Mai
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Zu einem repräsentativen Beispiel linker Gesinnungspflege und Bekenntnisse

(anlässlich von Bernd Gehrke: Der Kandidat der kalten Herzen. Joachim Gauck und der erhobene Zeigefinger. In: Sozialistische Zeitung, März 2012)
Linke sind personell schwach. So empfinden sie es als tröstlich, sich einzureden, der Gegner schwächele auch. Bernd Gehrke konstatiert eine „tiefe Legitimationskrise des kapitalistischen Regimes in Deutschland“. Starke These. Behaupten kann man viel. Stimmung machen auch („Regime“). Wo sind die Argumente? Gehrke zählt nachfolgend die bekannten Vorwürfe gegen Gauck auf (in Bezug auf Sarrazin, Occupybewegung und Afghanistankrieg). Ein Zusammenhang zur “tiefen Legitimationskrise” wird nicht ersichtlich. “Reaktionäres” und “antisoziale Denken” von Gauck sind keine Belege für eine Legitimationskrise. Auch reicht es nicht, einige unliebsame Statements Gaucks schlagworthaft (ohne Vergegenwärtigung der Argumente) zu zitieren, um Gaucks Denkweise charakterisieren oder kritisieren zu können.
Unser Autor assoziiert zur Überparteilichkeit, die Gauck beanspruche, allerhand Autoritäres und ignoriert das Problem, auf das sich Gauck u. a. beziehen. Dem politischen Betrieb der bürgerlichen Gesellschaft ist die Reibung oder der Zielkonflikt immanent zwischen dem Votum für Parteienpluralismus und für Parteien als Organe der Willensbildung einerseits, einem zweiten Votum andererseits: Die Parteien sollen aufgrund ihrer Profilierung im Wettbewerb untereinander nicht das Gedeihen der bürgerlichen Gesellschaft insgesamt und die Erfordernisse des Regierungshandelns aus den Augen verlieren. Bernd Gehrke fällt zu diesem zweiten Votum “Wilhelm II” und “Hindenburg” ein. Diese Assoziation ist abwegig. Sie übergeht, dass es sich bei der Diskussion um Überparteilichkeit gegenwärtig in der Bundesrepublik um eine Akzentuierung innerhalb eines Spannungsverhältnisses (eben: zwischen dem von allen anerkannten Parteienpluralismus und der Aufmerksamkeit für deren problematische Effekte zulasten der Politik in der modernen kapitalistischen Gesellschaft) handelt. Bei “Wilhelm II” geht es um die Bestreitung der Legitimität des einen Pols dieses Spannungsverhältnisses vom Standpunkt des anderen. An seinem desorientierenden Vergleich der jetzigen Situation mit Hindenburg hätte Gehrke auffallen können, wann es eine “Krise der sozial, politisch und mental auseinander driftenden kapitalistischen Gesellschaft”, die mit “autoritärer Führung” beantwortet soll, gegeben hat. Gehrke möchte Gauck Hintermänner wie Baring und Henkel zuordnen und letztere kritisieren. Keine Kritik an ihnen ist es, ihnen etwas zu unterzustellen, das sie nicht vertreten. Eine “Sehnsucht nach heiler Welt”, wie Gehrke ohne auch nur die Spur eines Nachweises meint, behaupten zu können, haben sie nicht. Die werfen sie ja vielmehr gerade Linken vor.
Eine beliebte Methode, sich Denken zu ersparen, besteht darin, ein Phänomen x als Schritt in eine Richtung y vorzustellen, deren Extrem z dann das Gruseln lehrt. Der Horror vor’m worst case zieht so viel Aufmerksamkeit auf sich, dass man gar nicht mehr genau hinsehen mag. Angstvoll voreingenommen auf die Gefahr fixiert „denkt“ man nicht mehr, sondern deutet vom Ende her. Vor lauter Beflissenheit (”Wehret den Anfängen”) überengagiert wird allerhand als “Vorstufe” etikettiert, das realiter anders zu begreifen ist. Man kennt diesen Alarmismus aus der Erziehung. Eltern, denen gerade nichts Besseres einfällt, sagen schon mal: “Wenn Du weiter mit Deinem Taschengeld nicht haushalten kannst, dann wirst Du nie lernen, mit Geld umzugehen und kommst auf die schiefe Bahn, gerätst in falsche Kreise und endest im Gefängnis.” Die Sorge vor dem schlimmen Ende verstellt dann die Aufmerksamkeit für die real vorfindliche Gegenwart.
