh schreibt in der Berliner Zeitung vom 14.6. 2021: „Achtundsiebzig Tage lang bombardierte die Nato 1999 ohne Uno-Mandat“ Serbien. „Dieser erste Angriffskrieg mit deutscher Beteiligung seit 1945 führte zu einer ökologischen und humanen Katastrophe. Doch Kirchen, Umweltverbände und Bündnis 90/Die Grünen schweigen bis heute. [...] Für die Toxikologin Ursula Stephan aus Halle/Saale ist die Bombardierung der serbischen Chemiebetriebe bis heute ein ungesühnter vorsätzlicher Chemiekrieg, der Tausende Opfer von Langzeitschäden bewusst in Kauf nahm. Als 1999 alle deutschen Umweltverbände dazu schwiegen, war Stephan Vorsitzende der deutschen Störfall-Kommission, einer Expertenvereinigung für Sicherheitsfragen der Industrie und auch für die Folgen und Verhütung von Chemieunfällen. [...] Schon wenige Jahre nach Kriegsende beobachten serbische Mediziner wie der führende Belgrader Onkologe Vladimir Čikarić und die Neurologin Danica Grujičić einen dramatischen Anstieg der Krebsrate und Sterblichkeit. Heute liegt Serbien bei Lungen- und Brustkrebs an der Spitze Europas“.

Im Krieg gegen Serbien 1999 hieß es im freien Westen: Ja zum Separatismus des Kosovo! Heute heißt es: Nein zum Separatismus der Krim und der sog. Volksrepubliken Luhansk und Donezk!

Der Sinn für die Verhältnismäßigkeit ist völlig verlorengegangen, wenn so getan wird, als ob die Bundesrepublik Deutschland eine Niere spenden müsste, weil ohne diese massive Unterstützung der Ukraine Putins Heere bald nicht nur in Lwiw (Lemberg), sondern auch in Polen an der deutschen Grenze stehen, um sodann ihren Blitzkrieg mit dem Vorstoß zum Rhein zu krönen. Solche Ängste können nur bei Personen gedeihen, die eine Kleinigkeit ausblenden: Die russische Armee tat sich schon 2022 mit der Eroberung und Verteidigung von 20% des ukrainischen Territoriums schwer. Wie wahrscheinlich ist dann ihr Vormarsch gen Wesen? Wer sich vor ihm ängstigt, muss sich geradezu fanatisch weigern, eine Proportion zur Kenntnis zu nehmen. Russland (86,4 Mrd. US-Dollar) hatte 2022 weniger Militärausgaben als die Länder Deutschland (55,8) und Frankreich (53,6) zusammen. Die USA gaben übrigens 2022 877 Mrd. für das Militär aus.

Geld lässt sich nur einmal ausgeben
Die Ausgaben, die nach der „Zeitenwende“ der Bundeswehr, der Unterstützung der Ukraine und der Kompensation der Einbußen infolge der Sanktionen gegen Russland gewidmet werden, sind enorm hoch. Angesichts dessen müsste ein unbeteiligter Beobachter annehmen: Bei der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich um eine paradiesische Überflussgesellschaft, die über unendliche Finanzreserven verfügt.

Dieser Beobachter wird allerdings recht schnell bemerken, dass diese These nicht zu einer anderen Erfahrung passt. Bei den verschiedensten Anlässen stößt er auf eine sich ständig wiederholende stereotype Antwort von staatlicher Seite. Auf die Forderung „Mehr Geld für Krankenhäuser und Schulen, mehr Krankenpflegepersonal, mehr Lehrer, kleinere Klassen in Schulen“ kommt so sicher wie das Amen in der Kirche die Stellungnahme: „Diese Ziele begrüßen wir (CDU, SPD, Grüne, FDP), aber leider fehlt es an Geld dafür!“

Kriegsflüchtlingen zu helfen ist unterstützenswert. Zum Verlust der Verhältnismäßigkeit gehört aber, bei begrenzten Finanzmitteln in einer Hinsicht (alles, was mit der Ukraine zusammenhängt) beim Geldausgeben keine Grenze zu kennen, bei anderen Zwecken (Gesundheit, Bildung u. a.) hingegen den Standpunkt des sparsamen Haushälters einzunehmen.

