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(erschien in: telepolis 6.9.2015)

Ideen der Freiwirtschaftslehre (FWL) von Silvio Gesell (1862-1930) finden immer wieder, wenn auch nicht dominant, unter denjenigen Anklang, die nach Alternativen zum Kapitalismus suchen. Die Auseinandersetzung mit der Freiwirtschaftslehre ist oft von Attacken auf Gesells Antisemitismus und Sozialdarwinismus geprägt. Im Unterschied dazu mache ich die Probleme einiger ökonomischer Essentials dieses Konzepts zum Thema.

Gesell nimmt eine Überlegenheit des Geldes gegenüber den Waren an. Anbieter von Waren könnten die verderblichen Waren nicht horten. Anders die Besitzer von Geld. „Aus Gold hergestellt, … widersteht es (das Geld – Verf.) siegreich allen Zerstörungskräften der Natur. – Das Gold rostet nicht und fault nicht, es bricht nicht und stirbt nicht. Frost, Hitze, Sonne, Regen, Feuer – nichts kann ihm schaden. Das Geld, das wir aus Gold machen, schützt seinen Besitzer vor jedem Stoffverlust“ (Gesell 1991, 188). „Der Besitzer des Goldes wird nicht von seinem Eigentum zum Verkauf gedrängt. Er kann warten; freilich verliert er den Zins, solange er wartet. Aber kommt der Zins nicht vielleicht daher, dass der Besitzer des Goldes warten kann?“ (Ebd., 189). Die FWL sieht die Hauptprobleme der Wirtschaft in der Zurückhaltung und Hortung des Geldes. Aus diesen Ursachen verringere sich der Austausch und infolgedessen auch die Produktion. In einer affirmativen Darstellung der FWL heißt es: „Der Zins hat seine tiefere Wurzel in der Überlegenheit der Gold-(Geld-)Besitzer gegenüber den Besitzern anderer Waren. Aus dieser Überlegenheit heraus können die Gold-(Geld)-Besitzer von anderen, die auf das Fließen des Goldes (Geldes) im Wirtschaftskreislauf angewiesen sind, einen Zins erpressen. Ist der Zins in ihren Augen nicht attraktiv genug, dann halten sie das Gold (Geld) einfach noch eine Weile länger zurück und warten, bis den anderen die Luft ausgeht und sie bereit sind, einen hinreichend attraktiven Zins zu zahlen“ (Senf 2001, 162). Das Rezept: Das private Halten von Geld soll dadurch teuer werden, dass das nicht ausgegebene Geld einer Entwertung unterliegt. Wer sein Geld festhält, hat – dem freiwirtschaftlichen Vorschlag zufolge – infolge dieser veranstalteten Inflation innerhalb eines Jahres ein paar Prozent Wertverlust. Das vorgeschlagene Geld heißt deshalb „Schwundgeld“. Wer Geld „parke“, also der Zirkulation entziehe, solle eine „Parkgebühr“ zahlen oder eine „Geldumlaufsicherungsgebühr“ (Senf). Sozial erwünscht verhält sich diesem Konzept zufolge, wer das Geld möglichst schnell ausgibt.

Gesells These von der Überlegenheit des Geldes gegenüber den anderen Waren hängt an der Voraussetzung, das Geld sei unverderblich. Diese für die FWL zentrale Annahme bezieht sich auf die naturale Gestalt (Gold, Geldschein). Der „geizige“ Hüter seines Geldschatzes muss allerdings in der kapitalistischen Realität erleben, dass das Geld, das der Zirkulation vorenthalten wird, gerade insofern an Wert verliert, als allein durch die „produktive“ Anlage des Geldes in Mehrwert produzierende Betriebe der Wert des Geldes erhalten, indem er vermehrt wird. Der gleiche Geldbetrag ist in einer sich an der Verwertung des Kapitals orientierenden, also wachsenden Wirtschaft nach fünf Jahren zwar nominell gleich, real aber schon deshalb weniger wert, da das Vermögen insgesamt gestiegen ist.

