Jul
05

“Ein geflickter Strumpf ist besser als ein zerrissener;
nicht so das Selbstbewußtsein.”
Hegel

Noch jede spezialisierte Arbeit im Reich der Intelligenz könne ’spannend’ werden, es sei ihr etwas ‘abzugewinnen’, widme man sich ihr nur intensiv genug – eine heute weit verbreitete Auffassung. Ganz lebensunpraktisch im Sinne alltäglicher Selbstmotivierung demgegenüber der Vorbehalt, man möge nicht in der Spezialisierung “ein Detailgeschick treibhausmäßig fördern bei Unterdrückung einer Welt von produktiven Talenten und Anlagen” (Marx). Ebenso unpragmatisch auch die Zweifel an Schule, Gesundheitswesen, Wissenschaft, Sozialarbeit, die unter dem Stichwort ‘bürgerliche Formbestimmtheit’ auch schon mal ein wenig verbreiteter waren. Das Bedürfnis danach, etwas zu tun und sich dessen augenscheinlicher Nützlichkeit zu versichern, wiegt schwerer als die Zweifel am Inhalt des Tuns – vom Gehalt einmal ganz abgesehen. Das Stückchen Welt, die jahrelang mühsam erworbene Kompetenz, wer möchte sich diesen Besitz abspenstig machen lassen? Dumm nur, daß man im Wunsch nach seiner Gegenwart das Gegenwärtige selbst wollen muß.

Gewiß: als unkritisch mag niemand gelten, aber Kritik vom “sozialistischen Standpunkt” aus “das hatten wir doch schon mal”. Tatsächlich hat es die Systemkritik schwer, spricht sie von der [S. 821] bürgerlichen Gesellschaft in der Perspektive des Sozialismus. Schließlich stellen China oder Albanien nicht mehr jene “Leuchtfeuer” dar, die sie einmal für die Maoisten waren. Auch in der DKP greift die Erkenntnis um sich, mit dem Sozialismus werde es hierzulande wohl nichts mehr werden, allenfalls ließe sich im Kapitalismus das Schlimmste vermeiden. Auf diese Schadensbegrenzung sind auch, wenn überhaupt, linke Sozialdemokraten und Grüne festgelegt. Wenn vom Sozialismus nicht mehr die Rede ist, hat sich das in der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft enthaltene Wissen aber deshalb noch nicht erledigt.

‘Nur’ wird der, der diese Kritik teilt, darauf verwiesen zu verstehen, was es heißt, ein Gegner einer Gesellschaft zu sein, für deren Überwindung es keine Aussichten zu geben scheint. Wer das vorher gewußt hätte, hätte sich vielleicht nicht so weit hinaus gewagt. Nun ist es passiert. Aus der je besonderen Konstellation persönlicher Erfahrungen und dem jeweiligen Zeitgeschehen entstehen in den Gravitationsfeldern von Protestbewegungen, so beschränkt sie auch sein mögen, Menschen, die nicht bereit sind, nach dem Abflauen der Turbulenzen zur Tagesordnung überzugehen. Sie haben durch das Zusammentreffen bestimmter Erfahrungen und bestimmter Theoreme die Möglichkeit gewonnen, die Gewißheit zu erlangen, daß man sich in dieser Gesellschaft nicht hat – ist ihr Zweck doch die Vergegenständlichung menschlich-sozialer Verbindung und Entfaltung nicht. “Denn wenn sich auch jedes besondere Fehlende herstellen ließe, es bleibt der unendliche Mangel am Wesentlichen. Und je mehr ich wirklich oder hoffend das Fehlende ergreife, umso deutlicher wird, daß das, was ehemals als bloßes Noch-Nicht verschmerzt werden konnte, jetzt meinem Wesen eingebrannt ist: Ich erkenne, daß ich nicht in der Welt vergegenständlicht bin. …

Nun könnte ich angesichts der Bomben-Nöte, Folterungen und Massenarbeitslosigkeiten frivol klingen, von jenem Leid in gleichem Ton wie vom Hunger zu sprechen. Aber denkt man sich in jene Paniken nur recht hinein, dann sieht man auch da den Abgrund im Innern. Und umgekehrt: Die allgemeinen kulturellen, erotischen Nöte der Satten hier und die ernährungsmäßige der Dritten Welt sind oft nur dadurch zu unterscheiden, daß die Identifizierung aus Angst vor Frivolität nicht gemacht wird: Der Abstand bewahrt vor der Gleichsetzung dessen, was doch keinen psychischen Unterschied zeigt. Armut und Not sind wie Mann und Frau nie gleich, aber sie zeugen immer ihresgleichen” (Zur Motivation der Arbeit in der AK II, München 1975). [S. 822]

