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Eine Antwort auf den Artikel „Warum wir eine Elternbefreiungsbewegung brauchen“ von Jennie Bristow in Novo H. 98 (Januar 2009)

(Eine Kurzfassung dieses Textes erschien in: Novo H. 100, Mai 2009, S. 81.)

Die Aussage von Jennie Bristow, gegenwärtig seien „kinderlose Frauen ihren männlichen Altersgenossen in jeder Hinsicht, praktisch und politisch, gleichgestellt“ (S. 32), sieht erstens ab von der Einkommensungleichheit zwischen Mann und Frau, die Frauen betrifft. Die die Lohn- und Gehaltsunterschiede beeinflussenden Momente liegen zunächst in verschiedenen Branchen, in denen Männer und Frauen tätig sind, in der mit Kinderbetreuung einhergehenden häufigeren Teilzeitarbeit, in längeren Auszeiten, in „Karrierepausen“ und daraus resultierender geringerer Wahrscheinlichkeit, in hohe Hierarchiestufen aufzusteigen. Werden selbst aber auch diese Momente herausgerechnet, so verbleibt eine Lohn- und Gehaltsdifferenz von 12 % (Hinz, Gartner 2005, Frank-Bosch 2002). „Männer und Frauen erhalten damit ungeachtet vergleichbarer Arbeit einen ungleichen Lohn. Woran mag das liegen? Wir wissen es nicht. … Es ist festzuhalten, dass es in Deutschland bei der Diskussion um geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede heute weniger um direkte oder unmittelbare Lohndiskriminierung von Frauen geht. ‚Es geht vielmehr um viele, oft versteckte Ursachen, die als indirekte bzw. mittelbare Entgeltdiskriminierung … bezeichnet werden. Diese mittelbare Diskriminierung ist in der Realität viel schwerer nachzuweisen’ (Bothfeld u. a., 2005, 246)“ (Allmendinger u. a. 2008, 24).

Die These von Bristow übergeht neben der Ungleichstellung, die die Frauen betrifft, zweitens auch jene Ungleichheit, die die Männer erleiden. Das Geschlechterverhältnis hat nicht nur zu tun mit einer tendenziellen Externalisierung sorgender, betreuender und erziehender (Care-)Tätigkeiten aus dem Erwerbs- und Geschäftsleben, sondern auch mit einer unterschiedlichen Beanspruchung von Männern und Frauen in ihm. Feministinnen und Feministen neigen dazu, in der geschlechtsspezifischen Arbeitsmarktsegmentierung allein Nachteile der Frauen aufzuspüren. Zu Recht kritisiert Bristow den „Opferfeminismus“, nennt dann aber nicht die Argumente, die der Annahme einer einseitigen Konzentration aller Nachteile des gegenwärtigen Geschlechterverhältnisses bei den Frauen widersprechen. „Männer üben im Vergleich zu Frauen die körperlich schwereren und auch gesundheitsgefährdetsten Berufs aus. Sie dominieren in der Schwerindustrie (Stahlbau, Bergwerk, Steinbruch) und in den gefährlichen Off-Shore Arbeitsbereichen (z. B. auf Bohrinseln) sowie in der Druckluftarbeit. Männer überwiegen bei weitem im Transportwesen und in der Bauindustrie (Haus-, Straßen-, Tunnel- und Brücken-, U-Bahn- und Eisenbahnbau). Für bestimmte riskante Tätigkeiten wie Gebäude- und Fassadenreinigungen werden fast ausschließlich Männer herangezogen“ (Bründel, Hurrelmann 1999, 54). Es sind auch eher die Männer, denen die Arbeit mit gesundheitsgefährdenden Stoffen zugeordnet wird: „wie Teer und Asbest (Straßenarbeiter, Dachdecker), Farben (Maler, Tischler) und Polyvinylchlorid (PVC) (Plastik- und Kunststoffindustrie). Sie arbeiten häufig unter hohem Lärm (Straßenbau), in einem ungünstigen Arbeitsumfeld und sind der Witterung ausgesetzt. Man kann davon ausgehen, dass eine Tätigkeit um so eher an einen Mann vergeben wird, je gefährlicher, anstrengender, riskanter und körperlich schwerer sie ist“ (Ebd., 120). Farrell bezeichnet die höhere Bezahlung für solche Erwerbstätigkeiten als „Todeszulage.“

Symptomatischerweise ist in feministischen Analysen des Geschlechterverhältnisses, aber auch bei Bristow, nicht jene massive Ungleichstellung Thema, die die deutlich geringere Lebenszeit von Männern in der modernen bürgerlichen Gesellschaft betrifft. „In den USA hat sich der weibliche Vorsprung seit dem Jahr 1900 vervierfacht: von damals zwei auf heute rund acht Jahre. In Deutschland ist er nicht ganz so stark gewachsen, aber immer noch von knapp drei Jahren zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 auf gegenwärtig annähernd sieben. Die Kluft ist also großenteils das Werk des 20. Jahrhunderts und hat insofern eher gesellschaftliche als natürliche Ursachen“ (Traub 1997, 23).

Gerne fokussieren Feministen als Ursachen der geringeren Lebenszeit von Männern deren „unvernünftiges“ Risikoverhalten, ihre weniger ausgeprägten Beziehungsnetze und ihr suboptimales Gesundheitsverhalten. Auch hier wird von Feministen gern der Maxime gefolgt, Frauen als Opfer anzusehen, Männer aber als Versager. Zwar stimmt es, dass auf eine bestimmte Weise geformte Beziehungsnetze als eine Art psychosoziales Immunsystem günstig die Gesundheit beeinflussen. Gewiss lässt sich auch gegenwärtig bei Frauen durchschnittlich eine höhere Fähigkeit zur Knüpfung und Pflege solcher Netze konstatieren. Aus diesem Umstand ist aber nicht auf eine männliche Unfähigkeit als sozusagen autonome oder endogene Ursache zu schließen. Vielmehr geht mit der bisher anzutreffenden stärkeren Involviertheit von Männern in das konkurrenzförmig organisierte Erwerbs- und Geschäftsleben im modernen Kapitalismus eine höheres Quantum an Isolation, Konkurrenz und Kampfgeist einher. Diese Tugenden des Konkurrenzsubjekts stehen in deutlicher Diskrepanz zur Pflege von Beziehungsnetzen im Privatleben, ganz abgesehen von der Zeit, die diese erfordern. Netzwerke von Männern sind eher sachlich in Berufsnähe angesiedelt oder auf Freizeitvergnügungen (Sportclub u. ä.) ausgerichtet. Trost und Zuwendung in solchen Netzen zu suchen und zu erwarten – dem steht die Einsamkeit des Konkurrenzsubjekts gegenüber, das im Geschäfts- und Erwerbsleben Hilflosigkeit und Kontrollverlust nicht zugeben darf und das sich in allen Lebenslagen dadurch zu beweisen sucht, dass es sich selbst zu helfen weiß. Auch das tatsächlich bei Männern in höherem Ausmaß zum Habitus gewordene ‚Risikoverhalten’ verweist auf die gesellschaftliche Zuordnung von riskanteren und gefährlicheren Tätigkeiten. Männer werden bereits sozialisatorisch darauf vorbereitet. Die Rücksichtslosigkeit gegenüber sich selbst, die Unterordnung unter die instrumentellen Arbeitserfordernisse, die Unterordnung unter die Disziplin – all dies sind Tugenden, die Männern in der Erwerbsarbeit und beim Militär abgefordert werden und die den gar nicht so heimlichen Lehrplan dieser Sphären bilden, so dass aus dem äußeren Zwang ein innerer Habitus entsteht. Frauen bilden durch ihre stärkere Befassung mit Care-Tätigkeiten, aber auch durch die monatliche Regelblutung und den Umgang mit Schwangerschaft und Schwangerschaftsverhütung einen Habitus der „Sorge und Fürsorge für alles Körperliche und die Pflege des eigenen und des fremden Körpers“ aus (Brandes 2002, 221). Die damit einhergehende Perspektive der Schonung ist bereits in der Jungenerziehung weniger gern gesehen. In Kampfspielen sollen die „Knochen hingehalten“ werden. Ein „harter Hund“ zu sein bereitet auf viele der eher von Männern besetzten Segmente der Erwerbstätigkeit gut vor. Damit geht ein äußerliches und instrumentelles Verhältnis zum Körper bei Männern einher, den Mann „hat“ und der „funktionieren muss“, während „Frauen eher sagen würden: ‚Ich bin mein Körper’“ (Ebd., 220). Die bei Männern empirisch häufiger zu beobachtende Neigung, weniger als Frauen auf ihren Körper zu ‚hören’ und für dessen Signale aufmerksam zu sein, geht einher mit seltenerer und in vielen Fällen verspätet erfolgender Konsultation des Arztes und mit weniger Vorsorge.

