(in Telepolis 31.7. 2025)
Früher war das Reisen wenigen Personen vorbehalten. Inzwischen erscheint der Tourismus als normal. Das Reisen ist sowohl weit verbreitet als auch zu einer Norm geworden. Gewiss gibt es ökologische Vorbehalte und Verständnis für Einheimische, die sich gegen „overtourism” wehren. Sicher rümpfen viele die Nase über den Massentourismus und meinen „Die Touristen sind immer die anderen.” Die Wertzuschreibung, Reisen erhöhe den eigenen subjektiven Reichtum, bleibt davon jedoch unangefochten.
Konkurrenz um Geltung
Beim Tourismus spielt keine kleine Rolle, dass die Beteiligten mit ihrem Aufenthalt in einem fremden Land etwas hermachen wollen. Es erscheint für das eigene Prestige förderlicher mitzuteilen, man habe die Niagarafälle gesehen als das Nebelhorn bei Oberstdorf. Mit dem weit in die Ferne ausgreifenden Reisetrip, den Zeitgenossen in kurze Ferien hineinquetschen, nur, um im nächsten knapp bemessenen Urlaub eine nächste Fernreise zu unternehmen, scheinen sie häufig in der Geltungskonkurrenz punkten zu wollen. Eindruck soll dann eine Reise in ein Land bereits deshalb machen, weil andere dort (noch) nicht waren oder zumindest vergleichsweise selten. Über die Qualität des Urlaubs sagt dieses Kriterium rein gar nichts aus.
Auch die überwundene Strecke zwischen Wohnort und Urlaubsziel eignet sich wohl für äußerliche Vergleiche, bedeutet aber nichts für das, was das betroffene Individuum wahrnimmt. Alfred Döblin bemerkte: „Ich kenne hundert Leute, die sind in der halben Welt gewesen und haben nie mit einem Vergrößerungsglas eine Blume, einen Stein angesehen. Das würde sie mehr als eine Reise verblüffen und entzücken. Sie laufen wild in Italien und Äthiopien herum, gucken sich alles an, immer durch ein Gitter, und was tun sie für sich, um sich, zu Haus? Pflegen sich nicht, ehren sich nicht, lieben sich nicht. Das wäre köstlicher und gesünder. Sie würden langsamer werden. Und schwerfälliger.“
Die Abwechslung
Die Abwechslung hat bei vielen Touristen nicht nur einen hohen, sondern merkwürdigen Stellenwert. Zugrunde liegt anscheinend die Vorstellung, dass „das nächste Land, das nächste Beefsteak, der nächste Roman oder die nächste Frau anders sein wird als alle vorhergegangenen“ (Hans Christoph Buch). Gewiss lässt sich verstehen, dass jemand nicht immer an denselben Ort reist. Darauf folgt aber nicht das Plädoyer für das einfache Gegenteil. Mit der Jagd auf das immer wieder vermeintlich Neue beraubt man sich der Erfahrungen, die erst dann entstehen können, wenn man sich mit einer Gegend wenigstens ein wenig mehr vertraut macht.
Wer wie viele Touristen ständig etwas anderes sehen will, legt sich keine Rechenschaft davon ab, wie „die Fülle disparater Eindrücke“ und das „Tempo dieser Einströmung“ – „ein Prestissimo“ – dafür sorgen, dass „die Eindrücke sich auswischen” (Friedrich Nietzsche). Bereits um die vorletzte Jahrhundertwende stellte Georg Simmel in Frage, ob „das fortwährende ‚Angeregtsein’” sowie „das bloße Kennen oder Genießen von tausend Dingen“ das Individuum wirklich weiter entwickele. Die Breite und Fülle der Angebote werden problematisch, wenn aus ihnen, wie es Philipp Lersch formuliert, ein „impressionistischer, flachatmiger Stil des Erlebens“ resultiert, „der auf raschen Wechsel der Eindrücke abgestimmt“ ist. Die innere Verarbeitung kommt zu kurz, wenn das eine Angebot das andere ablöst, noch ehe der Rezipient Zeit hatte, es nachklingen zu lassen und bei ihm verweilen zu können. Die nach Abwechslung Bedürftigen wollen wie Jongleure möglichst viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten. Jeden einzelnen Ball können sie nur ganz kurz berühren.