In ‘Werten’ mag sich eine solche Gegnerschaft wohl hilfsweise positiv formulieren, der Sache nach handelt es sich statt um das “Bewußtsein eines Zieles” um die “Feststellung einer Unmöglichkeit, nämlich der als Widerspruch und Zerfall begriffenen Welt” (Merleau-Ponty). Weniger geht es um ein positives Wissen als um eine Gegnerschaft, die anhält, die nicht “Leidenschaft des Kopfes”, sondern Kopf der Leidenschaft ist. “Ihr wesentliches Pathos ist die Indignation, ihre wesentliche Arbeit die Denunziation” (Marx).

Im Unterschied zu den Stehaufmännchen des Behagens wird dieser Gewißheit die Unaushaltbarkeit des Lebens in der bürgerlichen Gesellschaft, “der wirkliche Druck, die Schmach”, “noch drückender, indem man ihm das Bewußtsein des Drucks hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller, indem man sie publiziert” (Marx). Die Erfahrung, die das Individuum hat machen können, wendet sich so gegen sein gedeihliches Mittun in den Geschäften und Geschäftigkeiten dieser Welt. Kritik ohne Krise des Individuums wäre keine.

Der Schmerz dieser Gewißheit geht in der Trauer nicht auf. Das ihr zugehörige Bewußtsein befreit auch die eigene Aufmerksamkeit davon, zum Speicher zu werden für Unnötiges und Unbrauchbares, zur Stauung von Zufällen. Radikalität: eine einzige Selbsthilfemaßnahme gegen geistige Umweltverschmutzung, gegen mentale Schundproduktion und Verschwendung. “Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß” (Benjamin).

Aufzuräumen gibt es genug, schließlich legitimiert die Bildung der gebildeten Stände die Gesellschaft durch die Komplexität guter Gründe oder schlechter Sachzwänge und verwirklicht zugleich die eigene ideologische Kompetenz (’Problembewußtsein’). Als praktische Ideologen erfahren sie ihre Ideologie nicht als Ideologie, sondern als praktisch notwendig und ihre Praxis nicht in ihren wirklichen Zwecken und Effekten, sondern nach Maßgabe der Ansichten über sie. Das bürgerliche Bewußtsein steuert übergenug Aspekte bei, unter denen sich die gesellschaftliche Wirklichkeit als Lösung unhistorisch und ungesellschaftlich gestellter Probleme verständlich machen und besprechen läßt. Das Bewußtsein emanzipiert sich von seinem Gegenstand, begründet ihn in der Wendung auf sich selbst und gefällt sich im unendlichen Kommentar, dem alles zum conversation-piece gerät. Hauptsache trendy! Die ‘Entfaltung’ des bürgerlichen Bewußtseins und sein Gegenstandsverlust steigern einander. [S. 823]

Das kann auch für das betroffene Individuum nicht ohne Folgen bleiben. “Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit” (Horvath). Auch wenn sie sich noch so differenziert: Dummheit tut weh und verdrängter Schmerz wird psychosomatisch. Zumindest sollte die durch den bürgerlichen Verstand erlittene Verwirrung und Derealisierung als Berufskrankheit anerkannt werden. Eine der vornehmsten gewerkschaftlichen Forderungen in diesem Bereich müßte sein, die ruinöse Vernutzung des Verstandes in der Arbeit der gebildeten Stände einzugrenzen. Die Marx’sche Kritik der Politischen Ökonomie liefert hier Einsichten, die das Individuum nun wirklich einmal ‘betroffen’ machen können: Als Kritik objektiver Vergeudung hat sie bis in grüne Umbauprogramme hinein Resonanzen erzeugt. Als Kritik der gesellschaftlich notwendigen Verdrehtheit des Verstandes, die den existenziellen Schmerz zustellen und entnennen soll, blieb sie weitgehend unbeachtet. Dabei zeigen die Schriften zur Kritik der Politischen Ökonomie, wie in den objektiven Formen der bürgerlichen Gesellschaft Bewußtseinsformen eingelagert sind: vom Warenfetisch über die Mystifikationen des Geldes, des Lohns, des Kapitals über die Verwandlungen des Mehrwerts, die Mystifikationen der Konkurrenz zu den Verkehrungen der gesellschaftlichen Oberfläche (’trinitarische Formel’ der ‘Produktionsfaktoren’). Bewußtseinsformen wie ‘Freiheit’, ‘Subjekt’, ‘der Mensch’, ‘Nutzen & Sorge, Mangel & Knappheit, Gleichheit & Gerechtigkeit’, ‘Herrschaft’ geraten ebenso in den Blick wie Individualismus & Kollektivismus und Idealismus, Positivismus und Pragmatismus. Zugleich wird gezeigt, wie der Verstand nicht die vergeisterten Verhältnisse denkt, sondern im Geist der Verhältnisse. Das bürgerliche Denken ist heimisch in Schein und in der Verkehrung (”Wenn Unglück sein soll, so muß selbst das Gute Schaden stiften.” (Schiller)). Es spielt auf der Klaviatur des ideologischen Verstandes per formeller Abstraktion, Vergleich, ursprungstheoretischer Letztbegründungsfrage, Faktorenkombination, funktionaler ‘Analyse’, Tautologie und ‘Begriffsschmuggel’. Das bürgerliche Bewußtsein denkt nicht in diesen Formen, sie denken in ihm. Wo qua Psychoanalyse inzwischen eine Ahnung darüber existiert, daß die eigene Unbewußtheit den Individuen abträglich ist, da bleibt das soziale Unbewußte ignoriert.