Bernd Gehrke hat den Einfall, Gauck als Vorstufe zu Berlusconi und Orbán (Ungarn) zu stilisieren. Aus einem Einfall oder einer Assoziation wird aber noch lange kein Argument. Ein Einfall kann den Anfang dazu bilden, eine Argumentation zu erarbeiten. In Gehrkes Text und in vieler linker Publizistik ist ein Anfang aber oft schon das Ende. Es bleibt bei der Äußerung von Verdacht und Mutmaßung. Der mit der Selbstgenügsamkeit vieler linker Publizistik unerfahrene Leser erwartet naiverweise, der Autor bemühe sich zu zeigen, dass es auch angebracht oder gar inhaltlich notwendig sei, dem Einfall zu folgen (und ihn nicht zu verwerfen). Einfälle gehören zum Reich des Möglichen, Denken zur Sphäre der (argumentativen) Notwendigkeit. Schon jeder Krimi macht es ja vor: Mutmaßungen und Verdächtigungen bilden einen Anfang, die eigentliche Arbeit des Durchdenkens, der Erkundung der Realität, der Verifizierung und Falsifizierung des ersten Einfalls beginnt dann erst. Es müssten also schon mal Gegenargumente erwogen und Gegenbefunde aus der Realität gesichtet werden. Z. B. die Frage, ob die Beispiele Berlusconi und Orbán repräsentativ sind, warum in anderen modernen kapitalistische Staaten nicht “autoritäre Führung” und eine Einschränkung oder gar Überwindung des Mehrparteiensystems auf der Tagesordnung stehen. Warum sollten moderne kapitalistische Gesellschaften überhaupt auf die herrlichen Möglichkeiten verzichten, in der Parteienkonkurrenz Unmut über Politik kleinzuarbeiten und umzuwandeln in Hoffnung auf die Ablösung einer Partei durch eine andere? All dies ist in Gehrkes Artikel kein Thema.
Der dritte Einwand von Gehrke gegen Gauck besteht in zwei Meinungsumfragen (von der Rostocker Ostsee-Zeitung und dem MDR), die eine Ablehnung von Gauck zeigen sollen. Erstens reicht es Gehrke, dass es diese ablehnenden Ergebnisse gibt. Er setzt sie nicht ins Verhältnis zu anderen Umfragen und stellt sich nicht die Frage nach der Repräsentativität. Zweitens bleibt unverständlich, warum Gehrke sich einerseits gegen die Direktwahl des Bundespräsidenten wendet und sich andererseits positiv auf Meinungsumfragen bezieht. Drittens ist das Ergebnis einer Meinungsumfrage kein Argument. Für Linke, die die Meinungen der Leute verändern wollen, schon gar nicht.
Gehrke ist es ein besonderes Herzensanliegen hervorzuheben, dass Gauck nicht zu jenen „Teilen der ehemaligen Bürgerbewegungen der DDR“ zu zählen ist, die Gehrke als „radikaldemokratisch, sozial und ökologisch engagiert“ bezeichnet. Die Befürworter von Gauck dürften darauf mit „ja, und?“ antworten. Sie können hinzufügen, dass die Kräfte, die schon lange vor 1989 in puncto Frieden, Demokratie und Ökologie vor allem unter dem Schutz der Kirche unterwegs waren, einen breiteren Umfang und eine nachhaltigere Wirkung hatten als jene kleinen Gruppen, denen Gehrke in Bezug auf die Bürgerbewegung das Prädikat der Reinrassigkeit zubilligt. Wie kommt Gehrke nur dazu, einen Alleinvertretungsanspruch oder eine Art Monopol für „ökologische“ und „soziale“ Anliegen nur jenen wenigen Bürgerrechtlern zuzuschreiben, die 2001 die von Gehrke erwähnte Erklärung „Wir haben es satt!“ unterschrieben haben? „Sozial“ und „ökologisch“ sind plurale Begriffe. Matthias Platzeck u. a. dürften sich zu Recht gegen das von Gehrke verkündete Dekret verwehren, man könne nicht vor 1989 für solche Belange eingetreten sein und zugleich heute für Gauck stimmen. Gehrke kreidet Gauck an, er sei nicht so wie der kleine Kreis derer, die Gehrke politisch nahe sind. Diese Vorgehensweise ist ein Eigentor. Sie erweckt den Eindruck, unser Autor spreche für Leute, die meinen, sie seien in einer bestimmten Zeit in der DDR ganz zentral gewesen (als wahrhafte und eigentliche Revolutionäre der „friedlichen Revolution“), nur würde dies heute nicht angemessen gewürdigt. Dementsprechend wird Bernd Gehrke auch als Autor des Artikels in der Zeitung wie folgt vorgestellt: „Bernd Gehrke gehörte zum Ende der DDR der Initiative Vereinigte Linke an.“ Es wirkt schon wie ein vergiftetes Kompliment, von jemand allein das hervorzuheben, was er vor über 23 Jahren geleistet hat. Das kennt man doch sonst nur aus der Selbstcharakterisierung von Kriegsveteranen.