Das Primat des Visuellen
Auffällig ist bei der touristischen Art des Reisens das Primat des Visuellen. Die Frage, die die heimkehrenden Urlauber erwartet, lautet: „Was hast Du gesehen?” Fühlen, so sagte Agnes Heller, heißt, in etwas involviert zu sein. Das kann eine Person erst dadurch erreichen, dass sie sich handelnd mit einer Situation auseinander setzt. Aber welche Herausforderung stellt sich einem touristisch Reisenden? Er muss bei Touren im Land die richtige Bushaltestelle finden, das Ticket lösen und sich gegebenenfalls nach dem Weg erkundigen. Dafür reichen ein minimaler Wortschatz und Gesten. Der diesbezügliche Aufwand unterscheidet sich kaum, ob es sich nun um einen Urlaub in Mittelamerika handelt oder in der Türkei. Im Horizont des touristischen Reisens ist eine eingehendere Auseinandersetzung mit Land und Leuten nicht vorgesehen. Es bleibt bei der Koexistenz zwischen der „Überfüllung des Vorstellungsraumes” und der gleichzeitiger „Verarmung des Handlungsumkreis” (Hans Freyer).
Die Welt in Form von Bildern wahrzunehmen – das erscheint gegenwärtig als so selbstverständlich, dass das Merk-Würdige daran erst gar nicht auffällt. Günther Anders hat angesichts der Bilderflut nicht nur der Medien einmal gesagt, das, was uns nur „als Bild” erscheint, sei „halb an- und halb abwesend, also phantomhaft”. Was nur auf diese Weise „vernehmbar” sei, verwandele uns zu „Lauschern und Voyeurs”. Für die Reisen der allermeisten Touristen gilt: „Die Augen werden satt, aber das Herz bleibt leer, Vergnügungen Ihrer Neugierde, so viel Sie wünschen, Freuden feiner Geselligkeit keine“ (Charles des Brosses).
Wesensschau
Für die allermeisten Touristen erscheint etwas weniger beeindruckend zu sein, wenn sie sich ihm erst nach und nach annähern müssten. Sie möchten von etwas in Beschlag genommen oder fasziniert werden. Unmittelbar und ereignishaft wollen sie von Imposantem überrumpelt und überwältigt sein. Ihnen soll sich schlagartig enthüllen, was so etwas wie das Herzstück oder den Kern der von ihnen jeweils besuchten Gegend ausmache. Vom „Wesentlichen” wird erwartet, es könne dem Betrachter unversehens aufgehen, als ob sich ein Geheimnis urplötzlich lichte und dadurch den Augenzeugen zum Eingeweihten erhebt. Dasjenige, von dem Touristen ersehnen, es möge bei ihnen effektvoll und intensiv einschlagen, kann dies nur, weil der Resonanzraum bei den solcherart Ereignisbedürftigen eng bleibt. Wäre dieser Raum weit, so müsste und könnte dasjenige, das ihm begegnet, sich erst im fortgesetzten Kontakt langsam ergeben. Wer dazu bereit und fähig wäre, würde sich nicht an der Vorstellung vom dramatischen Aufblitzen des Ereignisses oder der markanten Enthüllung des Wesens orientieren. Der Schweizer Psychiater und Philosoph Roland Kuhn stellt zu Recht fest: „Immer ist das Rasche auch das Einförmige, welches sogleich am Ende ist, eben an der nahen Grenze der Enge; das Vielgestal¬tige braucht Zeit sich zu entwickeln und Raum, sich mannigfaltig in Beziehung zu setzen.”