Nicht nur der Schmerz darüber, auch die Erfahrungen, die einzelne Individuen in den Protestbewegungen haben machen können, fließen als starke Motive der radikalen Kritik zu. Haben Protestbewegungen etwas von Moden an sich, gibt es keine graduelle Steigerung, so erleben doch manche in ihnen, was passiert, [S. 824] wenn für andere die Mode vorbei ist und nur eine Mode war. Chamäleonhafte Wandlungen machen nicht nur die Betroffenen wenig sympathisch, es mag sich auch, ihr Beispiel vor Augen, bei anderen eine gewisse Resistenz dagegen bilden, je nach Bedürfnis- und Kontostand seine Einsichten zu wechseln.

An den eher dramatischen Wechseln schärft sich auch das Augenmerk für die weiter verbreiteten schleichenden Übergänge. Wer wäre nicht schlau genug, sich eine Auffassung zurechtzulegen, um eine auszufüllende Funktion sich im Bewußtsein aufzubereiten, egal wie beliebig und eklektisch sich die ‘Argumente’ dafür miteinander kombinieren müssen. Der Beobachter staunt über die Leichtsinnigkeit der Beteiligten, die schon ihren Mägen nicht über Jahre hinweg derartig wirr gemixte Kost zumuten würden, von ihrem Bewußtsein aber meinen, es sei unempfindlich genug, noch die heterogensten Gedanken miteinander zu vermanschen, ohne Schaden daran nehmen zu müssen. Auf dem Zeitgeist zu surfen, empfindet die Kritik als schales Vergnügen. Ebensosehr schüttelt einen die Harmlosigkeit oder Beliebigkeit derer, die aus allen Anlässen singen können und hinter jedem aparten Blödsinn einen eigenen (’spannenden’) Sinn vermuten, als ob die bürgerliche Gesellschaft nicht wirklich eine wäre und die Relevanzkriterien eines Denkens, dem es um etwas geht, mit ihren Nöten objektiv vorgäbe.

Der Kritik entgehen ebensowenig die vielfachen Versuche, dergestalt das Angenehme und das Nützliche miteinander zu verbinden, daß die Verstiegenheit und Fehlspezialisierung des Verstandes, die als Denksport noch eine Angelegenheit des jeweiligen individuellen Geschmacks wäre, sich auf Themen wirft, die in der Welt auch ein Interesse beanspruchen dürfen. Ganz uninteressant auch die Attitüde, ‘Widersprüche auszuhalten’, wenn es dabei hinausläuft auf “die bekannte Sache mit der Inkonsequenz und den Unvollkommenheiten des Lebens. Man lächelt oder seufzt dazu.” Eine “Mischung aus Verzicht und Affenliebe im Verhalten zum Leben, die sich dessen Widersprüche und Halbheiten gefallen läßt wie eine eingejungferte Tante die Flegeleien eines jungen Neffen” (Musil).

