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(erschien in: Telepolis, 9.1.2022)

Die Abteilung des Deutschlandfunks für jüngere Leute bietet in Serie podcasts von Alice Hasters an (https://www.deutschlandfunknova.de/podcasts/download/einhundert). So unterschiedlich die vorgestellten Personen, so ähnlich das Strickmuster: Stets steht ein Individuum im Zentrum, das sich durch widrige Umstände bedrängt sieht. Nach einigen Wirren nimmt es sie letztlich dann doch als sportliche Herausforderung an, das eigene Selbst zu suchen, zu finden und zu verwirklichen. Wer dieses Programm nur mutig beherzige und sich nicht von Rückschlägen entmutigen lasse, könne dazu gelangen, schlussendlich das höchst eigenes Leben zu führen. Notwendig werde die Feinabstimmung zwischen dem vorhandenen Angebot und der jeweiligen persönlichen Besonderheit. Das Individuum solle sich der Lebensstil-Jacken entledigen, die sich für es als unvorteilhaft oder beengend erweisen. Dann könne jede Person auf ihre Weise gelingen. Soweit die Werbung für den Individualismus. Er entspricht dem herrschenden Liberalismus. Ihm zufolge habe sich jedes Individuum auf das exklusiv von ihm Besitzbare zu konzentrieren. In der Konkurrenz soll jede Person „besser“ sein als die andere. Alle sind angehalten, jeweils als einzelnes eigenverantwortliches Subjekt die nachgefragten Fertigkeiten und Talente zu entwickeln, sie am richtigen Ort zur richtigen Zeit anzubieten und sich als leistungsstark zu bewähren. Daraus erklären die Betroffenen sich ihren Erfolg oder Misserfolg im Erwerbs- und Geschäftsleben. Wir fragen in diesem Artikel nach gesellschaftlichen Prozessen, die dazu beitragen können, diesen Individualismus zu überwinden. Er wird – so eine erste Teilauskunft – in dem Maße abnehmen, wie sich der Stellenwert des Privatinteresses und des Privateigentums verringert. Beide verlieren in einer Gesellschaft des guten Lebens an Gewicht zugunsten gemeinschaftlicher bzw. gesellschaftlicher Lösungen. Ein Beispiel dafür ist dasjenige Verkehrswesen, in dem der öffentliche Personenverkehr, Sammeltaxis, Car-Sharing u. ä. das Primat haben über den individuellen Autoverkehr. Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie mehr und bessere öffentliche Güter (gute Infrastrukturen, Bildung, Gesundheitswesen u. a.) angeboten werden und weniger Güter für einem rivalisierenden Konsum.

Der Individualismus verliert an Bedeutung, wenn die gesellschaftliche Situation überwunden wird, in der in Arbeit, Wirtschaft und Alltag Konkurrenz sowie Überbeanspruchung herrschen und sich gegen die Belastungen ein Gegengewicht nur im Privaten findet. Nehmen ist in der Marktwirtschaft der Zweck, Geben das Mittel. Nehmen setzt in der Marktwirtschaft Tausch voraus. (Das schließt auch den Tausch zwischen Arbeitslohn und zeitweiliger Überlassung der Nutzungsrechte für die Arbeitskraft ein.) Im unmittelbaren, exklusiven, andere ausschließenden Privatinteresse liegt es, sich einen Vorteil zulasten des Tauschpartners zu verschaffen. Angesichts dieser ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit provoziert die Rede von Gemeinsamkeit nicht nur dort, wo es geboten erscheint, den Verdacht, für fremde Zwecke instrumentalisiert und vereinnahmt zu werden sowie das entsprechende Misstrauen. Erst die Überwindung von Privateigentum und Konkurrenz ermöglicht es, den ihnen entsprechenden „Schutzpanzer gegen andere Menschen“ bzw. die „Isolierschicht“ aufgeben zu können (Gerson 1982, 193f.).

Der Individualismus verliert in dem Maße an Dominanz, wie Privateigentum, Konkurrenz und Verwertung des Kapitals als herrschende Imperative überwunden werden. Dann können die Freude an der Kooperation und eine Arbeitsmotivation, die sich auf den positiven Beitrag der jeweiligen Arbeit für deren Adressaten bezieht, an Bedeutung gewinnen. Gegenwärtig arbeiten viele, weil sie durch die Konkurrenz oder durch die Abhängigkeit vom Arbeitseinkommen (bei Mangel an sonstigen Erwerbsquellen) dazu gezwungen sind. Davon unterscheidet sich das Motiv, etwas Sinnvolles für die Abnehmer der Produkte bzw. der Dienstleistung zu schaffen.

Im Unterschied zum modisch gewordenen Belächeln der alten Arbeiterbewegung ist an eine für sie charakteristische und keineswegs überholte Unterscheidung zu erinnern: „‚Bürgerlich’“ bezeichnet „jene Form sozialer Beziehung, die wir gewöhnlich Individualismus nennen: das heißt eine Idee der Gesellschaft als eines neutralen Bereiches, innerhalb dessen jedes Individuum frei ist, seine eigene Entwicklung und seinen eigenen Vorteil als ein natürliches Recht zu verfolgen.“ In der „Arbeiterklassenkultur“ wurden „Entwicklung und Vorteil nicht individuell, sondern gemeinschaftlich interpretiert. […] Verbesserung wird nicht in der Gelegenheit gesucht, der eigenen Klasse zu entfliehen oder eine Karriere zu machen, sondern im allgemeinen und kontrollierten Vorankommen aller“ (Williams 1963, 312-15).

Der Kult um die Eigenheit und Andersheit
Die Individualisierung prägt auch die Verarbeitung von Frustrationen im Geschäfts- und Erwerbsleben. Der vereinzelte Einzelne hat häufig Anlass zu meinen, in seinem wahren „Wesen“ bzw. mit seinen „eigentlichen“ Gaben nicht gesehen oder berücksichtigt zu werden. Seine Besonderheit komme angesichts allgemeiner Vorgaben nicht zur Geltung. Die Frustrationen in der gesellschaftlichen Realität verarbeitet das individualisierte Individuum als Nivellierungserfahrung und beantwortet sie mit einem reaktiven Subjektivismus. Die Betroffenen steigern „das verbleibende Privateigentum des geistigen Ich zu um so eifersüchtigerer Ausschließlichkeit“ (Simmel 6, 653). Die subjektive Fokussierung auf die individuelle Besonderheit und die Distinktion sollen mit der Aufmerksamkeit für die vermeintliche „unbestreitbare Eigenheit“ das Individuum „für alle Leiden entschädigen“ (MEW 3, 296). „Wir sind alle so individuell“ seufzen viele und machen ihre Eigenheiten mit Fleiß gegen andere geltend.

Ökonomisch und kulturell grassieren die Fassadendifferenzierung und die künstliche Diversifizierung. Ähnliches findet im Narzissmus der kleinsten Differenz statt. „Eine kritische und psychoaffektive Verarmung liegt in der Luft, nachdem das Recht auf Unterschied hochgejubelt worden ist und Hunderte von sektoriellen und exklusiven Apartheiten geschaffen hat“ (Errata 5, S. 7). Es kommt dann dazu, „dass man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert beimisst als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität“ (Elias 1987, 21). Allerdings existiert der Wunsch, sich mit seinesgleichen oder identischen Wesen zu umgeben. Die „Zersplitterung in Partikularismen“ bleibt nicht aus. Das „Recht auf Differenz“ läuft oft auf eine „endlose Miniaturisierung“ hinaus. Die Gruppen werden aus ihren weiter gefassten Bezugsrahmen gelöst, Mikrosolidaritäten bekräftigt und „immer wieder neue Singularitäten“ emanzipiert (Ebd., 234). Der Sog von partikularen Affinitätsgruppen und special-interest-Medien verschärft die Spaltungen der Bevölkerung. Sie fördern die abstrakte Vernetzung qua Geld und Recht.

Treuhänderschaft
Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie immer mehr Menschen deutlich wird, dass die Qualität ihrer Lebensweise nicht nur von ihren unmittelbaren, sondern auch von vermittelten Sozialbeziehungen abhängt. Unmittelbare Sozialbeziehungen ermöglichen es den Individuen günstigenfalls, sich mit ihren Schwächen und „blinden Flecken“ auseinanderzusetzen. Um sich entfalten zu können bedürfen Individuen der Koevolution, also Mit- und Gegenspieler, die mit bestimmten Sinnen und Fähigkeiten, Erfahrungen und Wissen „qualifiziert“ sind. Das schließt auch die „Herzensbildung“ ein. Nun zu den vermittelten Sozialbeziehungen: Auch Kinderlose sind daran interessiert, dass Eltern, Erzieher und Lehrer Kinder und Jugendliche auf eine gute Weise erziehen. Diese Personengruppen werden zum Repräsentanten oder Treuhänder von Arbeiten und Tätigkeiten, die für alle relevant sind. Ein anderes Beispiel sind Pflegekräfte, Ärzte und Physiotherapeuten als Repräsentanten von Wissen und Kompetenzen, die das Thema Gesundheit betreffen.

„Wer in mir repräsentiert ist, hat Sitz und Stimme in mir. Draußen ist er […] körperlicher Mensch: reell und leibhaftig. Drinnen in mir hat er nur einen symbolischen Repräsentanten: unkörperlich und von eher ‚ideeller’ Natur. Wer nicht in mir repräsentiert ist, hat weder Sitz noch Stimme in mir. Es mag zwar sein, dass ich ihn wahrnehme, wenn er vor mir steht. Aber im übrigen existiert er für mich nicht“ (Suhr 1975, 292). Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie Beziehungen der Repräsentation oder Treuhänderschaft in der Gesellschaft an Stärke gewinnen. Sie existieren heute ansatzweise bei Professionen. Wenigstens zu ihrem Selbstverständnis gehört es, nicht das Eigeninteresse zulasten der Dienstleistung zu verfolgen. Zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Bereichen können Repräsentations- oder Treuhänderschaftsbeziehungen existieren. Ist ihre Qualität gut, so erweist sich das „Zutrauen zu einem Menschen“ als berechtigt, das „seine Einsicht dafür ansieht, dass er meine Sache als seine Sache, nach bestem Wissen und Gewissen, behandeln wird“ (Hegel 7, 478).

Der Individualismus nimmt ab, wenn nicht länger – wie in der Marktwirtschaft üblich – jeder „die Beiträge der anderen Subjekte als Mittel zur eigenen Entwicklung“ wahrnimmt. Der Individualismus lässt sich überwinden, wenn der eigene Beitrag und der Beitrag von anderen als „Mittel des Einander-Entwickelns“ (Raeithel 1983, 168) taugen. Die Überwindung des Individualismus überschreitet die Milieus von Gruppen und Erzeuger/Konsumenten-Direktkontakten, wird der „Reproduktionsprozess des gesamten Gemeinwesens“ als „komplexer Prozess des Einander-Entwickelns“ verstanden und gestaltet (Ebd., 162).

Die Verringerung des Individualismus als Nebenprodukt
Den Individualismus zurückzudrängen gelingt nicht durch moralisierende Kampagnen oder durch die Werbung für kleine Gemeinschaften. Sie sind häufig mit einem Konformitätsdruck verbunden. Ihm gegenüber hat der individualistische Protest seine Legitimität. Ein Argument für den Individualismus als Lebensweise entsteht daraus nicht. Seine Überwindung bildet das Nebenprodukt von den sozialen Bewegungen, die zentrale Charakteristika der bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie angreifen. Bspw. ist der gegenwärtigen Medizin des Gesundheitswesens die Verkehrung eigen, Maßnahmen zum Zentrum zu erheben, die sich auf den vereinzelten Einzelnen beziehen. Das schwächt die Aufmerksamkeit für die gesellschaftliche Arbeit daran, diejenigen Ursachen für Krankheit zu verringern, die dem Einfluss des vereinzelten Einzelnen entzogen sind. Es handelt sich u. a. um Arbeitsbelastungen, Widersprüche der Handlungsanforderungen, Überlastung der Individuen u. ä. Die Vorstellung, die Gesundheit von Willen und Anstrengung des Einzelnen abhängig zu machen, ist nicht nur „ein massenpsychologisches Sedativum, das von krankmachenden sozialen Bedingungen ablenken soll; sie enthält auch die tückische Philosophie: ‚Wer krank und schwach ist, hat selber schuld’. Eine Bronchitis? Natürlich, zu viel geraucht! Krebs? Gewiss zu leichtsinnig gelebt! Ein Magengeschwür? Zweifellos zu viel Ärger heruntergeschluckt! Depressionen ? Offensichtlich zu wenig Sport getrieben. Die Kranken und Gebrechlichen“ müssen dann „mit Belehrung und Tadel der Wissenden“ und „dem Bekehrungseifer der Stärkeren“ rechnen (Bopp 1987, 62). Gerade weil Gesundheit auch vom Verhalten des Individuums abhängt, liegt es nahe, diesen ‚Anteil’ zu übertreiben. Der vereinzelte Einzelne meint, wenigstens auf ihn Einfluss zu haben. „Die Vorstellung, die Gesundheit sei individuell herstellbar wie eine Gartenlaube, zwingt ihre Anhänger in eine endlose Spirale der Unsicherheit. Je mehr Aufmerksamkeit die Anhänger jener Gemeinde ihrem Körper zuwenden, desto mehr Gefährdungen entdecken sie. Ständig leben sie in der Spannung, ob sie nicht diese oder jene Maßnahme vernachlässigen würden. Es ist wahrscheinlich, dass die ständige Beschäftigung mit der Unversehrtheit des Körpers dem Wohlbefinden und der Gesundheit mehr schadet als nützt“ (Ebd., 63). Das in der bürgerlichen Gesellschaft erwünschte Primat der Selbstsorge geht einher mit einer Selbstaufmerksamkeit, die häufig dazu führt, dass das Individuum an Unbefangenheit einbüßt, sich ständig beobachtet und seine medizinischen Werte kontrolliert. Es avanciert dann zum massiv eigene Aufmerksamkeit absorbierenden Objekt unendlicher Hege und Pflege.

Für die Individualisierung ist die Unmittelbarkeit konstitutiv, in der die vereinzelten Einzelnen mit ihren Privatmitteln und ihrer Subjektivität gesellschaftlich verursachte Probleme irgendwie bewältigen sollen. Der Druck auf die Individuen verringert sich, wenn eine Wirtschaft infrage gestellt wird, in der die Arbeitenden ausgepowert werden und sich dann mit kompensatorischem Konsum abspeisen (lassen). Eine neue Sozialität entsteht erst, wenn eine Opposition sich entwickelt gegen die Kernspaltung der Bevölkerung zwischen Produzenten und Konsumenten sowie beiden und den von Produktion und Konsum mittelbar negativ Betroffenen. Erforderlich sind gesellschaftliche Institutionen, Formen und Strukturen, die es ermöglichen, dass die Konsumenten nicht länger desinteressiert sind an den Folgen des Arbeitens für die Arbeitenden und die Arbeitenden nicht mehr darauf angewiesen sind, unabhängig von der Bewertung des Inhalts der Produkte alles zu produzieren, das nachgefragt wird. Hauptsache, es sichert den Profit und damit indirekt auch im günstigsten Falle die Arbeitsplätze.

Der gegenwärtig populären Theorie „funktionaler Differenzierung“ zufolge gilt die Gesellschaft als eine leere Bühne, auf der die verschiedenen, vermeintlich autonomen und ihrer jeweiligen Buchführung folgenden Bereiche (Wirtschaft, Bildungswesen u. a.) äußerlich miteinander in Kontakt treten. Erst die Einhegung der funktionalen Differenzierung überwindet die babylonische Sprachverwirrung. Die verschiedenen, in ihren separaten Bereiche eingeschlossenen Spezialisten reden aneinander vorbei und finden nicht zueinander. Es gilt diejenige Arbeitsteilung einzuschränken, die die Individuen auf bereichsspezifische Sonderinteressen und -aufmerksamkeiten festlegt. „In der extremen gesellschaftlichen Arbeitsteilung, die nicht durch eine große gesellschaftliche Idee Zusammenhang und Zusammenhalt gewinnt, nimmt die Vereinzelung, Zerstückelung und Isolierung überhand“ (Fischer 1991, 260f.). Mangels einer gesellschaftlichen Mitte, die „die zentrifugalen Kräfte zu binden vermag, zieht sich der Einzelne auf sich selbst zurück, wächst […] die individuelle Einsamkeit“ und das „auf sich selbst bezogene Ich, die psychologische Selbstbespiegelung, die an der Außenwelt zweifelnde, […] sich als Mittelpunkt erlebende Persönlichkeit“ gewinnt an Bedeutung (Ebd., 255). Was nützt uns die Steigerung des outputs, wenn die dafür notwendige extreme Arbeitsteilung dem Psychosozialprodukt massiv schadet?

Die Vergesellschaftung im Sinne des guten Lebens
Das hier befürwortete Gegenteil zum Individualismus besteht nicht in der Unterordnung unter kollektive Werte, die von der Entwicklung der Sinne und Fähigkeiten, den Reflexionvermögen und der Subjektivität der Individuen absehen. Plädiert wird nicht für die kollektivistische Parole „Dein Volk oder die Nation ist alles – Du bist nichts.“ Das Allgemeine – die gesellschaftlich herrschenden Maßgaben – orientieren sich in einer Gesellschaft des guten Lebens an dem Gedeihen von Individuen, die ein gutes Leben entwickeln. Sie können das nur in dem Maße, wie sie in ihrem Bezug aufeinander nicht länger von ängstlicher Sorge um ihr Privateigentum und um ihre Position in der Konkurrenz dominiert sind.

Gesellschaftliche Bedingungen und Strukturen können ihren Beitrag zur Überwindung des Individualismus auch insofern leisten, als sie Urteilskraft ermöglichen und fördern, um herauszufinden, wie das allgemein herrschende gesellschaftliche Paradigma (das gute Leben) erst in bzw. durch die besonderen Bereiche und in ihrem Zusammenspiel Wirklichkeit erlangt. Die umsichtige Wahrnehmung konstitutiver Voraussetzungen und indirekter Effekte des eigenen Tuns bildet ein integrales Moment der anzustrebenden Lebensweise. Sie überwindet die Identitätsstiftung qua Status oder Einkommen, die Fixierung auf Fachidiotentum, die Weltlosigkeit aufgrund von Lebensstilkleinstaaterei, Besitzindividualismus und selbstwertdienlicher Selbststilisierung. Diese Momente des Individualismus wirken sich sowohl sozial als auch charakterlich negativ aus.

Der Individualismus entspricht nicht nur der Marktwirtschaft, sondern auch der „mageren“ Demokratie. Diese liberale oder repräsentative Demokratie orientiert sich eher daran, „Menschen auf sicherem Abstand zu halten als zu fruchtbarer Zusammenarbeit zu bewegen“ (Barber 1994, 33). „Das Individuum ist gegen die alten Despotien von Hierarchie, Tradition, Rang, Aberglauben und absoluter politischer Macht mit Hilfe einer Theorie des vollständig isolierten Individuums verteidigt worden, das durch abstrakte Rechte und Freiheiten definiert ist. Doch als diese Theorie in der Welt wirklicher sozialer Beziehungen praktisch umgesetzt wurde, hat sie sowohl die fruchtbaren wie die tyrannischen Bindungen aufgelöst und die Individuen nicht nur gegen Machtmissbrauch gefeit, sondern auch voneinander abgeschnitten“ (Ebd., 75f.). Der Liberalismus und die repräsentative Demokratie sind untrennbar verbunden mit jenem „Pessimismus und Zynismus, jener Negativität und Passivität“, die beide „zwar gegen naive Utopien und die Tyrannei des Idealismus immunisieren, zugleich jedoch seine vorsichtigen Hoffnungen untergraben, seine Theorie mager und fadenscheinig machen und seine Praxis der Korrosion durch Skeptizismus […] aussetzen“ (Ebd., 102).

Der Individualismus verliert an Bedeutung, wenn mit einem neuen Paradigma des guten Lebens und des Reichtums (vgl. Creydt 2017) eine „überpersönliche Mitte“ entsteht, die die Individuen verbindet (Gerson 1982, 191). Der Individualismus verringert sich in dem Maße, wie Freiheit als gesellschaftliche Freiheit verstanden wird. Die Wirtschaft bildet in einer Gesellschaft des guten Lebens den Gegenstand von demokratischer Erwägung und Beratung, Entscheidung und Gestaltung. Gefragt wird, wie die Produktion nicht nur Bedürfnisse befriedigt, sondern das jeweilige Konsumobjekt sowie die Art und Weise der Konsumtion konstituiert und damit die Bedürfnisse selbst. Dies wird zum Thema der deliberativen oder „starken Demokratie“ (Barber). In ihr tritt die Bevölkerung in eine praktische Selbst(be)ur-teilung oder Reflexion ein und wird damit zum „Mittler“ zwischen den Bedürfnissen und der Produktion. In der Antizipation der problematischen Folgen, Voraussetzungen und Implikationen z. B. der Verallgemeinerung des Autoverkehrs („autogerechte Stadt“, Verwandlung von Straßen aus Begegnungsräumen zu Transportpisten usw.) würde die Bevölkerung es vermeiden können, zur abhängigen Variable einer positiv rückgekoppelten Eigendynamik zu missraten. Letztere folgt dem Teufelskreis „Steigerung der Produktion ? Ausdehnung der Nachfrage nach den produzierten Gütern ? Ausdehnung der Produktion usf.“

Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie die Mitglieder einer vom guten Leben geprägten Gesellschaft es wertschätzen, dass sie in Institutionen und Strukturen leben können, die die Überwindung von Problemen ermöglichen, welche von den vereinzelten Einzelnen individuell nicht gelöst werden können – auch nicht mit noch so viel Privateigentum und „Ichstärke“. Die Bevölkerung betrachtet diese Institutionen und Strukturen dann als ihr Sozialeigentum, auf das sie stolz ist. Die Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen ermöglichen erst den neuen Reichtum der nachkapitalistischen Gesellschaft. Er besteht im guten Leben bzw. in der Entwicklung menschlicher Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen im sinnvollen Bezug der Menschen zueinander, auf ihre Arbeiten und Gegenstände und die Gestaltung ihrer Welt. Sinnvoll heißt: die Widersinnigkeiten wie Konkurrenz, Privateigentum u. ä. überwinden und nach öffentlicher Erwägung und Beratung demokratisch entscheiden über die Proportionen und das Gefüge der verschiedenen Arbeiten und Dienstleistungen. (Zum Begriff „sinnvoll“ vgl. a. Creydt 2021.) „Die Erzeugung des Humanen“ (bzw. der Lebensweise und -qualität) ist nicht länger „als bloßes Nebenprodukt der Erzeugung von Gegenständen überhaupt möglich“. Vielmehr kann das gute Leben „erst dann gelingen“, wenn es „zum vorrangigen Zweck“ wird – der Arbeiten, der Dienstleistungen und der Gesellschaftsgestaltung (Kilian 1971, 197, 198).

In einer modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Marktwirtschaft existiert günstigenfalls ein schwacher Konsens. Er besteht in der Anerkennung der eher einem Armenrecht entsprechenden Menschen- und Grundrechte sowie des recht abstrakten Werts der Menschenwürde (vgl. Creydt 2015, 195-201). Darüber hinaus gibt es keine die Bevölkerung einenden anspruchsvollen Grundüberzeugungen. Der Individualismus nimmt in dem Maße ab, wie eine gemeinsame Praxis zustande kommt, die als Vergrößerung der Lebensqualität aller Mitglieder der Bevölkerung von ihnen gewollt und bestimmt wird. Es handelt sich um ein „allgemeines Werk, das sich durch das Tun Aller und jeder als ihre Einheit […] erzeugt“ (Hegel 3, 325).

Literatur:
Bopp, Jörg 1987: Die Tyrannei des Körpers. In: Kursbuch, Nr. 88. Berlin
Creydt, Meinhard 2015: Der bürgerliche Materialismus und seine Gegenspieler. Interessenpolitik, Autonomie und linke Denkfallen. Hamburg
Creydt, Meinhard 2017: Die Armut des kapitalistischen Reichtums und das gute Leben. München
Creydt, Meinhard 2021: Sinnvolle Existenz als Maßstab des eigenen Lebens und der Gesellschaft. In: Telepolis 13.6.2021
Elias, Norbert 1987: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt M.
Errata-Redaktion 1979: Stunden der Wahrheit. In: Errata. Halbjahreszeitschrift für kritische Sozialität. Nr. 5
Fischer, Ernst 1991: Von Grillparzer zu Kafka. Von Canetti zu Fried. Frankfurt M.
Gerson, Menachem 1982: Die Grundlage. (Zuerst: 1934) In: Gunnar Heinsohn (Hg.): Das Kibbutz-Modell. Bestandsaufnahme einer alternativen Wirtschafts- und Lebensform nach sieben Jahrzehnten. Frankfurt M.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Hg. v. Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt M. 1970
Kilian, Hans 1971: Das enteignete Bewußtsein. Neuwied und Berlin
Lipovetsky, Gilles 1995: Narziß oder Die Leere. Hamburg
MEW: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke. Berlin (DDR) 1956 ff.
Raeithel, Arne 1983: Tätigkeit, Arbeit und Praxis. Frankfurt M.
Schimank, Uwe 2005: Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft. Wiesbaden
Simmel: Georg Simmel Gesamtausgabe. Herausgegeben von Otthein Rammstedt. Frankfurt M. 1989ff.
Williams, Raymond 1963: Culture and Society. Harmondsworth