Die Vermehrung des abstrakten Reichtums wird im Kapitalismus dadurch praktiziert, dass das Kapital Arbeitskräfte anstellt, sie zum Wert ihrer Arbeitskraft bezahlt und länger arbeiten lässt, als dies erforderlich wäre, um den Wert ihrer Arbeitskraft zu erwirtschaften. Die Gleichheit des Äquivalententausches ist nicht durch den Mehrwert gestört, den der Arbeitende produziert und der dem Kapitalist zufällt. „Der Gebrauchswert der Arbeitskraft, die Arbeit selbst, gehört ebenso wenig ihrem Verkäufer, wie der Gebrauchswert des verkauften Öls dem Ölhändler. … Der Umstand, dass die tägliche Erhaltung der Arbeitskraft nur einen halben Arbeitstag kostet, obgleich die Arbeitskraft einen ganzen Tag wirken, arbeiten kann, dass daher der Wert, den ihr Gebrauch während eines Tags schafft, doppelt so groß ist als ihr eigener Tageswert, ist ein besondres Glück für den Käufer, aber durchaus kein Unrecht gegen den Verkäufer“ (Marx, MEW 23, 208).

Die Mittel zur Erzielung des Mehrwerts, der auf der Verkürzung der für die Reproduktion der Arbeitskraft aufzuwendenden Arbeitszeit beruht, führen zu eigenen Widersprüchen. Deren Bewältigung zieht wiederum Folgezwänge und dynamiken nach sich. Wachstum wird im Kapitalismus nötig, um den bei Produktivitätserhöhung relativ vergrößerten Anteil von Technik an den Produktionsfaktoren, die gestiegene Kapitalausstattung des Arbeitsplatzes, zu finanzieren.
Die Produktivitätssteigerung verändert das Gefüge zwischen den verschiedenen, vom Kapital eingesetzten Faktoren. Das Gewicht der Arbeitskraft sinkt und damit sprudelt auch die Quelle des Mehrwerts weniger. Am einzelnen Produkt wird durch Produktivitätssteigerung weniger Mehrwert gewonnen, also müssen mehr Produkte hergestellt werden. Die Nachfrage nach Arbeit müsste absolut zunehmen, weil sie relativ sinkt (Marx, MEW 26.2, 469).

Die FWL erklärt demgegenüber das Wachstum aus dem Machtverhältnis zwischen dem Geldbesitzer als Kreditgeber und der produktiven Wirtschaft. Letztere benötigt (außer bei Eigenfinanzierung) zur Vorfinanzierung von Auslagen und Investitionen, die erst bei Verkauf der gefertigten Produkte sich auszahlen, Kredite. Der FWL zufolge nutzen die Kreditgeber die Abhängigkeit der Kreditnehmer von den Kreditgebern. Jegliche Verzinsung, die der FWL ja als Kernübel des Wirtschaftens gilt, führe per Zinseszins zu einer ständigen Vermehrung des Geldbetrags. Der vermeintliche Vorteil des Geldes, unvernichtbar zu sein, und die Verzinsung und der Zinseszins des Geldes bilden der FWL zufolge die Ursache für die Akkumulation des Kapitals. Sie erfolge, um den Zinsforderungen der Kreditgeber, den Geldbesitzern, nachkommen zu können. „Das zinsbedingte Wachstum der Geldvermögen fordert und erzwingt gesamtwirtschaftlich also ein entsprechendes Wachstum des Sozialprodukts. Anders ausgedrückt: Der Zins setzt die Wirtschaft unter einen permanenten Wachstumszwang“ (Senf 2001, 169). Die FWL stellt das Verhältnis zwischen Zins und Kapitalakkumulation auf den Kopf. Die Vermehrung des Reichtums findet durch die Verwertung von Arbeitskraft statt. Der Zins lässt sich im Verhältnis zwischen Kreditgeber und produktivem Kapital nehmen, weil letzteres das geliehene Geld auf diese Weise vermehren kann. Die FWL schreibt dem Geld und dem Zins eine Eigenmacht zu, die sie getrennt und unabhängig vom produktiven Kapital und seiner Mehrwertproduktion besitzt und ihm aufherrscht.