Die entsprechende Begegnung und umsichtige Kontaktaufnahme unterscheidet sich ums Ganze von der Jagd nach spotlightförmigen Wahrnehmungen und eventhaft Beeindruckendem. Weit verbreitet bei Touristen ist die Erwartungshaltung „Ich kam, sah und mir formte sich das, was mir begegnete, zur ebenso markanten und auf ewig memorierbaren Gestalt”. Es handelt sich um das psychische Pendant zum fotographischen Schnappschuss. Wer diesem Drang zur Prägnanz nicht folgt, könnte das ihm Begegnende aus mehr Perspektiven wahrnehmen und die verschiedenen Zugänge nach und nach integrieren.
Umgekehrt verhält es sich mit den Eindrücken, auf die es viele Touristen absehen. Sie imponieren ihnen in dem Maße, wie sie dem Phänomen fern bleiben. Diese Eindrücke sollen die paradoxe Erwartung erfüllen, eine im wahrsten Sinne des Wortes wunderbare subjektive Nähe zu dem zu gewinnen, zu dem es objektiv an Nähe fehlt. Die Freude darüber, die Gunst dieses Wunders erleben zu dürfen, erinnert an den Glaubenden und seinen Kontakt zu Gott. Die subjektive Aufnahmebereitschaft des Gläubigen bildet die notwendige Bedingung oder die Mindestvoraussetzung. Ohne sie kann es nicht zum Gefühl einer Verbindung zu Gott kommen. Erst aber Gottes unverfügbares Sprechen zum Glaubenden schafft diese Verbindung und bildet die für ihr Zustandekommen maßgebliche Bedingung.
Was sich bei der touristischen Wesensschau faktisch ereignet, ist ein Abgleichen dessen, was man wahrnimmt mit den ersehnten Klischees. Viele Touristen sind zufrieden, wenn sie die „aus Literatur, Kunst, kollektiver Phantasie bekannten Bilder in der materiellen Realität” wiederentdecken. Ihr Bild der Toskana setzt sich aus „Zypressen, Kathedralen, Weinkellern, mittelalterlichen Dörfern zusammen. Viele Aspekte der Realität werden in diesen Vorstellungen ausgeblendet; die Hausfrau aus Arezzo oder der Student in Siena sehen ihre Umgebung wesentlich anders. Die Eindrücke des touristischen Erlebens oszillieren in eigentümlicher Weise zwischen den Bereichen, die wir als real bzw. fiktiv bezeichnen” (Christoph Hennig).
Umberto Eco stellte über den Romancier Alessandro Manzoni fest: „Er erschafft seine fiktive Welt, indem er sich Aspekte der wirklichen Welt ausleiht.” Ähnlich verfahren Touristen: Ganz selektiv entnehmen sie bestimmte Elemente der jeweiligen Realität und setzen sie neu zusammen. Diese Elemente werden verfremdet und entwirklicht sowie einem anderen Sinnhorizont einverleibt. Sie sind nicht für sich relevant, sondern als Kulisse und Symbol für das, was der Tourist in sie hineinsieht, um es dann durch sie quasi beglaubigt für wahr nehmen zu können in seiner Wahrnehmung.
Hermann Hesse bemerkte schon 1904: „Die Leute, welchen von Florenz nichts als der Turm des palazzo vecchio und die Domkuppel in der Erinnerung haften blieb, werden auch vom Schliersee nur den Umriss des Wendelsteins und einen Dunst von Seebläue mitnehmen und nach wenigen Wochen an echtem Seelenbesitz so arm sein wie zuvor. Die Natur wirft sich einem so wenig vor die Füße wie Kultur und Kunst.”
Die gängige Kritik
Am Massentourismus wird gegenwärtig vor allem beanstandet, Fernflüge seien ökologisch desaströs. Das klimaverträgliche Jahresbudget eines Menschen liegt laut Umweltbundesamt unter 1.000 kg CO2. Der Flug eines Passagiers von München nach New York verursacht 3.856 kg CO2. (https://utopia.de/ratgeber/co2-ausstoss-beim-flugzeug-so-viel-emissionen-verursachen-flugreisen_152421/) Das Geld der Touristen fließt häufig vor allem in die Kassen von Reisekonzernen bzw. Hotelketten. Die Ausgaben der Touristen im Urlaub fördern also die Wirtschaft der besuchten Länder nur sehr beschränkt. Wenn vom „Overtourism” die Rede ist, geht es unter anderem um die leidvolle Erfahrung, dass Wohnungseigentümer in touristisch übermäßig beliebten Orten sehr viel höhere Einkünfte erzielen, wenn sie an Touristen als an Einheimische vermieten. Wie skizziert, ist am Tourismus aber auch etwas ganz anderes befremdlich.
Der Kontrasteffekt
Man muss nicht so weit gehen wie Malcolm Lowry. Er bemerkte, „das Reisen ist eine Neurose, wie sollte man da erwarten, dass es einen nicht zum Neurotiker machte?“ Um ein rein psychologisches Problem handelt es sich beim Tourismus nicht, um ein Symptom aber schon. Der Alltag vieler Menschen scheint so verplant und von Erledigungen angefüllt zu sein, dass der einfache Kontrast dazu schon als reizvoll angesehen wird. Im Urlaub gilt es keine to-do-Listen abzuarbeiten und Spontaneität bekommt einen größeren Raum. Der Urlauber steckt in keinem strengen Zeitkorsett und kann nach eigenem Belieben die Mahlzeiten verschieben und die Nacht zum Tag machen, wenn ihm danach ist. Bereits das reicht schon, um den Urlaub als attraktiv zu erleben. So gewinnt er einen großen Teil seiner Anziehungskraft bereits dadurch, dass er etwas als unangenehm Erlebtes wenigstens zeitweise außer Kraft setzt.
Die Überbietung
Vielen Touristen geht es um das Ausspannen. Sie wollen unterhaltsame und ablenkende Impressionen sammeln. Davon unterscheidet sich der Erwartungshorizont von passionierten oder inbrünstigen Touristen. Sie meinen, mit ihrem Reisen eine Selbsterfüllung zu erreichen, die den Kontakt zu etwas ebenso Außeralltäglichem wie Transzendentem eröffnet. Sie wollen im Reisen zu so etwas wie dem Sonntag ihrer Existenz gelangen. Sie reden vom Urlaub nicht selten so wie religiöse Menschen. Den einen macht der Urlaub das Leben wertvoll, die anderen finden ein ganz zentrales Moment ihres Lebens in ihrem Kontakt zu Gott. Beide möchten sich ihr Heiligtum bewahren.
Die intensiv Glaubenden und diejenigen, die das emphatische touristische Erlebnis suchen, möchten in Fühlung gelangen zu etwas Unbedingtem, Vollkommenem und Absolutem. Insofern orientieren sich beide Gruppen an etwas, das den Alltag überbietet und zugleich mit der Erwartung einer überkompensatorischen Wunscherfüllung entwertet. Gewiss schützen sich religiöse ebenso wie tourismusgläubige Menschen vor der Enttäuschung ihrer hohen Erwartung durch deren Immunisierung. Zum Wesentlichen Kontakt aufzunehmen könne nur andeutungsweise und vorscheinhaft gelingen.
Diese Relativierung ändert nichts an der Leitvorstellung, derzufolge sich die eigentlichen und wesentlichen Freuden jenseits des Alltags finden. Diese Überzeugung vermindert die Bereitschaft, sich in der profanen gesellschaftlichen Wirklichkeit für deren grundlegende Umgestaltung zu engagieren. Der Tourismus gehört zu einer Kultur der Überkompensation. Sie versteht sich nicht als kompensatorische Nothilfe oder als Provisorium, solange Probleme nicht überwunden werden können. Diese Kultur verheißt und suggeriert den Zugang zu einen Reichtum, der zwar in die gesellschaftliche Welt hineinzustrahlen vermöge, aber nicht von ihr sei. Zur Vorstellung von diesem sehr subjektiven Reichtum gehört es, sich reicher fühlen zu wollen, als man es in jeder gesellschaftlichen Wirklichkeit sein kann.