[1]" /> Die institutionellen Strukturen nachkapitalistischer Gesellschaften. Ihre Ordnung im Gefüge von Allgemeinheit, Besonderheit und Selbstverhältnis » Meinhard Creydt
Jul
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Kritik formuliert sich aus faktischer Schwäche und taktischem Kalkül oft nach den Maßstäben der bestehenden Gesellschaftsform. Ihrer besseren Erfüllung und der Überbietung von Konkurrenten dabei gilt dann die Aufmerksamkeit. Notwendig ist es demgegenüber, dem pragmatischen Zirkel zu entkommen, in dem »Probleme« nach Maßgabe von »Lösungen« formuliert werden und sich das Bestehende dergestalt pseudonym in Frage und Antwort verdoppelt. Auch wenn eine nachkapitalistische Gesellschaft gegenwärtig als unwahrscheinlich erscheint, kann dies für Gesellschaftstheorie nicht heißen, dass die paradigmatische Differenz zur bestehenden Gesellschaftsform selbst bereits als naiv oder regressiv gelten muss. Meine Skizze ordnet die Vielfalt von institutionellen Vorschlägen für die nachkapitalistische Gesellschaft nach dem Gefüge von Allgemeinheit, Besonderheit und Selbstverhältnis. [2]

Die ›Allgemeinheit‹ (A) beinhaltet, dass alles in der Gesellschaft vermittelt ist mit einem in sich differenzierten und stimmigen maßgebenden Paradigma. Die ›Besonderheit‹ (B) bezieht sich auf die moderne Differenzierung der Gesellschaft. Es stellen sich an den jeweiligen besonderen Orten Aufgaben, deren Bearbeitung nicht aus der Allgemeinheit deduktiv abgeleitet werden kann. [3] Unter das ›Selbstverhältnis‹ (S) fallen die gesellschaftliche Integration, die Prioritätenermittlung und -durchsetzung sowie die gesellschaftliche Selbstreflexion.

Allgemeines und Besonderes

Das allgemeine Paradigma, das die nachkapitalistische Gesellschaft durchdringt (A), entsteht aus der Verarbeitung der Erfahrungen mit dem Verständnis von Gesellschaft als Evolutionsresultat aus Marktprozessen und als Aggregat aus Subsystemen, mit dem Lob des Pluralismus [4] und des Flickenteppichs der Minderheiten (vgl. kritisch dazu Creydt 1999a). Die Renaissance des Leitbildbegriffs (vgl. Barben 1999) zeigt den Bedarf nach A an. Schon in den Diskussionen um Nachhaltigkeit, um Globalisierung oder um einen erweiterten Arbeitsbegriff entstehen materiale Vorschläge für A. Es bedarf besonderer Organisationen und Institutionen, die das allgemeine Paradigma des Welt- und Selbstverständnis vergegenwärtigen und sozialisatorisch weitergeben. Das paradigmatische Leitkriterium in der nachkapitalistischen Gesellschaft ist nicht quantitativ (Profit, Bruttosozialprodukt u. ä.), sondern besteht in der »Praxis«, d. h. der Entfaltung menschlicher Sinne und Fähigkeiten im sozialen Stoffwechsel als gelingendem Gefüge von Arbeiten und Tätigkeiten, ihren Resultaten und Voraussetzungen im Bezug der verschiedenen Bevölkerungsgruppen zueinander. [5]
Bei allen Leistungsvorteilen der Differenzierung und bei allen mit ihr verbundenen Gewinnen an Weltentfaltung werden die bereichsspezifischen Logiken und Sprachen für einander zum Problem, für A (Verselbständigung von B gegen A) und auch für sich selbst (Erstarrung, Selbstlauf, Ritualisierung von Organisationen und Institutionen).
Demgegenüber hegen Vermittlungsarbeiten die Verschiedenheit, das Nebeneinander und Aneinandervorbei ein und machen die eine Besonderheit durchsichtig auf andere Besonderheiten, auf die sie unmittelbar und mittelbar bezogen sind entlang der Schnittstellen im sozialen Stoffwechsel. Anzustreben ist eine Vielfalt von Kontakten, Hospitationen, Netzwerken zwischen

  • den unmittelbar Arbeitenden und der technischen Intelligenz zur Erhöhung nicht nur der Produktqualität und Produktivität der Arbeit, sondern zur Erhöhung der (auch, aber nicht nur: ergonomischen) Lebensqualität in der Arbeit selbst;
  • Hand- und Kopfarbeit aufgrund des sinkenden Nutzens ihrer Trennung in automatisierter Produktion (vgl. PAQ 1987: 57 - 59, 76);
  • Konsumenten und Produzenten. Sie können in einer Vergegenwärtigung der jeweils anderen Wirklichkeit ihre Aufmerksamkeit schärfen für das wirklich Gebrauchte [6] bzw. für den Verbrauch menschlich unattraktiver Lebenszeit in der Arbeit, die für ein Produkt in Kauf genommen wird.
  • Spezialisten und Experten einerseits, den von ihnen Beratenen, Betreuten usw. andererseits;
  • Betrieben und Versorgungseinrichtungen, um eine ökologische Verbundwirtschaft herzustellen,
  • Schule und unmittelbarer Arbeitssphäre qua polytechnischer Erziehung, Arbeitsschule usw.