Klimakatastrophe
Einerseits wird in Sonntagsreden die Vermeidung der Klimakatastrophe zur allerhöchsten Priorität erklärt. Andererseits heißt es warnend: Das wird für alle Beteiligten sehr teuer. Einerseits hören wir: Die Zeit bis 2030 sind die entscheidenden Jahre, in denen noch, wenn überhaupt, mit großen Anstrengungen Kipp-Punkte vermieden werden können. Andererseits möchten viele Politiker die Bevölkerung beruhigen: Alles soll so weitergehen wie bisher und der Staat möchte die Veränderungen so gestalten, dass Verluste kompensiert werden. „Allen wohl und niemand weh“ passt nicht zur massiven Wende, die angesichts der drohenden Klimakatastrophe erforderlich ist. Wenn eine Regierung die „Zeitenwende“ angesichts des Ukraine-Krieges ausruft und Unsummen in diesem Kontext ausgibt, dann scheint es ihr mit der Zeitenwende in Bezug auf die Klimakatastrophe nicht ernst zu sein. Zur Verhältnismäßigkeit gehört, die Rangordnung der Prioritäten im Blick zu haben.

Stattdessen ist der Präsident der nächsten UNO-Klimakonferenz Sultan Al Jaber. Es handelt sich um den Industrieminister der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und den Chef des staatlichen Ölkonzerns Adnoc. Dieses Unternehmen ist für rund 700 Millionen Tonnen CO? pro Jahr verantwortlich. Das entspricht ungefähr den Emissionen von ganz Deutschland. Man weiß also, was er meint, wenn er Anfang Mai in Berlin davon spricht, „Leidenschaften in pragmatische Lösungen zu verwandeln“ und die Polarisierung beim Thema Klimaschutz zu beenden (Götze 2023). Christoph Bals von Germanwatch stellt fest, Al Jaber vertrete ein „Programm zur Lebensverlängerung fossiler Energieträger“.

Beim Klima-Volksentscheid im März 2023 in Berlin hieß es, er sei gescheitert, weil seine Gegner es geschafft hätten, die soziale Karte gegen die ökologische auszuspielen. Eine Propaganda habe verfangen, der zufolge eine klimaverträgliche Umgestaltung der Stadt für die Geringverdiener zu teuer wird. Zum Verlust des Sinns für die Verhältnismäßigkeit gehört, an dieser Stelle einen Gedanken auszublenden: Wer hätte es für möglich gehalten, dass auf einmal so viel Geld ausgegeben wird für ein Anliegen (Unterstützung der Ukraine, Kompensation der Kosten infolge der Sanktionen gegen Russland), das in Bezug auf die Zukunft in Deutschland einen recht nachgeordneten Stellenwert hat?

Nur eine Regierung mit Notstandsbefugnissen wird die Not abwenden
Gegen den Berliner Klima-Volksentscheid hieß es: Klimaneutralität bis 2030 sei unpraktikabel, weil es bspw. nicht genügend Fachkräfte für die erforderlichen Maßnahmen gebe. Nicht gesagt wird: Angesichts der unaufschiebbaren Dringlichkeit dessen, was auf dem Spiel steht, und in Anbetracht der enormen Aufgaben müsste die Gesellschaft alle Ressourcen auf die ökologisch erforderlichen Maßnahmen konzentrieren. Sie würde alle Kräfte für diesen Zweck bündeln und für ihn mobilisieren.

Vergleichbar ist das nur mit einem Kriegsfall. Bei ihm ist für die betreffende Nation klar: Nun gilt es alles in Bewegung zu versetzen und alle zum Handeln zu veranlassen, damit der Hauptzweck erfüllt werden kann („Generalmobilmachung“). In einer Kriegswirtschaft heißt es nicht länger: Es sind nicht genug Fachkräfte zur Herstellung von Waffen verfügbar, also kann die Armee erst in 10 Jahren schlagfertig sein. Ginge es wirklich um eine ökologische „Zeitenwende“, so würden unter Hintanstellung anderer Vorhaben sofort Fachkräfte ausgebildet bzw. umgeschult, um schnell die ökologisch notwendigen technischen Maßnahmen durchführen zu können.