Die Konzentration von Feministen auf männliche Unvernunft zur Erklärung der durchschnittlich geringeren Lebenszeit von Männern sieht nicht nur von Kontexten ab, die diese Unvernunft als habituelle Verarbeitung und Verfestigung der zugrunde liegenden gesellschaftlich zu erklärenden Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern erklärt, sondern abstrahiert auch davon, dass die größeren gesundheitlichen Risiken, denen Männer unterliegen, zum großen Teil nicht selbstgemacht sind, sondern mit längeren Arbeitszeiten, gefährlicheren Arbeitsaufgaben und höherem Stress in entscheidungsreichen Stellen zusammenhängen (vgl. Brandes 2002, 227f.). „Wie sehr der Stress, der daraus entsteht, als Hauptverantwortlicher für den materiellen Wohlstand und das Sozialprestige einer ganzen Familie zu kämpfen, die Gesundheit und die Lebensdauer der Männer beeinträchtigt, sieht man am besten an der Entwicklung der männlichen Lebenserwartung in den USA: Obwohl dort die Gesundheitsvorsorge ständig verbessert wird, Krebserkrankungen bei beiden Geschlechtern etwa gleich häufig vorkommen und mehr Frauen als früher einem Beruf nachgehen, übertrumpfen diese dort die Männer an Lebenserwartung (1990) bereits um mehr als 9 Jahre. (1955 lag die durchschnittliche Lebenserwartung der US-Frauen lediglich um 2,5 Jahre über der der Männer.) Nur in Spitzenpositionen ist die männliche und weibliche Lebenserwartung gleich niedrig und die Zahl der Herz- und Kreislauferkrankungen gleich hoch. Was beweist, dass zwischen Lebensdauer und Stressbelastung ein direkter Zusammenhang besteht und es sich bei der unterschiedlichen Lebenserwartung von Mann und Frau nicht um einen biologischen Unterschied handelt“ (Vilar 1990, 55).

Zwar spricht Bristow die Überbelastung in der Erwerbsarbeit und in der Hausarbeit an (S. 33). Nicht nachvollziehbar bleibt – und das ist mein dritter Einwand – , warum der Artikel dann aber hauptsächlich normierende psychologisierende und pädagogisierende Diskurse zum Gegenstand seiner Kritik erhebt und praktische Forderungen und Perspektiven ausblendet, deren Durchsetzung die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Care-Tätigkeiten ermöglichen würde. Zu nennen wäre
- eine drastische Arbeitszeitverkürzung, die es für Männer und Frauen erlaubt, neben der Erwerbsarbeit die gesellschaftlich und individuell relevante Arbeit der Kinder-, Kranken- und Altenbetreuung zu erfüllen,
- Einrichtungen, die, soweit von den Eltern erwünscht, Kinderbetreuung kollektiv gestalten, mehr Mittel für Kinderbetreuungsplätze und Ganztagesschulen,
- die Gestaltung von Erwerbsarbeitsbedingungen nach Maßgabe ihrer Vereinbarkeit mit den Wechselfällen der Betreuung von Hilfsbedürftigen und Abhängigen und nach Maßgabe des Zusammenlebens mit Kindern und Alten,
- eine Gestaltung der Erwerbsarbeit, in der die diskontinuierliche Teilnahme an ihr nicht automatisch auf minderwertige Laufbahnen verweist,
- die theoretische und praktische Infragestellung der vorherrschenden Maxime, dass insbesondere leitende Stellen nicht geteilt werden können und das gesellschaftliche Auffangen eventueller Effizienzeinbußen,
- eine Überwindung der dem abstrakten Reichtum gehorchenden Erwerbsarbeit, in der aus jungen Arbeitskräften besonders viel herausgeholt wird, so dass sie besonderen beruflichen Anforderungen gerade dann unterliegen, wenn sie am dringendsten für das Zusammensein mit Kindern und für ihre Erziehung Zeit nötig hätten,
- eine gesellschaftliche Kompensation der Ausgabensteigerung, die Kinder darstellen, so dass nicht mit Überstunden, Schichtarbeit, Nebenjobs usw. finanzielle Einbußen auf eine Weise aufgefangen werden müssen, die die ‚Erwerbsperson’ der Familie entzieht,
- eine ehe-unabhängige Vergütung und Alterssicherung von Erziehungs- und Betreuungsarbeiten, die der Altersarmut unter Frauen den Boden entzieht,
- ein anderes Wohnen, das notwendig wird, wenn die Isolation der unmittelbaren Erziehungsverantwortlichen überwunden werden soll.1