Die selbst nach aller gesellschaftlich aufzubringenden Anstrengung nicht zu verringernden unattraktiven, repetitiven und bloß ausführenden Arbeiten auf alle Arbeitsfähige aufzuteilen – dies wirkt der Enthebung der höher Qualifizierten von der Realität der dürftigen Arbeiten entgegen. Eine ähnliche Rotation betrifft auch die Haus-, Erziehungs- und Betreuungsarbeiten.
Not-wendig ist »eine Art gesellschaftlicher Patronage des Marktpublikums über das Unternehmen« (Buß 1983: 79) durch »kommunikative Marktöffentlichkeit«. Sie verwirklicht »öffentliche Belange« »als eine integrierende Komponente unternehmerischer Entscheidungen« (Ebd. 91). Bürgerinitiativen, Organe und Stiftungen haben »das gemeinsame Ziel, Daten und Informationen über Art und Ausmaß der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen zu sammeln und öffentlich zu verbreiten« (ebd. 103). Die Marktöffentlichkeit avanciert zu einer »Kontrollinstanz … . Die Tatsache der Öffentlichkeit wird präventiv in dem Sinne, dass sich die Unternehmen unter der steten, interessierten Beobachtung des Marktpublikums wissen« (ebd. 102). Umwelt- und Sozialbilanzen bilden dafür die einschlägigen Auskunftsmittel. Es kommt zu einer »prinzipiellen Erweiterung unternehmerischer Leitlinien« und einer »öffentlichen Revidierung traditioneller Autonomieansprüche« der Unternehmen (ebd. 81). Anzustreben ist, dass sich »langfristig die Unternehmenssubstanz und der Unternehmenserfolg nicht nur aus der Struktur, der Organisation und dem Kapital eines Unternehmens herleitet, sondern auch aus dem Maß an verbindlicher Geltung außerökonomischer Zielkataloge in der unternehmerischen Alltagspraxis« (ebd. 85).
Die Öffnung der verschiedenen Subsysteme auf ihr In-der-Welt-Sein, das Vorhaben, die Grenzen nicht nach außen zu überschreiten, sondern nach innen zu öffnen, kommt vor allem auch der jeweiligen Besonderheit zugute. Es geht um die Erweiterung des Aufmerksamkeitsfokus von Organisationen und Subsystemen aufgrund der Kritik an den bspw. lern- oder gesundheitsabträglichen schulischen oder medikalisierenden Problemtransformationen und Ausblendungen. Es geht um die Überwindung der Unmittelbarkeit von B, insofern sie den jeweiligen den Bs emanzipatorisch zurechenbaren ›eigentlichen‹ Aufgaben (z. B. Lernen, Arbeit an der Krankheit u. a.) zuwiderläuft.
Die Ausdifferenzierung setzt durch die Konzentration auf die jeweilige Besonderheit Intelligenz, Fähigkeiten und Sinne frei gegenüber molar-monolithischer Allgemeinheit und führt zugleich zu einem subsystemspezifischen Tunnelblick, zur Selbstimmunisierung durch sensibilitätsverringernde Orientierung an der Selbstbeschreibung der eigenen Organisation und Profession. Die eng geschnittenen Zuständigkeiten gehen mit einem Wegdiffundieren und Externalisieren ungelöster Probleme in die organisierte Verantwortungslosigkeit einher. Im Unterschied zur tragizistischen Vorstellung vom unausweichlichen Verlust von A in den Bs wird A in und aus ihnen in dem Maße hervorgebracht, wie – die Kritik an den einzelnen gesellschaftlichen Bereichen erfordert dies – die Erfahrungen verarbeitet werden mit der in ihnen herrschenden gegenseitigen Steigerung von Überspezialisierung und der formellen Allgemeinheit administrativer Organisationsmodi.
Um Welt- und Sinnlosigkeit des Tuns (in der präzise von Anders (1988: 364 ff., 389) herausgearbeiteten Bedeutung [7]) zu überwinden, sind die Maßstäbe des Nutzens, extrinsischer Prämien, des unmittelbaren Praktizierens der Effizienz sowie der privat-nachträglichen subjektiven Umdeutung des Tuns zur ichkonsonanten Tätigkeit zu überwinden zugunsten eines Sinns für menschliche Gegenwart. Die Probleme der Ausdifferenzierung und Spezialisierung sind mit ihrem Erfolg sichtbar geworden und stellen die unmittelbare Freisetzung der Besonderheiten ebenso in Frage wie den zugrundeliegenden Leistungsbegriff und seine partialisierte, entkontextualisierte ergebnishafte Zielverwirklichung auf Kosten der Teilhabe des Leistungsträgers am jeweiligen ›Ganzen‹.