Abstinent zeigt sich die Kritik gegenüber der Neigung, Härten der Welt als sportliche Herausforderung zu nehmen, die abverlangten Zumutungen positiv umzuwerten: ‘Tatkraft’, ‘Energie’ und ‘Durchsetzungsvermögen’. Dem kritischen Menschen fehlt jedes Vergnügen daran, den Mangel an Sinn in der Arbeit zu ersetzen durch die Selbstbegründung per Vergleich in der Konkurrenz, in der die abstrakte Arbeit konkret wird im Leistungsbewußtsein, der Karriere [S. 825] und in der Freude am Ärger, den man anderen machen kann. Die Idealisierung der harten Bedingungen zu Mitteln des Erfolgs und der Selbstverwirklichung – ihr gegenüber hilft ein negatives Wissen, das ausgesprochen positiv ist, verhält es sich doch zum Negativen negativ. Der Wunsch, zu den Arrivierten nicht den Anschluß zu verlieren, treibt die seltsamsten Blüten. Das Wissen und die Gewißheit um die bürgerliche Gesellschaft ist eine einzige Distanzwaffe gegen die Überidentifikation und deren ‘Nebenwirkungen’.

Kritik vermutet hinter allen Ambitionen, sich “einzubringen” oder “selbstzuverwirklichen”, die individuelle Umformung objektiver Gegebenheiten auf eine Meinung hin, die vom Inhalt der Arbeit absieht, folgt sie doch der Absicht, in der Arbeit Kompetenzen des Individuums geltend machen zu können. Auch weite Bereiche der progressiven Berufspraxis dürften von dieser Verkehrung nicht verschont bleiben.

Ebenso unangenehm auch der Kriegsgewinnler und Politikant, bei dem die politische Arbeit sich herausstellt als “Vorwand, um in der einen oder anderen organisatorischen Form ideologisch verschleiert die ökonomischen oder psychologischen Geschäfte zu machen, die im Geschäftsleben sonst in größerer Offenheit an der Tagesordnung sind. … Der Wille, mit dem Aufsteigen nicht zu warten, bis die Produktionsverhältnisse für den Aufstieg aller Ausgebeuteten reif sind, (gibt) dem Politikanten Fingerspitzengefühl und sicheren Instinkt: wann muß man wie weit nach links halten? Wo ist was zu lernen, auszuplündern und abzustauben, um es an geeigneter Stelle einer erstaunten Welt vorzutrompeten? Welche Leute meidet man zur Zeit besser? Wo soll man mitmischen, wo sich einhaken? Wie halte ich mich oben?” (Schwarze Protokolle 3, 1973, S. 18f.)

Besteht die Subjektivität auf ihrem Recht, nicht anzuerkennen, was sie nicht als gut einzusehen vermag, so kommt sie in Zeiten, in denen in der Wirklichkeit selbst die ‘guten’ Kräfte und Konstellationen nicht viel versprechen, in die Bredouille, “nach innen in sich zu suchen und aus sich zu wissen und zu bestimmen” (Hegel, Rechtsphilosophie § 138). In sich selbst Ideale wach zu halten und sich als der Hüter des Guten (den Ausdruck ‘Revolutionswächter’ müssen wir uns versagen) der spröden Welt entgegenzustellen – eine praktisch von vornherein entschiedene Konfrontation, “da die Handlung eine Veränderung ist, die in einer wirklichen Welt existieren soll, also in dieser anerkannt sein will, muß sie dem, was darin gilt, überhaupt gemäß sein” (Ebd. § 132). [S. 826]

Reichlich selbstgenügsam und -zufrieden auch die Feier einer sich in der Differenz zur Wirklichkeit befindenden Subjektivität, die diese Distanz nicht mehr als notwendige Zerrissenheit auch ihrer selbst versteht. Die radikale Kritik denaturiert so zum positiven Besitz. Dabei könnte sie das – sicherlich schwache – Gegengewicht gegen die Sogwirkungen und Attraktionen des friedlichen Übergangs der Linken in die bürgerliche Gesellschaft sein. Und dies auch nur dann, wenn einige Unterscheidungen gegenwärtig sind: “Die kritische Opposition, die nicht ihren entscheidenden Unterschied sieht, ist bloße Modernisierung. Die Kritik, die sich unterschieden weiß, sich aber nicht affirmativ in und mit dem laufenden Leben bewegt, ist nur ein weiterer Snobismus auf dem Markt intellektueller Spielereien. Die Affirmation eines Unterschieds, die ohne Kritik auszukommen glaubt, führt geradewegs zur ironischen, selbstzufriedenen Verfaulung der Anarchisten der Rechten. Die – wenn auch kritische – Affirmation eines Unterschieds, die sich von jeglicher Sozialität fernhält, baut nur den Elfenbeinturm des ‘Genies’, die nur noch in die künstlerische Kompensation, den Selbstmord oder den Wahnsinn flüchten kann.” (Errata 1976)