Man muss sich schon ehrlich machen: Im Unterschied zur Pluralität der Zwecke im Frieden ist die Kriegswirtschaft „an einem (im Prinzip) eindeutigen Zweck orientiert und in der Lage, Machtvollkommenheiten auszunutzen“, wie sie in Friedenszeiten nicht „zur Verfügung stehen. Sie ist ferner ‚Bankerotteurswirtschaft‘ ihrem innersten Wesen nach: der überragende Zweck lässt fast jede Rücksicht auf die kommende Friedenswirtschaft schwinden. Die Rechnungen haben daher vorwiegend [...] gar nicht den Sinn, dauernde Rationalität der gewählten Aufteilung von Arbeit und Beschaffungsmitteln zu garantieren“ (Weber 1976, 57). Eine der Kriegswirtschaft entsprechende Notstandsphase kann kein Dauerzustand sein, sondern nur für die Übergangszeit gelten, in der die notwendigen Veränderungen durchgesetzt werden, um die Klimakatastrophe zu vermeiden.

Die Gesellschaft kann sich angesichts der sich zuspitzenden klimatischen Entwicklung den Widerstand der verschiedenen Interessengruppen gegen die Klima-Wende nicht leisten. Er bildet eine „Blockiermacht in den Machtketten, die nichts bewirken und nichts verantworten, aber viel verhindern kann“ (Luhmann 1975, 84). Selbst die Commerzbank wirbt unter Bezug auf die Klimakrise mit dem Slogan „Keine Zeit für ‚aber‘!“ Die Blockademacht der Veto-Gruppen gehört zur Schwäche der Selbstgestaltungsfähigkeit von bürgerlichen Gesellschaften. Sie zeigen „eine Scherenentwicklung, in der einerseits aufgrund der hohen Probleminterdependenzen […] ein Bedarf an umfassenden Strukturreformen auftritt und andererseits die sozialen Unterstützungsbereitschaften für politische Innovationen aufgrund von heterogenen Betroffenheiten, Orientierungen und Politikpräferenzen auf ein unzureichendes Niveau absinken“ (Wiesenthal 1987, 27).

Was das Grundgesetz für den Notstand vorsieht
Die Erklärung des staatlichen Notstands folgt der Einsicht, dass ohne die entsprechenden Maßnahmen der Bevölkerung ein ähnlich hoher Schaden wie in einem Krieg droht. Not-wendig wird diejenige Erweiterung der Zuständigkeiten für die Regierung, die das Grundgesetz (Artikel 115a) im Verteidigungsfall vorsieht. Er schließt Einschränkungen der Grundrechte ein. Das Grundgesetz erachtet es als erforderlich, dass zur Sicherung des Bedarfs an Arbeitskräften im Verteidigungsfall „die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben […], eingeschränkt“ werden kann (Artikel 12a (6)). In Artikel 12a (3) heißt es: „Verpflichtungen in Arbeitsverhältnisse im Bereich der Versorgung der Zivilbevölkerung sind nur zulässig, um ihren lebensnotwendigen Bedarf zu decken oder ihren Schutz sicherzustellen“. Das Grundgesetz hält eine Einschränkung der Freizügigkeit für legitim „zur Bekämpfung von Seuchengefahr, Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen“ (Artikel 11). Daran schließt sich eine Kapitalverkehrs-Kontrolle an, die das Abfließen von Kapital aus der Bundesrepublik in solche Länder verhindert, die noch keinen Klima-Notstand erklärt haben. Gewiss birgt ein Notstandsregieren immer autoritäre Gefahren in sich. Es kann nur als notwendiges (und kleineres) Übel angesichts der Klimakatastrophe sowie als vorübergehende Lösung akzeptiert werden.

Das Bewusstsein für die tatsächlich vorhandenen Risiken, die das Notstands-Regieren mit sich bringt, sorgt bei vielen dafür, dass sie keine Risikoabwägung anstellen. Die viel größeren Risiken resultieren aus den Leistungsgrenzen des gegenwärtigen politischen Systems in puncto Bewältigung der Klimakatastrophe. Der kurzfristige Horizont (die nächsten Wahlen gewinnen), die Übersetzung von Sachkonflikten in die binäre Logik von Regierung und Opposition, die in den Normalbetrieb des Regierens eingebauten „checks and balances“ sowie die weitgehende Gestaltungsverschlossenheit der Ökonomie für die staatliche Politik tragen zur „Selbstinvalidierung staatlicher Politik“ (Schmalz-Bruns 1994, 496) bei.