Noch schlimmer hat es eine andere Mitunterzeichnerin der von Gehrke genannten Erklärung „Wir haben es satt“ von 2001 erwischt. Gehrke sieht bei den Unterzeichnern dieser Erklärung jene, die im Unterschied zu Gauck länger und konsequenter als Bürgerbewegte aktiv gewesen seien. Im in Münster 1999 erschienenen Band „das war doch nicht unsere Alternative“ heißt es in der Autorenangabe zu R. Hürtgen: „seit 1988 in oppositionellen Gruppierungen unter dem Dach der Kirche aktiv“ (S. 445). Es muss sich bei der Jahreszahl um einen Druckfehler handeln. Denn zu den wahrhaften Bürgerbewegten könnte Gehrke kaum jemand zählen, die dem Zitat zufolge erst in den letzten Monaten „auf den fahrenden Zug aufgesprungen“ sein sollte. Genau das ist es ja, was die wahrhaften Bürgerbewegten Gauck vorwerfen. Die Autorencharakterisierung von B. Gehrke (in der „Sozialistischen Zeitung“) und die Autorenvorstellung von R. Hürtgen (im Buch) drücken eine westlicherseits mangelnde Umsicht im Umgang mit der Geschichte der Bürgerbewegung in der DDR aus.
Gehrke gibt seine privaten politischen Urteile zu Gauck zu Protokoll. Privat verbleiben sie als Kundgabe einer subjektiven Distanz. Die Standpunkte, auf denen Gehrke stehen bleibt, trägt er äußerlich an das von ihm erörterte Thema heran. Unser Autor mag Gauck nicht, er ist ihm politisch unsympathisch. Gehrke ist genervt über Gauck. Und genervt darüber, sich mit ihm auseinandersetzen zu müssen. Die entsprechende Abfertigung ist dann der Kompromiss. Gehrke möchte mit dem Thema fertig sein, bevor er argumentativ mit ihm fertig ist. Er nimmt sein Thema nicht ernst. Überzeugen wird er niemand, der nicht ohnehin jene Antipathie teilt. In diesem Horizont bleibt es bei Geschmackssachen.
Die gegen Gauck ins Feld geführten Standpunkte sollen eine Qualität der Evidenz oder des Selbstverständlichen aufweisen. Wer – so die Annahme – sollte als irgendwie kritischer Mensch nicht gegen Autoritäres, Unsoziales und Undemokratisches sein? Gehrke – und sein Text ist da nur ein Beispiel für viele Artikel in der linken Presse – meint auf der sicheren Seite zu stehen, wenn er die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft (Freiheit, Gemeinwohl, Demokratie) gegen sie ausspielt. Solch selbstgenügsame Standpunktfixierung übersieht, dass es bei all diesen drei Werturteilen (für Soziales ” gegen Unsoziales, für Freiheit ” gegen Autoritäres, für Demokratie) nicht nur äußerst verschiedene, sondern einander widersprechende Möglichkeiten gibt, inhaltlich zu bestimmen, was unter sozial, nichtautoritär und demokratisch zu verstehen ist.
Die Machart des Artikels kulminiert in der Bezeichnung von Gauck als „Kandidat kalter Herzen“. Sie fasst einen Standpunkt zusammen, der meint, weitgehend ohne Argumente, aber mit großem Impetus Kritik üben zu können. Ihr Inhalt schnurrt dann auf „Wärme vs. Kälte“ zusammen. Nur dumm, dass die Zuordnung des Positiven zum eigenen, des Negativen zum kritisierten Standpunkt beliebig ist. Gegner können diese Zuordnung genau gegenteilig vornehmen. Der von Gehrke genannte Henkel z. B. zitiert gern Erhard: „Zu sozial ist unsozial.“ Und Gauck dürfte wie andere bürgerliche Politiker gegen die erhobenen Zeigefinger von Gesinnungsethikern darauf hinweisen, bürgerliche Politik schaffe („verantwortungsethisch“) wenigstens bei allen Hindernissen und Schwierigkeiten etwas „für die Menschen“, während linke Kritiker kalten Herzens im Schmollwinkel überbeschäftigt seien mit der fehlenden Anerkennung für ihre Ideale. Besessen von ihnen – so die Gegenrede – zeigten sie sich über die soziale Realität und über zielführende pragmatischer Politik in ihr als schöne Seelen erhaben. Von Artikeln, die die Lektüre lohnen, ist zu erwarten, dass sie für dieses Diskursjudo aufmerksam sind und nicht naiv und sozusagen egozentrisch gut gemeinte Äußerungen bringen, ohne auch nur zu bemerken, inwiefern in ihnen faktisch Steilvorlagen für die Gegenseite stecken.
Gehrkes Artikel bildet ein prägnantes Beispiel für die in linken Publikationen gern gesehenen Gesinnungsbekenntnisse. Argumentative Auseinandersetzung und nachhaltige politische Bildungsarbeit sind etwas anderes als eine lose und sprunghafte Sammlung von Einfällen, Assoziationen, schrägen Vergleichen und Schlagwörtern.
PS: Selbst wohlmeinende Teilnehmer erleben auf den von B. Gehrke in Berlin ab und an organisierten Veranstaltungen irgendetwas zwischen „ein Kessel Buntes“ oder „Horneberger Schießen“. Vgl. eine Rezension:
http://www.scharf-links.net/48.0.html?&tx_ttnews[swords]=creydt&tx_ttnews[tt_news]=14960&tx_ttnews[backPid]=65&cHash=6275386df9
Meinhard Creydt
Wie manche Linke Gauck nicht inhaltlich kritisieren, sondern ihm etwas anhängen