Der Zins bzw. Zinseszins avanciert in der FWL zu einem Attribut einer sich selbst verursachenden Substanz, die in nichts anderem als diesem Attribut besteht. Zur Verdinglichung des Zinses zu einer sich selbst genügenden, auf stetiges Wachstum ausgerichteten Wesenheit oder einem perpetuum mobile passt die Geschichte vom „Josephspfennig“. „In dieser Anekdote, die auf den englischen Moralphilosophen Richard Price zurückgeht, legt Joseph für seinen Sohn Jesus einen Penny bei der Bank an. Durch Zins und Zinseszins wächst das Konto über die folgenden Jahre natürlich bis ins Unermessliche – eine Exponentialfunktion wie aus dem Lehrbuch. Diese Anekdote mag unterhaltsam sein, ökonomisch betrachtet ist sie blanker Unfug. Beim ‚Josephspfennig’ gibt es kein Risiko, keine politischen und wirtschaftlichen Krisen und keine Geldreformen. In der Realität wäre zumindest ein Teil des verliehenen Geldes durch Kreditausfälle ‚vernichtet’ worden und was noch übrig bliebe, wäre teilweise durch Inflation, Währungsreformen oder politische Verwerfungen entwertet oder umverteilt worden. Und wenn die Nachkommen Jesu’ gesetzestreue Bürger gewesen wären, hätten sie auf ihre Zinserträge selbstverständlich auch Steuern zahlen müssen“ (Berger 2011).

Die Zinskritiker verdinglichen und verabsolutieren den Zins. Sie teilen diesen Denkfehler mit den „Finanzalchimisten der großen Investmentbanken. Gerade so, als hätten die Zinskritiker mit ihrer Geschichte vom ‚Josephspfennig’ doch recht, versuchten die Mathematiker der Investmentbanken, synthetische Papiere zu entwickeln, die einen risikolosen Zinsertrag versprechen sollten. Risiko und Zins lassen sich jedoch nicht trennen, mit ‚mündelsicheren’ Kreditverbriefungen kann man trotz AAA-Ratings keine garantierte Traumrendite erzielen“ (Ebd.).

Die Hortung von Geld bzw. das nicht in die Zirkulation eingehende Geld bilden für die FWL den Grund von Wirtschaftskrisen. Die zu erwartende Profite für „produktive“, also Arbeitskräfte zwecks Mehrwertmehrung arbeiten lassende Betriebe bleiben ausgeklammert. Sind sie niedrig, sinkt die Investitionsneigung. Keineswegs kann aus niedrigen Zinssätzen allein auf eine hohe Investitionsneigung geschlossen werden, wie dies die FWL tun muss. „So waren bspw. die Realzinssätze (Nominalzinssatz minus Inflationsrate) in den USA während nahezu der gesamten 70er Jahre substantiell negativ. Die Durchhaltekosten auf Geld waren demnach so hoch, dass die Realzinssätze unter Null fielen. … Dieser für Geldreformer eigentlich ‚ideale’ Zustand“ hat die Krise in den USA mitnichten gelöst (Herr 1986, 482).

Die FWL sieht beflissen ab vom Zusammenhang zwischen Mehrwertproduktion und Finanz- und Kreditwesen. Für dessen positive Analyse dieses Zusammenhangs fehlt hier der Platz. Zu den weit verbreiteten Vorstellungen von der vermeintlichen Macht des Finanzkapitals über die sog. „Realwirtschaft“ finden sich bei Roth (2009), Sandleben, Schäfer (2013) sowie Krumbein u. a. (2014). Mögen sie in manchem selbst analytisch nicht ausreichen, so doch darin, nachhaltige Einsprüche gegen die Beschränkung oder Zentrierung von Kapitalismuskritik auf die Kritik des Finanzkapitals zu formulieren. Für die FWL ist der Zins als Parasit der Produktion der Grund ihrer Krise. Ungedacht bleibt, warum die Verwertungsschwierigkeiten des produktiven Kapitals dessen Gewinne in den Finanzsektor fließen lassen. Erweist sich die mehrwerterzeugende Produktion aufgrund der Konkurrenz oder der Schranken der Nachfrage als wenig erfolgversprechend, so sucht der Geldanleger nach anderen Möglichkeiten der Geldvermehrung. Geschäfte mit Krediten und an der Börse bieten sich an. Zugleich steigt die Nachfrage nach Kredit, insofern produktive Kapitale durch Kreditaufnahme ihre Schwierigkeiten zu bewältigen suchen. Kurz- und mittelfristig können sich Geschäfte mit Krediten, Aktien u. a. von der Entwicklung des in Mehrwert erzeugende Produktion investierenden Kapitals entkoppeln. Mittelfristig müssen diejenigen, die hier spekulative Gewinne erzielen wollen, erfahren, dass die „Blasen“ platzen, die Aktienkurse stürzen und auch andere innovative „Finanzprodukte“ nicht funktionieren. Die Erwartungen, die den Kurs der Aktien bestimmten, sehen sich enttäuscht. Soweit nicht die Mehrwert erzeugende Produktion zum Stillstand kommt, wird „die Nation um keinen Heller ärmer durch das Zerplatzen dieser Seifenblasen von nominellem Geld“ (Marx, MEW 25, 486). Solche Krisenphänomene holen diejenigen, die Kredit- und Börsengeschäfte machen, auf den Boden der Tatsachen zurück und erinnern sie an ihre Abhängigkeit von der Verwertungssituation des in Mehrwert erzeugende Produktion angelegten Kapitals. „Schwärmende Bienen sind … die frechste, arroganteste Form von Bienen, aber sie schwärmen nur aus, weil der Honig nicht reicht. Das Geld herrscht, weil die Produktion nicht mehr so attraktiv für das Kapital ist, aber der Honig kommt letzten Endes nur aus der Produktion“ als „einziger Quelle der Selbstausdehnung des Kapitals“ (Holloway 1996, 106).