Das Notstands-Regieren nicht als not-wendig anzusehen entspricht der gegenwärtigen Problemlage: Die Klimakatastrophe ist zwar vielen nominell bekannt, aber ihre realen Gefahren wollen die meisten Mitbürger dann doch lieber nicht so recht wahrhaben. Zur Halbherzigkeit gehört die friedliche Koexistenz von zwei unvereinbaren Überzeugungen: Die Zustimmung zur Parole, es müsse „wirklich etwas geschehen“, verträgt sich mit der Mentalität, die Maßnahmen dürften bloß nicht zu viel kosten und es solle alles risikolos in den gewohnten politischen Bahnen bleiben.

„In Gefahr und großer Not bringt der Mittelweg den Tod“ (Friedrich von Logau)
Soll die Priorität, die Klimakatastrophe zu vermeiden, keine Sonntagsrede bleiben, dürfen business as usual sowie der Alltagspragmatismus nicht länger dominieren. (Zu den engen Grenzen des Alltagspragmatismus vgl. Creydt 2023). Wer die Klimakatastrophe ernst nimmt, wird nicht nach dem Motto „Wasch den Pelz, aber mach ihn nicht nass“ vorgehen. Wer meint, es handelt sich bei den allernächsten Jahren um eine für die Veränderung des Weltklimas entscheidende Phase, muss daraus die Schlussfolgerung ziehen. Das heißt: Wir können uns die Doppelmoral, einerseits die Klimakatastrophe für die Zeitenwende des 21. Jahrhunderts zu halten, andererseits aber alles andere als in gleichem Maße dringlich zu erachten, nicht leisten.

Wer Sinn für Verhältnismäßigkeit hat, weiß, wann die Maxime „nur schön den Ball flach halten, sich schonen und auf alle Rücksicht nehmen“ angebracht ist und wann nicht. Es gilt, sich von Gewohnheiten zu verabschieden. Deren Mentalität lautet nur allzu oft: „Sei immer bescheiden, verlang nicht zu viel, dann kommst Du zwar langsamer, aber sicherer zum Ziel!“ Angesichts der anstehenden Aufgaben wirkt es besonders deplaciert, selbstgenügsam in Formeln wie „Bloß nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig!“ zu verbleiben und die eigene „Ausgewogenheit“ auszustellen.

Maßvolles Handeln muss nicht moderat sein. Als maßgeblich zur Beurteilung des Handelns gilt seine Angemessenheit. In einer Extremsituation entscheidet sich in einem eng befristeten Zeitraum, ob sich eine ruinöse Eigendynamik noch stoppen lässt oder nicht. Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Kraftanstrengungen und Vorgehensweisen. Verhältnismäßigkeit heißt in Bezug auf das Klima: Allein eine einschneidende Wende vermag die Katastrophe abzuwenden. Ohne die entsprechende politische Form der Durchsetzung des Not-wendigen wird das nicht funktionieren. In der Klimafrage wird das Sich-Verlieren im Stückwerkhandeln ebenso lebensgefährlich wie die Behinderung und Blockierung durch Veto-Gruppen. Wer das gängige go-slow in der Klimapolitik nicht als „alternativlos“ hinnehmen möchte, sollte über eine Notstandspolitik nachdenken.

Literatur:
Creydt, Meinhard 2023: Die Fehler des Alltagspragmatismus. In: Telepolis 8.1. 2023
Götze, Susanne 2023: Spiegel-Klimabericht: Al Jaber hat es nicht eilig. 5.5.2023
Luhmann, Niklas 1975: Macht. Stuttgart
Schmalz-Bruns, Rainer 1994: Radikalisierung und Selbstbeschränkung – Überlegungen zu einer reflexiven Modernisierung der Demokratie. In: Michael T. Greven u. a. (Hg.): Politikwissenschaft als Kritische Theorie. Baden-Baden
Weber, Max 1976: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen