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(erschien in: Streifzüge. Wien, Nr. 60, Frühjahr 2014)

Die kapitalistische Ökonomie nimmt auf menschliche Sinne und Fähigkeiten letztlich keine Rücksicht. Zugleich sollen die Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft sich als Subjekte auffassen und ihr eigenes Leben führen. Damit werden verschiedene Varianten einer „Interiorisierung der Exteriorität“ (Bourdieu 1979, 147) fällig. Keine Würde ohne Bürde. Die damit notwendig verbundenen Verkehrungen sind das Thema dieses Artikels.

In der Konsumsphäre erscheint dem Individuum der bürgerliche Reichtum als imposante Warensammlung. Sie gilt als eine Welt von Möglichkeiten und Gelegenheiten zur Befriedigung von Bedürfnissen. Wenn man von den Schranken seiner Zahlungsfähigkeit absieht, erscheint der Kunde als Souverän, umworben von Angeboten. Sie gleichen dann einer „reifen Frucht, welche ebenso sehr selbst entgegenkommt, als sie genommen wird“ (Hegel 3, 271). Der Konsum sorgt für eine Erhöhung des Individuums. „Die gesamte Gesellschaft ist in ihrer Nähe, wohlwollend und heilbringend. Aufmerksam. Sie denkt an Sie, persönlich. … Wie kann dabei ein Unwohlsein bestehen bleiben? Welche Undankbarkeit“ (Lefebvre 1972, 151).

In der Sphäre der Arbeit erscheinen die geforderten Leistungen als Möglichkeit, zu zeigen, was in einem steckt und wozu man fähig ist. In der subjektivierenden Herangehensweise stehen nicht die gesellschaftlich abschaffbaren oder minimierbaren Zumutungen kapitalistischer Erwerbsarbeit im Vordergrund der Aufmerksamkeit, sondern die quasi sportliche Herausforderung, die eigene Tüchtigkeit, Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. In den Hintergrund rücken die Arbeitsbelastung. Ebenso der Zwang, Arbeit zu suchen und anzunehmen, bei jenen, die nicht über andere Quellen des Lebensunterhalts verfügen. Groß geschrieben werden die Gelegenheit und das Angebot, die eigene Nützlichkeit und Brauchbarkeit demonstrieren zu können.

Im Horizont eines Gerechtigkeitsbewusstseins erscheinen die Arbeitseinkommen oder die auf Märkten erzielbaren Preise als Entsprechung zur Leistung, also als Anerkennung der Anstrengung des Subjekts. Es meint insofern, zu seinem Recht zu kommen und Gerechtigkeit walten zu sehen. Die Bewusstseinsform „Gerechtigkeit“ orientiert die Aufmerksamkeit auf die (Verteilungs-)Frage, wer Zumutungen mehr oder weniger als andere ausgesetzt ist, nicht auf die Frage, was gesellschaftliche Ursachen für diese Zumutungen sind und wie sie sich überwinden lassen.

Das Individuum übernimmt für sich selbst „Verantwortung“. Sein Vertrauen gilt mittlerweile gerade in ökonomisch turbulenten Zeiten primär weder der Ökonomie noch dem Betrieb, sondern den eigenen Kompetenzen. Meinungsumfragen zeigen regelmäßig düstere Ansichten über die allgemeine Lage und vergleichsweise optimistische Bewertungen der persönlichen Situation. Das moderne bürgerliche Subjekt trainiert die „Coolness“, sich nur auf sich selbst verlassen zu können. Im Zentrum einer „qualitativen Befragung von Vertrauensleuten, Betriebs- und Personalräten aus Produktion und Dienstleistung“ (Detje, Kawalec, Menz u.a. 2013, 78) steht „das Selbstbewusstsein, mit den eigenen Kompetenzen auch andernorts unterkommen zu können. Sicherheit geben auch die Familie, soziale Netzwerke und auch Ersparnisse. Und wenn es hart auf hart kommen sollte, ist man immer noch in der Lage, den eigenen Lebensstil veränderten Verhältnissen anzupassen, im Zweifelsfall Genügsamkeit an den Tag zu legen“ (Ebd., 81).

Umgekehrte Teleologie

Im pragmatischen Verständnis des Geschäfts- und Erwerbslebens erscheinen dessen Momente (Geld, Lohnarbeit, „Arbeitsplatz“ u. a.) als Mittel der Individuen. Die dem Nutzen gemäß Handelnden „bedienen sich … der Verhältnisse, in die sie als Dienende eintreten. Sie benutzen die Bedingungen, die ihnen fremd gegenübertreten. Ihre Anpassung ist hier eine Funktion ihres partikularen Interessenkalküls, ihre Heteronomie das Medium ihrer Disposition als autonome Utilitaristen, ihre Unterwerfung das Instrument zur Verwirklichung ihrer Souveränität als nutzenmaximierender Subjekte. In dieser Hinsicht synthetisiert die utilitaristische Praxis den Zwang zur Anpassung mit der Souveränität einer Funktionalisierung aller Umweltbezüge für privatisierte Interessen und markiert somit eine spezifische Form der Verschränkung von Heteronomie und Autonomie“ (Prodoehl 1983, 131). Wir haben es hier mit „dem Elend jenes sog. Realismus“ zu tun, „der, indem er die Verhältnisse für sich beansprucht, ihnen verfällt“ (Werner Hofmann).

Die Selbstauffassung der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft als ihr Leben führende Subjekte verdankt sich einer Verkehrung: Die Form des freien Entschlusses wird einem von ihr materialiter unterschiedenen Prozess und Inhalt übergestülpt. „Nicht nur durch seine Pläne lässt sich der Alltagsmensch lenken. In der Mehrheit der Fälle muss er sich der Logik der Dinge überlassen, seine Pläne zeitweilig oder endgültig aufgeben, er muss sich von den Ereignissen treiben lassen. Möglicherweise kann er dem von ihm unabhängig sich dahinwälzenden Strom der Ereignisse etwas hinzufügen, während er selber letzten Endes ‚Mitgestalter’ dieser ihm entgegenwirkenden Tendenz ist. Dieses passive ‚Machen’ verfügt über eine eigenartige ‚Reflexivität’. Der Mensch hat das Gefühl, als würde das, was er eben macht, sein eigen, und er fasst das Endergebnis, das sich aus den Dingen ergibt, nachträglich als sein eigenes, gewolltes Ziel auf. … In diesem Prozess stellt der Mensch nachträglich die Ziele eines früher zustandegekommenen Ergebnisses bereit. Seine Mitwirkung ist ein setzender Akt, wodurch gleichzeitig Ziele untergeschoben werden. Das durch Praxis gelenkte Bewusstsein arbeitet also mit einer umgekehrten Teleologie. Nicht die im Vornhinein festgelegten Ziele werden verwirklicht, sondern der Prozess des ‚Machens’ bringt den Zweck hervor. Diese umgekehrte Reihenfolge funktioniert freilich meist unbewusst. Die Selbsttäuschung, das System der spontanen Ziele ist das falsche Bewusstsein der Notwendigkeit, so dass der Mensch als seines erkennen kann, was er unter dem Druck äußeren Zwanges vollbringt“ (Almási 1977, 207).

Die Zumutungen der kapitalistischen Erwerbsarbeit erscheinen als Durststrecke, die zu bewältigen ist um eines vom Individuum angestrebten Ziels willen. Die anderen Imperativen gehorchende kapitalistische Erwerbsarbeit wird als den Individuen letzten Endes dienlich verstanden, als Schaffung von Arbeitsplätzen für die Arbeitenden. Die abverlangten Leistungen gelten aufgrund der durch das Arbeitsentgelt möglichen Konsumchancen als eine Veranstaltung, in der die Arbeitenden letztlich auf ihre Kosten kommen.

Die kapitalistische Erwerbsarbeit versuchen die Arbeitenden – soweit irgend möglich – als Chance aufzufassen, bestimmte konkrete Fähigkeiten, Sinne und subjektive Interessen unterzubringen. Um die Arbeit aushalten und durchstehen zu können, bedarf es oft einer Uminterpretation. Nebenattribute der jeweiligen Erwerbsarbeit werden nun für den Arbeitenden wichtig, damit er an ihr subjektiv ein Interesse findet. „Die Besonderung der Arbeit, die gesellschaftliche Auseinanderlegung derselben in eine Totalität besonderer Zweige (erscheint) auf seiten des Individuums so, dass seine eigene geistige und natürliche Besonderheit sich zugleich die Gestalt einer gesellschaftlichen Besonderheit gibt“ (Marx 1974, 911).

Genüsse, die dem Individuum nötig sind, insofern sie ihm erlauben, die Belastungen und Zumutungen durchzustehen, (miss-)versteht es als Ziel, für das sich jene Belastungen und Zumutungen schlussendlich doch lohnen. Die Arbeitenden müssen sich selbst für die Erbringung der Arbeitsleistung motivieren und auf irgendeine Weise einen subjektiven Zweck finden und als individuell wesentlich empfinden, für den sie die Arbeit erbringen. Wo das Aversive an der Arbeit dominiert, heißt Subjektivierung nun, sich mit der Arbeit Geld dafür zu verschaffen, die Arbeit vergessen zu können. Der Arbeiter „bedarf dringend einer Aufheiterung, er muss etwas haben, das ihm die Mühe der Mühe wert, die Aussicht auf den nächsten sauren Tag erträglich macht“ (MEW 2, 331). Engels? Thema an dieser Stelle ist der Alkohol.

Fremdbeschuldigung und Selbstbezichtigung

In dem Maße, wie all diese Subjektivierung dem Individuum nicht oder nicht ausreichend gelingt, betätigt es sich als Subjekt, das andere als Schuldige ausmacht. Sie seien dafür verantwortlich, dass es nicht zeigen kann, was in ihm steckt, und dafür, dass das ihm gerechterweise Zukommende nicht zufließt (sondern jenen, die es sich nicht „verdient“ haben). Das sich so betroffen fühlende Individuum kommt in volle Fahrt unter Subjektsegeln, indem es Verstöße gegen die Gerechtigkeit und unlauteren Wettbewerb beklagt, aufgrund derer es sich nicht als Nutznießer dessen verstehen kann, was ihm – wenn alles gerecht ablaufen würde – zustünde.

Nicht mehr die spezifischen Ursachen für die kapitalistischen Strukturen des Geschäfts- und Erwerbslebens erscheinen, sondern eine unspezifische Außenwelt. In der Vorstellung von ihr vermischen sich so disparate Momente wie das schlechte Wetter, Krankheiten und gesellschaftsformationsspezifische Phänomene. Diese „Außenwelt“ erscheint vom Standpunkt der subjektiven Innenwelt als ein Konglomerat von Problemen. Das Individuum avanciert zum tüchtigen Subjekt, wenn es sich auf die Zumutungen der Welt „realistisch“ einstellt und die Maxime „Es gibt kein schlechtes Wetter, nur unangemessene Kleidung“ ausweitet.

Die Versubjektivierung umfasst einen Umgang mit der „Außenwelt“, der das Sich-Einfinden ins Gegebene einerseits als Tribut auffasst, den man der Realität nun einmal zu zollen hat. Andererseits gilt dieser Tribut als Bedingung für die Existenz der „trotz allem“ möglichen Subjektivität. Als großes „Trotzdem“ nimmt sie die Außenwelt als Abhebungshintergrund für das eigene Gelingen und als Ansporn, an positiver Aufmerksamkeit für sich selbst nicht nachzulassen. Man hat es „von außen“ schwer genug. Da heißt es, subjektive Gegenkräfte zu mobilisieren, nicht gegen irgend etwas in der Außenwelt, sondern dafür, es mit ihr aushalten zu können und an positiver Selbstsorge es nicht fehlen zu lassen. Zu den anderen Varianten, sich als Subjekt aufzufassen, gesellt sich das defensive Bemühen des Individuums, sich selbst als Subjekt zu bewähren. Immerhin lässt es in seiner Aufmerksamkeit für sich, in seiner Selbstfürsorge und in seinem Beistand gegenüber sich selbst nicht nach. All dies ermöglicht, den objektiv deprimierenden Belastungen und Anforderungen gegenüber wenigstens dergestalt Subjekt zu sein, dass man sich von ihnen nicht „unterkriegen“ lässt.

Die positive Assimilation der eigenen individuellen Existenz in der Welt fasst sich nach Möglichkeit zusammen in einem individuellen Gesamtkunstwerk, das sich Charakter oder Lebensstil nennt. Die Subjektivierung beinhaltet hier die imaginäre Transformation der Gegensätze und Schranken, in denen das Individuum in der Welt steht, zu Grenzen, die mit denjenigen seines Charakters identisch sein sollen. Was man in der Welt ist, möchte man in dieser Form der Subjektivierung als zu seinem Charakter oder Lebensstil passend oder ihm entsprechend, als dessen Ausdruck oder Attribut sich zurechtlegen. Die Beschränkung gilt dann als Kompetenz und Zuständigkeit.

Ein erstes Problem ergibt sich, insoweit das Individuum keinen prägnanten Charakter zu entwickeln vermag, es ihm an persönlicher Assimilation des Gegebenen mangelt und es „farblos“ bleibt. Das Individuum vermag dann im Extrem so recht niemand anderen und auch sich selbst nicht von seiner Persönlichkeit zu überzeugen. Ohnehin ist das, was dem einen Individuum recht ist, dem anderen Individuum billig. Die Eindrehung in die jeweilige Partikularität und deren Ausstellung als Charakter trifft auf andere ebenso zustande gekommene, aber inhaltlich anders ausfallende Charaktere. Daraus folgt ein zweites Problem des Individuums, das die Subjektivitätsform „Charakter“ betrifft. Insofern jedem Charakter qua Selbstabrundung ein Moment von Allgemeinheit oder ein Überschuss über die Partikularität eigen ist, fällt es nicht schwer, wenigstens am jeweils anderen Charakter das Stilisierte und Angemaßte mit mehr oder minder Scharfsinn aufzuspüren. Ähnlich bei der Selbstbescheidung. Was dem einen als realistische Bescheidenheit und als gekonnter Minimalismus, der aus wenigem viel macht, erscheint, gilt dem anderen als Armutsverwaltung und deren Beschönigung. Was dem einen als Arbeitsamkeit erscheint und als positiver Charakterzug gilt, mutet dem anderen als Strebertum an. So ist für unendliche Zerwürfnisse zwischen den verschiedenen Charakteren gesorgt.

Bleibt trotz aller subjektiven Aufbereitung und kreativen Interpretation die eigene Existenz frustrierend, so muss dies keine Infragestellung der Subjektivierung nach sich ziehen, sondern kann gerade auf ihrer Grundlage zu einer neuen Stufe der Subjektivierung motivieren. Man muss das Ziel des Charakters und des Lebensstils nicht fallen lassen, wenn die Bemühungen in dieser Perspektive subjektiv nicht befriedigen, sondern kann aus Ursachen, die außerhalb des Bereichs der eigenen Einwirkungsmöglichkeiten liegen, aber die eigene Person betreffen, sich an der Entfaltung des optimalen Charakters gehindert sehen.

Der Umgang mit sich

Ein neues Feld eröffnet sich der Subjektivität im Umgang mit den eigenen Charakterdefiziten und mit dem eigenen Mangel an Selbstbewusstsein. Für sie könne man nichts. Sie seien nicht durch bloße Anstrengung und guten Willen zu überwinden. Vielmehr sehe man sich selbst und vor allem andere zu einem guten Umgang mit diesen Grenzen aufgerufen. Oder zu langwieriger therapeutischer Arbeit. Die die eigene Psyche betreffenden Mängel werden dafür verantwortlich gemacht, dass das Individuum nicht so könne, wie es wolle und wie es ihm eigentlich entspreche.

Das Ideal des Subjekts, das Individuum möge mit allem umgehen und alles verdauen können, und die Annahme, dies bilde die hinreichende Bedingung für seinen Erfolg, dieses Ideal und diese Annahme kommen nun ex negativo ins Spiel. Das Individuum teilt sich in zwei Gestalten – das defiziente Sorgenkind und das Subjekt, das sich zu dessen Problemen verhält. Subjekt sein heißt nun, sich um seine Probleme, Defizite oder Symptome zu kümmern. Der Leidende nimmt sich dazu Zeit und verlangt seiner sozialen Umwelt Rücksicht und Unterstützung ab. Hier bietet sich vielerlei Anlass für Spekulationen, für Ärger und für Vorwürfe des Inhalts, wie gut man Subjekt sein könne bei angemessener Rücksicht und Hilfe durch andere. Umgekehrt wacht „die Gesellschaft“ darüber, ob der Leidende die Auszeit, die zu nehmen er sich berechtigt sieht, auch recht „produktiv“ nutzt, um an „seinen“ Problemen zu arbeiten.

Zur Subjektivierung gehört die Interpretation der „Defizite“ der eigenen Subjektivität als Resultat mangelnder Ausstattung des Individuums mit Eltern, die es an einem für das spezielle Subjekt und seinen Charakter förderlichen emotionalen und geistigen Biotop hatten fehlen lassen. In der Fahndung nach entsprechendem elterlichen Fehlverhalten und Defiziten geht es immer um einzelne Individuen, deren Handeln oder Nichthandeln mit allgemeinen Strukturen der Gesellschaft wenig zu tun habe. Die Subjektivierung wird zur Substantivierung. Die Mängel der individuellen Ausstattung führen nur insofern über die Grenzen des Individuums hinaus, als die Erklärung andere Individuen in den Blick nimmt – die Eltern. Deren problematisches Handeln, das verantwortlich sei für die heutige eigene Misere, missrät zu etwas, das entweder zu einer unendlichen Weitergabe des Staffelstabes der Ursache (von den Eltern auf die Großeltern, Urgroßeltern usf.) führt oder sich letztlich aus sich selbst heraus erklärt. Und das meint Substanz: Sie führt alles auf sich zurück und ist Ursache ihrer selbst.

In Schuld- und Schamgefühlen hält das Individuum daran fest, dass seine Existenz in der Welt seinen defizienten Eigenschaften als Subjekt entspricht und die materialiter beklagenswerten Ergebnisse nichts über die gesellschaftlichen Verhältnisse aussagen, sondern über individuelles Versagen. Dem Druck, ein starkes Subjekt zu sein, dem das Individuum unterliegt, kann es auch bei realiter schwachen Subjektkompetenzen nachkommen. Allerdings dann so, dass es nicht ein reales Vermögen ins Spiel bringt. Vielmehr kehrt das Subjekt nun die Vorstellung vom Subjekt gegen sich selbst. So kann es sich wenigstens ex negativo in der (Selbst-)Anklage als Subjekt fühlen. „In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Teil von sich als Gott an und hat dazu nötig, den übrigen Teil zu diabolisieren“ (Nietzsche I, 537). Es „übt der Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht gibt“ (Ebd., 542). Wir haben es mit „dem Triumph des Asketen über sich selber“ zu tun und mit seinem „dabei nach innen gewendeten Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet“ (Ebd.,1086).

Seinen Schuld- und Schamgefühlen sowie seinen Versagens- und Versäumnisängsten versucht das Individuum als Subjekt durch eine Uminterpretation seiner Wirklichkeit zu entgehen. Bei gehörigen Anstrengungen zur imaginären Transformation des dem Subjekt gegenüber Heteronomen in die ebenso eigensinnige wie selbstwertdienliche Vorstellung des Individuums vermag es sein Selbstbild, ein Subjekt zu sein, vorerst noch zu retten. Es legt sich die objektive Realität nun nicht mehr unter intersubjektiven, sondern unter sehr subjektiven Kriterien als Entsprechung zu seinen Vorstellungen zurecht. Diese Abweichung von gesellschaftlich gängigen Auffassungen kann zunächst die partikulare und idiosynkratische Manier bilden, in der das jeweilige Individuum die Anforderungen an es und seinen vergleichsweise problematischen Stand in der Konkurrenz sich so übersetzt und zueigen macht, dass es kein Hindernis für das Mittun findet. Zugleich ist mit dieser Abweichung von intersubjektiv geteilten Interpretationen immer die Möglichkeit einer Trennung oder gar Entgegensetzung zwischen dem Selbstbewusstsein und dem realistischen Bewusstsein von der Wirklichkeit angelegt. Das Extrem der Subjektivierung bildet jene Eindrehung des Selbstbewusstsein und des individuellen Bewusstseins, die es nicht dabei bewenden lässt, die Realität durch ein anderes Bewusstsein von ihr anzuerkennen. Die beliebte Manier des wirklichen oder vermeintlichen Nonkonformisten, sich seine problematische Lage dadurch schönzureden, dass er, „wenn er auch nicht frei sei, doch durch seine unbestreitbare Eigenheit für alle Leiden entschädigt werde“ (MEW 3, 296), führt unter besonderen Bedingungen auf eine abschüssige Bahn. Im psychisch problematischen „Fall“ vermag das Individuum nur Subjekt zu sein, indem es die Kohärenz seines individuellen Bewusstseins auf Kosten der Teilhabe am intersubjektiv verständlichen Austausch gewinnt. Das nun hauptseitig partikular-idiosynkratische Bewusstsein und Selbstbewusstsein kann sich von dem gesellschaftlich vorfindlichen, allgemeine Verkehrsfähigkeit erlaubenden Bewusstsein objektiv nur in engen Grenzen emanzipieren. In der psychisch kranken Subjektivität erscheint das störende Sich-geltendmachen des allgemein verbindlichen Bewusstseins im privaten Bewusstsein als Resultat mangelnder subjektiver Anstrengung. Diese Interpretation verleitet zu gesteigertem Aufwand an Eindrehung der nun sehr eigenen Subjektivität in sich. Der Wahn bildet einen Selbstheilungsversuch, der Entlastung von der Störung des verwilderten Subjektivismus durch die Außenwelt verspricht – um den Preis der weiteren Entwirklichung des Individuums.

Literatur:

Almási, Miklós 1977: Die Phänomenologie des Scheins. Die Seinsweise der gesellschaftlichen Scheinformen. Budapest
Bourdieu, Pierre 1979: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankf. M.
Detje, Richard; Kawalec, Sandra; Menz, Wolfgang u. a. 2013: „Wir können uns wehren – wir tun es nicht“: Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat. In: Zeitschrift Marxistische Erneuerung, H. 95. Frankf. M.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Werke. Hg. v. Moldenhauer, Eva; Michel, Karl Markus. Frankf. M. 1970
Lefebvre, Henri 1972: Das Alltagsleben in der modernen Welt. Frankf. M.
Marx, Karl 1974: Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. Berlin DDR
Nietzsche, Friedrich: Werke in drei Bänden. Ed. Schlechta. Darmstadt 1997
Prodoehl, Hans Gerd 1983: Theorie des Alltags. Berlin