Identitätspolitik, Therapiekultur und den therapeutischen Staat zu kritisieren, wie dies Bristow ausführlich tut, mag relevant sein. Das Geschlechterverhältnis im modernen Kapitalismus ist aber etwas anderes als eine Frage kollektiver Einstellungen. Frau und Mann kommen nicht an einer Verwirklichung jener oben genannten Forderungen vorbei, die allererst eine Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Caretätigkeit ermöglichen und dafür eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen des Erwerbs- und Privatlebens erfordern würde. Eine ausführliche Analyse des Geschlechterverhältnisses und Auseinandersetzung mit dem Gleichstellungs- und Differenzfeminismus habe ich andernorts formuliert (Creydt 2001).

Insofern Bristow die Familie, ihre Autonomie und das Private gegen normierende öffentliche Diskurse verteidigt und in ihnen „eine große Gefahr für uns und unsere Fähigkeit, unser Leben selbst zu kontrollieren“ sieht (S. 37), enthält ihr Artikel eine vierte problematische Position. Bristow affirmiert die vor allem in (West-)Deutschland gesellschaftlich vorfindliche Reduktion der Bezugspersonen des (Klein-)Kindes auf die Eltern und v. a. die Mutter. Die Liebe des Erwachsenen zum Kind hat immer große unerwiderte Anteile, kann das Kind doch nicht so mit dem Erwachsenen kommunizieren wie umgekehrt. An eine Mutter gewandt heißt es zu Recht: „Je erwachsener deine Art zu fühlen ist und je bedingungsloser du fühlst, um so einsamer wirst du in einer Reihe von Aspekten und Situationen mit deiner Zuneigung dastehen. … Dieser Überschuss kann durchaus als Sorge, als Gefühl der Einsamkeit und des Unverstandenseins auf der Herzgrube des Erwachsenen lasten“ (Sichtermann 1989, 269). Zentral sind für das Gelingen der Erziehung des Kindes die unmittelbaren sozialen Beziehungen derjenigen, die die Mutter entlasten und auf ihre Weise aktiv Anteil nehmen an der Erziehung und am Kindeswohl. „Die Einsamkeit von Müttern, die mit ihren Gefühlen zum Kind nicht zurecht kommen, spiegelt also ihr Verlassensein von anderen Erwachsenen, Störungen im Beziehungen zu anderen Erwachsenen und nicht unbedingt eine Störung in der emotionalen Beziehung zum Kind“ (Ebd., 271).2 Notwendig ist, dass die Betreuung und Erziehung des Kindes nicht allein an der Mutter hängt, sondern von mehreren Erwachsenen getragen wird.3 Es geht darum, „einen Ersatz für die verstorbene Großfamilie zu kreieren: neue verbindliche Gesellungsformen von mehr als nur zwei Erwachsenen und von Kindern verschiedener Altersgruppen, Leute, die nicht nur Verwandtschaft oder wirtschaftliche Not zusammenhält, sondern Neigung, Bedürfnis, Engagement“ (Ebd., 268).