Es geht in den besonderen Tätigkeiten im Sinne von Praxis nicht nur um die Erreichung des jeweiligen Teilinhalts, sondern darum, das allgemeine Paradigma auf die jeweils besondere Weise zu verwirklichen. Die Produkte und Tätigkeitsresultate sind als Kuppelprodukte und Mehrzweckgebilde zu realisieren, die nicht nur einen isolierten Nutzen bedienen, sondern im in sie eingehenden Arbeiten und Tätigsein, in der mit ihnen ebenso produzierten wie vorausgesetzten gegenständlichen Umwelt und in den sozialen Verhältnissen die Entwicklung menschlicher Sinne und Fähigkeiten als inneren Zweck durchsetzen.
Der gegenwärtigen hypertrophen funktionalen Ausdifferenzierung muss die Rückverbundenheit in ein sie nicht nur formell zusammenfassendes oder -haltendes, sondern sich in sie hinein und durch sie hindurch bildendes Ganzes eingearbeitet werden. Das Ergebnis wäre dann keine monolithische Einheit, die gerade den Vorgang der Ausgliederung zurücknehmen und in allem nur den Doppelgänger des mit sich einigen, aber sich nicht immanent differenzierenden Wesens sehen würde.
A kann nicht von außen per Zwang und Dekret die autonome Eigenproduktivität und -kreativität der ausdifferenzierten Bereiche dirigieren, sondern würde die erst dezentral und spezifisch mögliche Intelligenz mit derlei Übersteuerung nur behindern. Vielmehr entsteht A erst durch die Selbstreflexionen der Bs. A wird in B als etwas gewiss, das im jeweils spezifischen B nur auf bestimmte Weise hervorgebracht wird. Nicht die Zweckvorgabe und -anwendung entscheidet, sondern die Arbeit daran, im jeweiligen Bereich ihn selbst auf A hin aus- und durchzuarbeiten. Dazu befähigt nur die jeweilige spezifische Intelligenz der Erziehenden, Techniker usw. selbst. In der Schule bspw. dominieren weniger gute Vorsätze als der »heimliche Lehrplan«.
In der Reflexion der Bs auf einander und auf sich geht es darum sicherzustellen, dass die Bereiche von sich aus die »Umweltverträglichkeitsprüfung« i. w. S. realisieren, »welche versucht, die Folgen einer bestimmten Optionenwahl, vor allem deren nicht-intendierte Folgen, auf die Systeme in der Umwelt des handelnden Systems zu reflektieren« (Willke 1996: 323 f.). Die Freisetzung von Optionenvielfalt ist an einem neuen Maßstab zu messen: den kollektiven Gütern einer Gesellschaft (ebd. 134).
Aufgrund der Folgen einer von kollektiver Rationalität abweichenden bereichsspezifischen Rationalität müssen Systeme instandversetzt werden, ihre Binnenperspektive zu transzendieren. Gefragt ist Urteilskraft, um in den verschiedenen besonderen Bereichen herauszufinden, wie A erst in bzw. durch B verwirklicht wird – und umgekehrt. Damit »wäre der Eckpfeiler herkömmlicher Staatstheorie erschüttert: der fraglos angenommene Bedarf der Gesellschaft nach einer zentralen, hierarchisch übergeordneten Steuerungsinstanz. Denn dann wäre der Gedanke zugelassen, dass Organisationen und Korporationen – mit der Fähigkeit zu kollektivem Handeln, intern regulierter Transformation, Selbstthematisierung und Reflexion – auch über die Weitsicht verfügen, sich im eigenen Interesse vor sich selbst zu schützen. Dies geschieht etwa dadurch, dass sie sich selbst gegenwärtig binden – wie Odysseus vor den Sirenen –, um einer drohenden zukünftigen Irrationalität vorzubeugen« (Willke 1996: 139).