Erscheint dieser Zusammenhang zwischen Kreditkapital und Industriekapital nicht, so liegt die Auffassung nahe, Kritik verdiene der Profit allein dann, wenn er sich auf das Leihen und Verleihen von Geld bezieht. Kritisiert werden die diesem Vertragsverhältnis zugrundeliegenden Machtungleichheiten oder die Spekulation. Der kapitalistische Produktionsprozess selbst erscheint dann als von rein technischen und organisatorischen Gesichtspunkten beherrscht (Marx, MEW 25, 395). Kapitalismus gerät zum Synonym für Kredit, Zins und Börse.

Derjenige, der das Geld nicht ausgibt, soll der FWL zufolge für sein Behalten des Geldes etwas bezahlen an die Währungsbehörde – auch eine Form des Zinses. Schwundgeld heißt ja: Ein bestimmter Geldbetrag, der nicht schnell wieder ausgegeben wird, verliert an Wert. Man muss Märkchen o.ä. kaufen, um den ursprünglichen Betrag zu erhalten. Die FWL „übersieht, dass mit der ‚Verderblichkeit’ des Geldes der Zins nicht abgeschafft, sondern nur verdeckt wird. Denn der Geldschuldner muss die Abschreibung des Geldes erwirtschaften, um das Freigeld zum gleichen nominalen Betrag (also formal zinslos) zurückzahlen zu können. Allerdings wird dieser Zins dann nicht mehr an den Verleiher gezahlt, sondern an die Währungsbehörde, die die Märkchen zur Aufrechterhaltung des Nennwerts der Freigeldscheine verkauft. Der Zins wird also mit dem Freigeld nicht abgeschafft, sondern verstaatlicht“ (Kind 1994, 120).

Die Anwendung der FWL, die das Horten von Geld, das Nichtausgeben besteuern möchte, um es zu vermeiden, führt zu einer für die abhängig Beschäftigten problematischen Konsequenz: „Tag für Tag stünden die kleinen Leute vor Ultimo. Sie wären und blieben mittellos. Kaum könnten sie sich eine bessere Stellung suchen, weil sie über kein Erspartes verfügten, von dem während der Stellungssuche zu leben (sic.). Willenlos wären sie den Maßnahmen der Administration ausgeliefert“ (Helms 1966, 448).

Gesells patentrezeptliche Eingriffsnaivität, ein Moment aus einem komplexen Ganzen heraustrennen und letzteres damit ums Ganze reformieren zu wollen, scheitert an den Metamorphosen des bloß Verbotenen, aber nicht Überwundenen. Sie unterlaufen die freiwirtschaftliche „Lösung“. „Wirtschaftssubjekte werden versuchen, der verlustbringenden Geldhaltung zu entgehen. Ob dies dann allerdings zu gesellschaftlicher Nachfrage, wie von Gesell erhofft, führt, ist eine gänzlich andere Sache. Vermögende, die gesellschaftlich abstrakten Reichtum in sicherer Form in die Zukunft transferieren wollen, werden sich durch Schwundgeld nicht zu Nachfrage oder gar Investition zwingen lassen. Es werden sich Geldsubstitute entwickeln, die von ausländischen Währungen über Edelmetalle bis zu ‚Betongold’ und Grundstücken reichen. Das Schwundgeld mag dann zwar noch als Transaktionsmittel fungieren, alle wesentlichen Geldfunktionen – Geld als Wertaufbewahrungsmittel und als Inhalt von Schuldverträgen – werden jedoch auf andere Objekte übergehen. Als Anschauungsmaterial für solche Fälle können derzeit viele Entwicklungsländer mit hohen Inflationsraten dienen“ (Herr 1986a, 122). Keynes wusste dies: „Wir können vom Gelde nicht einmal dadurch loskommen, dass wir das Gold und Silber und die gesetzlichen Zahlungsmittel abschaffen. Solange es irgendeinen dauerhaften Vermögensbestand gibt, wird er fähig sein, geldliche Eigenschaften zu besitzen und daher die kennzeichnende Probleme einer geldlichen Wirtschaft hervorrufen“ (Keynes 1936, 248).