Literatur:
Allmendinger, Jutta; Leuze, Kathrin; Blanck, Jonna M. 2008: 50 Jahre Geschlechtergerechtigkeit und Arbeitsmarkt. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung ‚Das Parlament’ H. 24/25.
Bothfeld, Silke; Klammer, Ute; Klenner, Christina u. a. 2005: WSI-FrauenDatenReport 2005. Berlin
Brandes, Holger 2002: Der männliche Habitus. Band 2: Männerforschung und Männerpolitik. Opladen
Bründel, Heidrun; Hurrelmann, Klaus 1999: Konkurrenz, Karriere, Kollaps: Männerforschung und der Abschied vom Mythos Mann. Stuttgart
Creydt, Meinhard 2001: Zur Kritik feministischer Wirklichkeitskonstruktionen. In: Hintergrund H. 1, Jg. 14, Osnabrück
Frank-Bosch, Birgit 2002: Verdienstabstand zwischen Männern und Frauen. Eine Untersuchung mit Hilfe der laufenden Verdiensterhebungen 2001. In: Wirtschaft und Statistik, 5, S. 395-409
Hinz, Thomas; Gartner, Hermann 2005: Geschlechtsspezifische Lohnunterschiede in Branchen, Berufen und Betreiben. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 43, S. 22-39
Meier-Seethaler, Carola 1998: Gefühl und Urteilskraft. München
Sichtermann, Barbara 1989: Weiblichkeit. Frankf. M.
Traub, Rainer 1997: Adams Fall. In: Spiegel- Special Nr. 7: Der deutsche Mann
Vilar, Esther 1990: Die 25 - Stundenwoche. Vorwort von O. Lafontaine. Düsseldorf.


[1] „Seit längerem entstehen zwar Beispiele für das ‚verbundene Wohnen’ in Form von Gemeinschaftssiedlungen oder Hausgemeinschaften, die länger Bestand haben als vorübergehende Zweck-Wohngemeinschaften. Dass sie sich nicht viel breiter durchsetzten, liegt zum Teil an einem ungenügend ausgebauten Genossenschaftsrecht, hauptsächlich jedoch an den bestehenden Eigentumsverhältnissen.“ Wo nicht gemeinsam über Boden und Bausubstanz verfügt werden kann, „sind neue Wohnstrukturen nur beschränkt realisierbar. Und für Immobilienbesitzer sind Anlagen mit Gemeinschaftsflächen oder -räumen weniger rentabel als herkömmliche Wohnungen oder Luxusappartments. … Dennoch wären gemeinschaftsorientierte Wohnmöglichkeiten für ein gesundes Aufwachsen der Kinder und für die psychosoziale Stabilität der Erwachsenen als Eltern, Alleinerziehende oder Alleinlebende von erstrangiger Bedeutung. Der Zusammenhalt sippenähnlicher, wenn auch nicht blutsverwandter Gruppen könnte eine gewisse Geborgenheit auch über zerbrochene Partnerschaften hinweg vermitteln. … Jdf. aber gibt es für die Probleme des Zusammenlebens nur menschlich-soziale Lösungen. Die ‚Kommunikations’-Gesellschaft per Internet kann weder die Doppel- und Dreifachbelastungen der Alleinerziehenden noch die epidemische Zunahme von Depressionen unter Jugendlichen und schon gar nicht die Vereinsamung alter Menschen beheben“ (Meier-Seethaler 1998, 384f.).

[2] „Die Tatsache, dass so viele Erwachsene – Frauen vor allem – das rechte Maß in den Gefühlen zu ihrem Kind nicht treffen, dass sie sich entweder zuviel oder zuwenig engagieren, dass sie sich vor der Nähe zum Kind fürchten oder dass sie die Notwendigkeit von Distanz vollkommen übersehen, hat wenig damit zu tun, dass sie nicht wissen, wo dieses rechte Maß läge. Niemand weiß das in dem Sinne, in dem man weiß, wie weit die Erde von der Sonne entfernt ist. Gefühle lassen sich nur indirekt beeinflussen oder ins Lot bringen, denn sie entstehen unwillkürlich, oder sie wären Krampf und Theater. Eine größere Wohnung, ein Mann, der an der Entwicklung des Kindes wirklich teilnimmt (nicht nur durch freundliches Interesse am Feierabend, sondern durch Hergabe von Lebenszeit), eine Tagesmutter oder ein Tagesvater, die dem Kleinkind einen Platz in der Wohnung und im eigenen Herzen freimachen … eine Nachbarin … – all das erst schafft den Boden für ein Gefühl, das Kind und Mutter gut tut“ (Sichtermann 1989, 272).

[3] Erst dann „stellt sich kein quälender Gefühlsrest ein in den Beziehungen der Erwachsenen zum Kind, aber es stellt sich eine Beziehung her zwischen den Erwachsenen, die – neben anderen Beziehungsformen und -qualitäten – über das Kind vermittelt ist“ (Sichtermann 1989, 271).