Selbstverhältnis

Mit dem Selbstverhältnis (S) werden die Selbstkonstitution, -steuerung und -reflexion thematisch. Es gilt zu vermeiden, dass aufgrund der unbewusst fortgeschleppten gegenwärtigen Prämissen jede Bearbeitung gesellschaftlicher Integration festgelegt wird auf die herrschende Komplementarität der Freisetzung von Besonderheiten und ihrer formellen Synthesis (Markt, Bürokratie usw.) oder auf das Entweder-Oder von evolutionärem Selbstlauf und Außensteuerung. Zugleich kann und soll weder eine ›ganzheitliche‹ Werte-Einheit noch ein ›normatives Paradigma‹ die gesellschaftliche Differenzierung übergehen.
Die Gegensätze zwischen den Bs in der »funktionalen Differenzierung« und die sozialen Dilemmata (aufgrund von Interessengegensätzen) verweisen auch auf die vorherrschenden Synthesismodi – und damit auf A. Indifferenz, Konkurrenz und Nullsummenspiele auf den verschiedenen Märkten, Hierarchie in Organisationen, Subsystemegoismus (inkl. deformation professionelle), Distinktion im Kampf um Status und Prestige bauen aufeinander auf. Wer hier nur gesellschaftliche Differenzierung oder Pluralismus erblickt, übersieht, wie bspw. die imaginäre Flucht aus der Konkurrenz in wenigstens imaginär unvergleichbar-aparte Lebensstilenklaven die Konkurrenz noch in postmoderner Vielheitsemphase negativ unterstellt und positiv reproduziert. Der Pluralismus soll nicht zugunsten eines diversitätsphobischen Reinheitsgebotes eliminiert werden, sondern kann nur zu(m)grundegehen: Die Wertschätzung der erscheinenden Vielfalt und ihrer Selbständigkeit relativiert sich an der Vergegenwärtigung ihrer Konstitution (vgl. dazu Creydt 1999a).
Not-wendig ist die Veränderung der Synthesismodi und die Transformation der für die Individuen gesellschaftlich zentralen Beteiligungsmotive, Sanktionen und Anreize. Mit der Verwirklichung eines die Menschen auf qualitative Weise vermittelnden Paradigmas, der anfangs definierten »Praxis«, geht eine Abwertung der den Privatinteressen, der Distinktion u. ä. eigenen Prämien einher. Die Teilnahme und Teilhabe an der Gestaltung eines sinnvollen sozialen Stoffwechsels verträgt keine isolierten Maximierungen und Konkurrenzen und macht sie ebenso unnötig wie den kompetitiven Eifer. Die Internalisierung der umsichtigen Wahrnehmung konstitutiver Voraussetzungen und Effekte des eigenen Tuns in es selbst verschafft die menschliche Gegenwart eines In-der-Welt-Seins im Unterschied zur Identitätsstiftung qua Statushypostase, zur Fixierung auf Fachidiotentum, zur Weltlosigkeit durch Lebensstilkleinstaaterei, zum materiellen und kulturellen Besitzindividualismus und zur selbstwertdienlichen Selbststilisierung.
Der Integrationsbedarf als Aufwand zur Vermittlung divergenter Interessen oder Gesichtspunkte sinkt durch

  • den Abbau gesellschaftlicher Gegensätze (Aufhebung des Kapital-Arbeit-Gegensatzes),
  • den Abbau gesellschaftlicher Disparitäten und die Überwindung des Primats profitabler gegenüber sorgenden, pflegenden, regenerativen Tätigkeiten,
  • die Vergrößerung kollektiven Konsums und des Bewusstseins für den allgemeinen, nur durch das Zusammenwirken aller zu erreichenden und zu sichernden Reichtum,
  • die schon ökologisch notwendige Überwindung des Besitzindividualismus,
  • die Entkopplung des Zugangs zu attraktiven Lebensumständen vom individuellen Geldeinkommen aufgrund des gesellschaftlichen Ziels der Gestaltung attraktiver Lebensumstände für alle. Damit mindert sich auch der Druck, mit der eigenen Arbeitskraft ein hohes Einkommen zu erzielen und diesem Zweck andere Belange unterzuordnen.
  • die Abwertung von Positionsgütern,
  • die Aufwertung und den Bedeutungsanstieg der Freude an sinnvollen Arbeiten und Tätigkeiten i. S. von »Praxis«,
  • das In-Rechnung-Stellen der ›Unkosten‹ der Konkurrenz,
  • die Aufhebung isoliert neben- oder gegeneinanderstehender Interessen aufgrund ihrer Vergegenwärtigung als Momente von Rückkopplungsschleifen und Vernetzungsgefügen. Die sozialen, ökologischen u. a. Interdependenzen und Maßverhältnisse setzen einem lokalen Maximieren Grenzen. Vorausgesetzt sind Erfahrungen über die Unkosten der Externalisierung und Exklusion. Bereits der Länderfinanzausgleich zeugt davon, wie selbst für die reicheren Bundesländer innerhalb eines hochgradig vernetzten ökonomischen Gefüges ein übermäßiger Niedergang anderer Bundesländer negativ auf sie zurückwirkt.