Sebastian Gerhardt behauptet in seinem Leserbrief vom 4.11.2012 (in „scharf-links“) zu meinem Artikel „Aufgeregte Entrüstung gegen ‚kalte Herzen’“, Gauck sei „bestimmten politischen Konflikten und persönlichen Risiken sehr klar aus dem Weg gegangen“. Gerhardt legt nahe, Gauck habe sich vor Oktober 1989 nicht oppositionell betätigt. Gerhardt sieht es darauf ab, diejenigen, die sich erst 1988 „der Opposition in der DDR“ anschlossen, positiv von Gauck abzuheben, und sieht souverän von einschlägigen Fakten ab.

Seit 1974 beobachteten Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Aktivitäten Gaucks. Über einen Friedensgottesdienst 1982 heißt es: „G. zog in seiner Predigt zum Thema Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Frieden Vergleiche zum Faschismus in Deutschland und unserer sozialistischen Entwicklung in der DDR.“ Es handelte sich um einen „Friedensgottesdienstes in der Heiligen-Geist-Kirche vor rund 250 Jugendlichen“.

In seinem Erinnerungsbuch „Winter im Sommer – Frühling im Herbst“ aus dem Jahr 2009 schreibt Gauck, dass ein Dutzend IM über ihn berichtet haben, sein Telefon abgehört und die Post geöffnet wurde, dass zeitweilig Wanzen in der Wohnung eingebaut waren und heimlich Wohnungsdurchsuchungen stattgefunden hatten.

Friedrich Schorlemmer kritisiert in einem Interview Gaucks politische Auffassungen, spricht aber zugleich von Gauck als „jemand, der sein Leben lang gegen Repression und für Freiheit eingetreten ist“ (Berl. Ztg., 21.2.12, S. 2).