Die FWL kritisiert den Zins, sie kritisiert aber nicht die anderen Momente des Kapitalismus:
• die Indifferenz bzw. den Gegensatz von Käufer und Produzent, Anbieter und Nachfrager bereits im Tausch,
• die Existenz des Warenpreises als eindimensionales und unterkomplexes Informationskonzentrat,
• die Konkurrenz als Sozialverhältnis,
• Mehrwert als Maßstab der Produktion.

Selbst ein mit der FWL sympathisierender Autor wie Senf kommt nicht umhin, zu bemerken: „Das bisherige einzelwirtschaftliche Rechnungswesen in marktwirtschaftlichen Systemen beinhaltet … unbewusst eine gigantische Bilanzfälschung, an der sich auch durch freiwirtschaftliche Reformen nicht automatisch etwas ändern würde“ (Senf 2001, 195). Bei der Bestandserhaltung des Produktionsapparats, der Maschinen u. a. wird per Abschreibungen auf „Bestands- oder Substanzerhaltung“ geachtet, nicht aber bei den nicht bepreisbaren natürlichen Lebensgrundlagen (Ebd., 196).

Gesell ist ein fanatischer Befürworter von Konkurrenz und Wirtschaftswachstum. Die ‚Natürliche Wirtschaftsordnung’ sei „eine Ordnung, in der die Menschen den Wettstreit mit der ihnen von der Natur verliehenen Ausrüstung auf vollkommener Ebene auszufechten haben, wo darum dem Tüchtigsten die Führung zufällt, wo jedes Vorrecht aufgehoben ist und der Einzelne, dem Eigennutz folgend, geradeaus auf sein Ziel lossteuert, ohne sich in seiner Tatkraft durch Rücksichten ankränkeln zu lassen“ (Gesell 1991, XVII). Gesell sieht die Konkurrenz als so zentral an, dass er sich von ihr wahre Heilungskräfte auf die ganze Gesellschaft erwartet. Die „Fortpflanzung der Fehlerhaften“ sei durch „das große Zuchtwahlrecht, dieses wichtigste Sieb bei der Auslesetätigkeit der Natur“ zu bekämpfen (Ebd. XXI). Gesells Anleihen an biologistische Zuchtmetaphern sind kein von seiner ökonomischen Auffassung zu trennendes Zeitkolorit, sondern bringen seine Verherrlichung der Konkurrenz auf den Begriff. Die ‚Natürliche Wirtschaftsordnung’ lasse sich „auch als ‚Manchestertum’ bezeichnen …, jene Ordnung, die wahrhaft freien Geistern immer als Ziel vorgeschwebt hat – eine Ordnung, die von selbst, ohne fremdes Zutun steht und nur dem freien Spiel der Kräfte überlassen zu werden braucht“ (XVII). Gesell lässt keine Eindeutigkeit vermissen: „Die Manchesterschule war auf dem richtigen Wege, und auch das, was man von Darwin her später in diese Lehre hineintrug, war richtig“ (XVIII). Unausweichlich ist dann die Sorge, es gäbe zu viel „Unproduktive“. Sie erscheinen als bleiernes Gewicht, das den Schwung der sog. Leistungsträger abbremst. Entsetzlich sei, „wieviel wir jährlich ausgeben für das Armenwesen, die Krankenpflege, die Blinden- Irren, Zucht- und Waisenhäuser“ (Ebd., 264). Gesell teilt die zu seiner Zeit weit verbreitete Vorstellung von der genetischen Erklärbarkeit von Leistungsunterschieden. Wie andere auch stellt Gesell „statistische Erhebungen über die Kosten, die die Produkte der Unzucht verursachen“, an. Gesells Zuchtphantasien (sein Votum zur „Förderung der Hochzucht“ (Gesell 1995, 261) radikalisieren die Bejahung von Konkurrenz und Profit. Allein diejenigen, die gemessen an diesen Maßstäben Erfolg haben, beweisen damit eine „gute“ natürliche Ausstattung. Allein deren Vererbung macht den Nachwuchs der Bevölkerung „gut“. Wie bei der Prädestinationslehre, so findet sich auch hier die paradoxe Einheit von Voluntarismus und Fatalismus. Nur wer danach strebt, seine Kräfte optimal zum Ausdruck zu bringen, kann praktisch beweisen, dass er diese Substanz hat. Aus dem Erfolg lasse sich auf die Existenz der ihn ermöglichenden natürlichen Gaben bzw. auf die Erwähltheit durch Gott zurückschließen.