Grundlage der gesellschaftlichen Integration ist die aus den Erfahrungen der Gegenwart entstandene Erfahrungsverarbeitung oder Präferenzhierarchie, in der die Arbeiten zunächst ex negativo durchgemustert werden. Gefährliche, verschwenderische, unsinnige, überflüssige, belanglose, unattraktive Arbeiten sind umzuorganisieren, zu verringern, zu stoppen oder zu vermeiden. Wesentlich wird hier das Schwinden der Bedingungen ihrer Notwendigkeit und ihrer Nachfrage sein. Wie in der Agrarindustrie muss auch an den Gebrauchswerten anderer zentraler Branchen (Auto-, Chemie-, Energieindustrie usw.) die Kritik sich ausdehnen, vertiefen und zu einer praktischen Umsteuerung führen.

Institutionen und Supervision

Zur gesellschaftlichen Zielfindung sind Einrichtungen notwendig, die die gesellschaftliche Informations- und Wissensinfrastruktur gesellschaftlich aneignen (vgl. Willke 1997), so dass auf der Grundlage eines gesicherten Zusammenhangs- und systemischen Rückkopplungswissens sowie seiner Vergegenwärtigung in plastischen Szenarien und Sensitivitätsmodellen (vgl. bspw. Vester 1984: 33, 35, 45) entschieden werden kann, welchen Stellenwert welche Arbeiten zur Verwirklichung einer von Praxis geprägten Gesellschaft haben. Ich denke hier an ein fortzuentwickelndes ›Sozialpolitisches Entscheidungs- und Indikatorensystem‹, an die auszubauende Technikfolgeabschätzung und das Konzept MIPS (Material-Intensität Pro Serviceeinheit (Schmidt-Bleek 1993)), das die Umweltbelastungsintensität von Gütern und Dienstleistungen misst.
Solche Indikatoren betreffen die gesundheitlichen, die psychologischen, die sozialen, die die Teilhabe der Individuen an der Gesellschaftsgestaltung betreffenden Quantitäten und Qualitäten der Arbeiten, deren Resultate und mittelbaren Effekte. Solche sozialen Indikatoren ermöglichen es, die unterkomplexe Bemessung von Arbeiten und Gütern durch den Preis (s. Kraemer 1997: 199 ff.) zu überwinden. Diese Konkretisierungen von »Praxis« (inklusive der ihr entsprechenden sachlichen, zeitlichen und räumlichen Maße des gesellschaftlichen Stoffwechsels) markieren zentrale Querschnittsproblematiken. Sie hegen die soziale Differenzierung und Pluralisierung ein und stellen die Gesellschaft einigende Foci dar, ohne der Vorstellung einer monozentrischen sozialen Welt zu frönen.
Mit der Selbstbewertung an diesen Maßstäben wird die Selbstreflexion der Gesellschaft auf das jeweils Erreichte und Ausstehende möglich und damit überhaupt erst im emphatischen Sinne Volkswirtschaft: als Abwägen der Mittel in ihren Zusammenhängen und Nebenfolgen angesichts aller Ziele, so dass es zu einer rangordnungsgemäßen Widmung von Mitteln, (Zwischen-)Zielen und Zwecken kommt und Großes nicht für Kleines vergeudet wird. [8]
Die Selbstgestaltung der Gesellschaft wäre keine, wäre sie nicht reflexiv. Hierzu gibt es erstens negative, ausschließende, präventive Arbeiten und die ihnen entsprechenden Institutionen. Sie betreffen die mit den gestiegenen technischen Risiken und »normalen Katastrophen« (Perrow) notwendigen fehlerfreundlichen Technologien und Organisationsstrukturen (Guggenberger 1994) sowie die Selbstunterstellung des »aufgeklärten Volkswillens« unter einen »›auto-paternalistischen‹ Vorbehalt« angesichts bspw. des Gegensatzes zwischen Mehrheit und Minderheit und des anlässlich spektakulärer Verbrechen immer wieder aufflammenden Verlangens nach der Todesstrafe (Offe 1992: 140 f.).
Zum gesellschaftlichen Selbstverhältnis im Sinne von »Praxis« gehören zweitens Arbeiten der Gestaltung und Steuerung der gesamtgesellschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten und die entsprechenden institutionellen Vorkehrungen. Sie verarbeiten die Erfahrung, »dass der ›Wille‹ des Volkes ein Artefakt derjenigen institutionellen Verfahren ist, die wir vorgeblich nur in seiner Messung verwenden. Der Volkswille besteht nicht vor diesen Verfahren und unabhängig von ihnen, sondern er entsteht in ihnen« (Ebd. 129). Maßgebend bei der Gestaltung ist die Frage, welche institutionellen Arrangements es erlauben,

  • eine Berücksichtigung weit in die Zukunft weisender Folgen gegenwärtigen Handelns nicht nur zu antizipieren, sondern auch praktisch gegenüber dem Sog des Kurzfristigen durchzusetzen;
  • die sachlichen Zusammenhänge von Entscheidungen den Wählern aufzubereiten. Denn mit der Komplexität der Probleme wachsen die für Entscheidungen notwendigen orientierenden Vorleistungen.