Der Übergang der Linken in die bürgerliche Gesellschaft ereignet sich auf dem Weg des Opportunismus, der in vorauslaufendem Gehorsam noch die wenigen Chancen der Schadensbegrenzung verschenkt, ganz ebenso wie auf dem Weg der Selbststilisierung des Extremismus. Letzterem ist es praktisch keine Frage und keinen Gedanken wert, wie aus allen Schadensbegrenzungsversuchen noch das Optimum herauszuholen wäre. Der Extremismus stellt sich ihnen entgegen in einer formellen Unbedingtheit, die “die abstrakte Allgemeinheit, die inhaltslose Identität oder das abstrakt Positive, das Bestimmungslose zu ihrer Bestimmung” hat (Hegel). Dieser Radikalismus wird zur Beute des Schematismus und der Überbietung.

Die radikale Kritik wäre nur eine, wüßte sie um ihre Nähe zur Gesinnungsethik, der die Gesellschaftskritik zum Mittel für das Heil des Individuums gerät. Ebenso droht die Entschiedenheit der Gegnerschaft zu denaturieren zur ästhetisch genossenen Intensität und zur heroischen Weltanschauung, in der das Engagement nicht aus einem Grund heraus erfolgt, sondern für die Entschiedenheit selbst. Was die radikale Kritik aus bestimmten zeitgebundenen Konstellationen heraus wurde, ist ihr nun ein einziges Vermögen des Subjekts. Der Enthusiasmus seiner Überzeugungen droht dazu, zur Gewähr für die Wahrheit der von ihm vertretenen Inhalte herhalten zu sollen. Da man sich diese Anerkennung schlecht selbst [S. 827] in eigener Person zusprechen kann, formiert sich das reine Wissen und Gewissen zur Gemeinde: “Der Geist und die Substanz ihrer Verbindung ist also die gegenseitige Versicherung von ihrer Gewissenhaftigkeit, guten Absichten, das Erfreuen über diese wechselseitige Reinheit und das Laben an der Herrlichkeit des Wissens und Aussprechens, des Hegens und Pflegens solcher Vortrefflichkeit” (Hegel). Also Übergang von “extremistischen Ideen” über die “Idee des Extremismus” zum “Bild extremistischer Helden, die in einer triumphierenden Gemeinschaft versammelt sind” (Debord / Sanguinetti). Diese Helden fürchten bei der Arbeit des Negativen das Negative und auch die Arbeit. Der gute Anspruch und die Ungeduld – so lauten nun i h r e Kriterien der Geschichte. Wer sagt, er wolle alles, der sagt es auch, “weil er in Wirklichkeit, ohne jede Hoffnung, das geringste wirkliche Ziel zu erreichen, nicht mehr will als wissen zu lassen, daß er alles will, in der Hoffnung, daß jemand auf Anhieb seine Versicherung bewundert”, ihm das “Trugbild einer Art touristischer Abkürzung zu unendlichen Zielen” abnimmt (ebenda).

Derart ruhmrediges Maulaufreißertum wird von allen, die sich von der Kritik verabschieden möchten und dafür noch nach Vorwänden suchen, in seiner Selbsttäuschung für bare Münze genommen. Es wäre ja auch zu schade, die Gelegenheit verstreichen zu lassen, radikale Kritik mit Selbststilisierung identifizieren zu können. Wunschgegner finden sich. Die “Nüchternheit” als Habitus und Orientierung, dies nun die Perspektive, soll den Schmerz ersetzen können, ohne daß etwas unabgegolten bleibt. Dabei “wissen wir von der Nüchternheit aus der täglichen Erfahrung, daß wenn wir nüchtern sind, wir uns zugleich damit oder gleich darauf hungrig fühlen. Jenes nüchterne Denken aber hat das Talent und Geschick, aus seiner Nüchternheit nicht zum Hunger, zum Verlangen überzugehen, sondern in sich satt zu sein und zu bleiben. Damit verrät sich dieses Denken …, daß es toter Verstand ist; denn nur das Tote ist nüchtern, und es ist und bleibt damit zugleich satt. Die physische Lebendigkeit aber wie die Lebendigkeit des Geistes bleibt in der Nüchternheit nicht befriedigt, sondern ist Trieb, geht über in den Hunger und Durst, nach Wahrheit und Erkenntnis derselben …” (Hegel).