Die FWL folgt nicht nur der Vorstellung eines archimedischen Punkts. Sie ist nicht nur ein Ein-Punkt-Konzept, das meint, mit der Veränderung eines zentralen Faktors das Ganze verändern zu können. Die FWL hat nicht nur keinen Begriff von der Vernetzung mehrerer Faktoren, die erst in ihren Wechselbeziehungen ein System aufbauen, das eine Emergenz entfaltet und sich die Faktoren unterordnet. Mattick sagt zu Recht, Gesell „war ein Gegner von Zins und Grundrente, weil sie die kontinuierliche Ausweitung der Produktion behinderten“ (Mattick 1974, 13). Gesell ist ein euphorischer Fan der Akkumulation: „Alles in der Natur des Menschen, ebenso wie in der Natur der Volkswirtschaft, drängt auf eine unaufhaltsame Vermehrung der sogenannten Realkapitalien (Sachgüter) hin, eine Vermehrung, die nicht einmal beim völligen Wegfall des Zinses innehält“ (Gesell: Die natürliche Wirtschaftsordnung 6. Aufl. Berlin u Bern 1924, 350). Die FWL ist eine Lehre von begeisterten Anhängern des Kapitalismus, die im Zins einen Hemmfaktor des für die Akkumulation nötigen schnellen Geldflusses sehen.

Literatur:
Berger, Jens: Kritik an der Zinskritik. In: Nachdenkseiten, 23. 8. 2011
Gesell, Silvio 1991: Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld, 4. letztmalig vom Autor überarbeitete Auflage, in : Ders., Ges. Werke, Bd. 11. Lütjenburg
Gesell, Silvio 1995: Der abgebaute Staat. In: Ders., Ges. Werke, Bd. 16. Lütjenburg
Helms, Hans G. 1966: Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Köln
Herr, Hansjörg 1986: Zentralbank und Spielräume alternativer Geldpolitik. In: Projektgruppe Grüner Morgentau (Hg.): Perspektiven ökologischer Wirtschaftspolitik. Frankf. M.
Herr, Hansjörg 1986a : Geld - Störfaktor oder Systemmerkmal? In: Prokla Nr. 63
Holloway, John 1996: Globales Kapital und Nationalstaat. In: Wildcat- Zirkular Nr. 28/29 Mannheim.
Kind, Christoph 1994: Rostende Banknoten. Silvio Gesell und die Freiwirtschaftsbewegung. In: Die Beute H.4
Keynes, J. M. 1936: Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes. Berlin
Krumbein, Wolfgang; Fricke, Julian; Hellmer, Fritz; Oelschlägel, Hauke 2014: Finanzmarktkapitalismus? Zur Kritik einer gängigen Kriseninterpretation und Zeitdiagnose. Marburg
Mattick, Paul 1974: Marx und Keynes. Die Grenzen des „gemischten Wirtschaftssystems“. Frankfurt am Main
MEW = Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke. Berlin (DDR) 1956 ff.
Roth, Rainer 2009: Finanz- und Wirtschaftskrise: SIE kriegen den Karren nicht flott. Frankf. M.
Sandleben, Guenther; Schäfer, Jakob 2013: Apologie von links. Zur Kritik gängiger linker Krisentheorien. Köln
Senf, Bernd 2001: Die blinden Flecken der Ökonomie. München