Die eigene Logik der Emergenz (das »Ganze« ist mehr – oder weniger – als seine »Teile«) ist dann Thema. Dörner (1992) zeigt die Schwierigkeit für Gesellschaftsmitglieder, auf dieser Ebene zu denken. Dem Paradigmenwechsel von der Produktion isolierter Güter zur Produktion der gesellschaftlichen Verhältnisse gemäß gilt der Qualität des Bewusstseins und der öffentlichen Diskurse eine ganz andere gesellschaftliche Aufmerksamkeit als beim gegenwärtigen Wildwuchs. Beim Autofahren wird inzwischen an eine turnusmäßige Erneuerung des Führerscheins gedacht, bei der gesellschaftlichen Willensbildung werden keine Voraussetzungen an Wissen und Urteilskraft für nötig befunden.
Drittens tragen Arbeiten der Supervision und Kontextsteuerung und ihre institutionellen Formen zu einem gesellschaftlichen Selbstverhältnis im Sinne von »Praxis« bei. Die Selbstreflexion der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Bereiche auf ihre Wirkung auf andere Bereiche, auf das gesellschaftliche Ganze und auf die Entwicklung des gesellschaftlich herrschenden Paradigmas findet in der auf die gesamte Gesellschaft bezogenen Selbstgestaltung einen Außenhalt und eine Verstärkung mit eigenständigen Arbeiten der »Supervision« und »Kontextsteuerung« (Willke).
Der Supervision liegt eine gesellschaftliche Erfahrungsverarbeitung über die Grenzen von naturwüchsiger Einregulierung und staatlicher Steuerung zugrunde. Supervision will nicht selbst ein bestimmtes Problem lösen, »sondern bestenfalls autonomes Problemlösungs- oder Problemmanagementverhalten stimulieren.« Dem jeweiligen Bereich werden »innerhalb seines eigenen Operationmodus und seiner eigenen Freiheitsgrade solche Optionen unterbreitet (und durch eine entsprechende Gestaltung von Kontextbedingungen annehmbar gemacht), welche die systemische Autonomie nicht verletzen, aber z. B. andere oder geringere negative Externalitäten produzieren« (Willke 1996: 135). Supervision befördert im Unterschied zu einer bloßen Optimierung den »Reflexionsprozess, in welchem die unvermeidlichen blinden Flecken und Kurzsichtigkeiten des Entscheidungsprozesses in irgendeinem Funktionssystem deutlich gemacht und probeweise als kontingent behandelt werden. … Die Funktion von Supervision liegt dann darin, das zum Vorschein zu bringen, was die Akteure im Prozess der ursprünglichen Entscheidung selbst nicht sehen konnten. (Wohlgemerkt: nicht nur was sie nicht sehen, sondern was sie nicht sehen können.)« (Ebd. 335 f.)
Aufgrund der Autonomie der Bereiche folgt die Supervision der Perspektive, Änderungen in ihnen nicht dekretiv, sondern durch Anregungen und Motivierungen zur Selbständerung zu bewirken. Die Supervision vermag in bezug auf die Selbständerung am Widerspruch in den jeweiligen Bereichen anzuknüpfen zwischen systemtypischer Problemtransformation und Weltausblendung einerseits, Erkenntnissen, Fähigkeiten und Sinnen der Tätigen andererseits. Die systemtheoretische Hypostasierung der Autonomie der Systeme lässt sich durchkreuzen mit der Konstitutionstheorie, die nichtfunktionalistisch den Aufbau der verschiedenen Bereiche als Momente der modernen kapitalistischen Gesellschaft zeigt. Die Erkenntnis des Doppelcharakters von Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften (vgl. Creydt 2000: 216 ff.) unterminiert die (affirmative und pseudokritische) Hypostasierung der Systemgeschlossenheit. Mit dem Doppelcharakter findet sich die paradigmatische Differenz zur bestehenden Gesellschaftsform in ihr selbst. [9]
Viertens wird die Reflexion auf die Grenzen der Institutionalisierung von gesellschaftlicher Selbstgestaltung notwendig. Es stellt sich dabei die Frage, inwieweit die Institutionalisierung zivilgesellschaftlichen Engagements es gerade untergräbt, und es fragt sich, was zu institutionalisieren ist und wofür eher Räume offen gelassen werden sollten. Allerdings treten zu den bspw. von Luhmann (›Legitimation durch Verfahren‹) gezeigten, von Institutionen ausgehenden Entmutigungseffekten gegenüber gesellschaftlicher Gestaltung weniger evidente Effekte hinzu – der Stabilisierung von Institutionen durch die Subjektivierung von Ethos und Vernunft. Wo Moralisierung subjektiv im Vordergrund steht, werden die objektive Dissoziation der Individuen und das Fehlen institutioneller Verwirklichung von Assoziation, Sozialität und Verantwortung ratifiziert. Demgegenüber »verschiebt sich das Verantwortungsproblem zunehmend von der unmittelbaren Handlungsverantwortung zur vorgelagerten Designverantwortung« für soziale Systeme (Bühl 1998: 25).
Supervision, Revision, Controlling, »kommunikative Marktöffentlichkeit« u. a. stellen auszubauende und zu entwickelnde reflexive Institutionen dar, die die Distanz auf das Bezugsobjekt ihm als konstitutives Moment einbauen. Die »Möglichkeit der kritisch-beurteilenden Bezugnahme auf institutionelle Prozesse (beruht) nicht unmittelbar auf dem Selbstbewusstsein«, sondern ist Moment der Institution selbst. Indem sie sich »gleichsam selbst beobachtet, entlastet sie die Individuen von permanenter Institutionenbeobachtung. … Institutionen als Daseinsweise von Freiheit« haben »Distanz zu ihrer Unmittelbarkeit gewonnen bzw. gewinnen sie immer wieder« (Reusswig 1991: 299). Sie entlasten nicht allein von der Reflexion, sondern zur Reflexion hin.