S. Gerhardt meint, der schlagwortartige Hinweis auf Gaucks Ablehnung eines „Kirchentags von unten“ sei alles, was zu Gaucks Taktik in Bezug auf den Kirchentag 1988 zu sagen wäre.
Die DDR-Geheimpolizei hat das damals anders gesehen und den Kirchentag von 1988 wie folgt beschrieben: „Die Kräfte um Bischof Stier (Pastor Gauck, Regionalsekretär Beyer, Oberkirchenrat Schwerin)“ und „weitere destruktive Kräfte“ nutzen den Kirchentag „zur Einmischung in staatliche Angelegenheiten“. Hervorgehoben wird „die Konstruierung eines angeblichen Widerspruchs zwischen der von der Kirche akzeptierten, von Dialog gekennzeichneten Außenpolitik der SED und einer angeblich dialogfeindlichen Innenpolitik; die Erwartung, dass der Staat einen Dialog mit negativen Kräften führt und damit die Existenz oppositioneller Gruppierungen legalisiert; die Darstellung angeblicher Defizite der DDR bei der Verwirklichung der Menschenrechte“ (Auswertungs- und Kontrollgruppe, zit. n. Stolle 2001, 41f.).

Werner Schulz: „Gauck hat Ausreisewillige ermutigt zu bleiben und daran mitzuwirken, das zu verändern, was sie kritisieren und was sie aus dem Land treibt. Allein der Satz: ‚Wir werden bleiben, wenn wir gehen können’, den er 1988 auf dem Rostocker Kirchtag gesagt hat und der DDRweit über die ARD … zu hören war, belegt, dass er sich in einer Zeit als die Ausreisewelle aus der DDR anschwoll und Antragsteller als Staatsfeinde behandelt wurde, mutig für Reisefreiheit eingesetzt hat. Und jemand, der erleben musste, wie drei seiner vier Kinder in den Westen gingen und selber blieb, weil er seine Aufgabe im Osten sah und sich für Veränderungen einsetzte, der besitzt schon höchste Glaubwürdigkeit. Er hat die Ausreisewilligen nicht verstoßen, wie das in etlichen Oppositionskreisen der Fall war. Auch deswegen hat er Anteil daran, dass letztlich die Oppositionsgrüppchen und der breite Ausreisestrom die Kapitulation der SED erzwungen haben.“

„Gauck blieb Pragmatiker, seine Haltung hatte taktische Gründe: 1988 sollte er die Möglichkeit haben, als Vorsitzender des Kirchentagsausschusses den nächsten Rostocker Kirchentag zu organisieren – mit erwarteten 40.000 Zuhörern. Und während er den Offiziellen sein ‚ehrliches Bemühen’ vermittelte, ‚den Kirchentag im Einvernehmen mit den staatlichen Gegebenheiten durchzuführen’, sprach er vor Publikum von ‚stalinistischen Tendenzen im Staatsapparat’. ‚Wie ein Stück Seife’, urteilt Biograf Robers, sei Gauck ‚seinen Häschern’ entglitten. Die Taktik ging auf: Gauck war mittlerweile zu prominent, um ihn für solche Äußerungen zu sanktionieren“ (Eines Tages – Zeitgeschichte auf Spiegel online
http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/24407/pragmatiker_im_pfarramt.html).

Es gibt an Gaucks Positionen viel zu kritisieren. Man soll das dann aber auch inhaltlich tun und nicht dem Gegner unbekümmert um die Fakten Negatives anhängen. Gerhardts Einfälle folgen dem Motto der Gestaltschließung: Gauck vertritt heute ablehnenswerte Positionen, also kann er auch in der DDR nur ein Anpasser gewesen sein.

Gehrkes Artikel und Gerhardts Leserbrief verdeutlichen das Vorgehen jener Fraktion der Linken, der es eher um Stimmung machen geht als um Argumentieren. „Sie begeben sich gar nicht in die Dinge selbst, in die Fragen selbst hinein, sondern glauben darum über ihnen zu sein, weil sie nicht in ihnen sind“ (Adorno). Man stellt sich nicht den Gegenargumenten und verlegt sich darauf, autosuggestiv daherzureden und den Bekehrten zu predigen. Fremd ist solch selbstgenügsamen Geistern die Einsicht, dass Ignoranz nicht das Medium der Freiheit bildet.