Das Gelingen und das Misslingen des Gefüges von Allgemeinem, Besonderem und Selbstverhältnis

Das Selbstverhältnis beinhaltet nicht allein die Vermittlung zwischen A und B, sondern hat einen eigenen selbständigen Wert. Wenn »die Freiheit ist, ein Bestimmtes zu wollen, aber in dieser Bestimmtheit bei sich zu sein und wieder in das Allgemeine zurückzukehren« (Hegel 7: § 57 Zus.), so gehen von diesem Selbstverhältnis eigene Imperative aus. Für A bringt S spezifische Kriterien mit sich: A kann weder in den Bs ausfließen, so dass es pantheistisch nicht außerhalb der Geschöpfe (der Bs) ist, noch deistisch außerhalb ihrer Geschöpfe bleiben, so wie der Uhrmacher gegenüber der Uhr. [10] Für die »Wiedererzeugung des Allgemeinen aus dem Einzelnen (den Objekten)« (Fischer 1865: 519 f.) bedarf es einer eigenen Gestaltung der Besonderheiten und ihres Zusammenspiels. Notwendig sind »kollektive Entscheidungsprozesse darüber, Komplexität nicht nur unilinear zu steigern und soziale Prozesse eindimensional zu differenzieren, sondern Komplexität reflexiv und mehrdimensional zu steigern, um sie ggf. auch entdifferenzieren zu können. Damit wäre es möglich, gesellschaftliche Tätigkeiten selbstbestimmt zu verteilen, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zu entzerren, soziale Zusammenhänge aufzulösen, in denen unverantwortliche Verantwortlichkeiten entstehen, die jedes Entscheidungsgremium und jede Person notwendig überlasten müssen« (Demirovic 1991: 54). Nicht nur sachlich (Komplexität) und räumlich (Veränderung der Größenverhältnisse, vgl. Creydt 1999b), auch zeitlich verändern sich in der Perspektive von »Praxis« die Maße – hin zur Entschleunigung, zur Verringerung des Zeitdrucks durch Konkurrenz und extensives Wachstum und zur Verringerung der Diversifizierung produktiver Kräfte in »Scheininnovationen und defensiven Produktveränderungen«. Ihnen rechnet Rammert (1983: 160 f.) »85 – 90 % der Projekte in den industriellen Forschungs- und Entwicklungsabteilungen« zu.
Die drei Momente A, B und S verweisen bereits ex negativo aufeinander:

  • A ohne B wäre die bloß formelle Allgemeinheit und Einerleiheit (die Abstraktion von der Besonderheit oder deren Unterwerfung unter die Wertabstraktion, bürokratische Formalisierungen usw.) oder – bezogen auf einen bestimmten Inhalt – das durch jede Konkretisierung nur verfälschbare Ideal.
  • B ohne A wäre die Bornierung im Besonderen oder die babylonische Sprachverwirrung im Nebeneinander inkompatibler Sphären, Minderheiten usw., die gegenseitige Hemmung der verschiedenen Bs oder die bloß äußerliche Balance. Aus der Aggregation partikularer Perspektiven entsteht kein Allgemeines und die Akteure scheinen sich zueinander zu verhalten wie »in sich nicht zusammenhängenden Welten« (Fichte). Ohne Verortung des Besonderen im Aufbaugefüge droht die Besonderheit verarbeiten zu müssen, was sie nicht verarbeiten kann [11], und tendiert dazu, sich zu totalisieren. Jeder Bereich bildet dann seine Weltsicht heraus und rundet sich zum Kosmos ab. Störendes wird marginalisiert oder vereinnahmt.
  • A ohne S wäre die extensive Gegenwart allgemeiner Werte, eine theozentrische Unfreiheit unter dem Diktat oberster Werte, das Herrschen des Monologs. Die der Selbstgestaltung entzogene substanzialistische »Wahrheit« soll die Einheit in der Vielfalt verbürgen.
  • S ohne A wäre Dezisionismus und Voluntarismus, das Improvisieren und Sich-durch-Wursteln, Adhocratie.
  • B ohne S wäre die Behauptung von Partikularinteressen und -belangen sowie die zentrifugale Eigendynamik von Institutionen und Organisationen ohne die Selbstgestaltung der Gesellschaft.
  • S ohne B wäre die Überlastung von Entscheidungen ohne die in die besonderen, ausdifferenzierten Bereiche ausgegliederten Kompetenzen und Kapazitäten.

Im Amalgam von A, B, S verkleben die nicht in ihrer bestimmten Aufbauordnung jeweils bestimmt aufgefassten Momente, wie wir es in den Weltanschauungen oder den Medien erleben müssen. [12]
Eine Verselbständigung von A besteht in der ihr eigenen Gestaltschließung, die um Willen ihrer Immanenz und Homogenität das Äußere nur okkasionalistisch oder symbolisch fasst und zum Medium der Selbstentfaltung von A moduliert. Die ihrer Eigenstruktur beraubten Bs lassen sich wohlfeil für das vermeintlich Allgemeine vereinnahmen. A hat die Tendenz, nur an sich, nur für den denkenden Beobachter, nur theoretisch (»im Begriff«) wirklich zu sein. B hat es mit dem Problem des Selbstverlustes an die Besonderheiten zu tun. In S liegt die Gefahr nahe, die Selbstkonstitution ebenso zu fingieren wie die Vermittlung von A und B in S, die zugrundeliegende Problematik zu ermäßigen und zu überspielen – bspw. zugunsten paradox-religiösen Trostes (vgl. bspw. affirmativ Hegel 6: 648; 10: 26). Ihm zufolge steigert gerade der äußerste Widerspruch die Versöhnungsbereitschaft. Auch die beschauliche Ruhe, die das Differenzdenken an der Differenz als seinem ein und alles findet, bringt sie um jede Spannung – ein negatives Idyll. [13]
Das Gefüge der drei Momente wird von einem Selbstzweck innerviert, der Resultat, Voraussetzung und aktivierendes Moment ist. »Praxis« bzw. der Geist ist nicht, sondern er- und verarbeitet sich. Der Selbstvermittlung des Geistes ist die Entgegensetzung zu sich in der Verobjektivierung seiner selbst wesentlich. [14]
Weil es dem Geist nicht um besondere poiesis geht und er in einzelnen, von seiner Tätigkeit unabhängigen Ergebnissen nicht enden kann, »tritt (der Geist) … gegen sich selbst auf, verzehrt die Form seiner Gestaltung und erhebt sich so zu neuer Bildung« (Hegel 1955: 35). Die Verobjektivierung des Geistes unterscheidet sich von seiner Verdinglichung. So hat der Geist im Unterschied zum Glück des Kindergottes nicht nur zu arbeiten, sondern auch zu kämpfen – nicht zuletzt gegen sich selbst. Gesellschaftsstrukturell heißt dies, die millenaristische Utopie der Integration der Bs in die Sittlichkeit (als gelungenem Gefüge von A, B und S) ebenso aufzugeben wie den systemtheoretischen Verzicht auf Sittlichkeit zugunsten des freien Spiels der Systeme. Das emphatische Selbstverhältnis der Gesellschaft erfordert einerseits die Überwindung der göttlichen Komödie, die Differenzen »immer schon überwölbt und einbehalten« sein lässt in eine »beisichbleibende Einheit« (Menke 1991: 495), andererseits die Überwindung der modernen Komödie, der »jede Differenz als ein Verhältnis gleichgültigen Nebeneinanderseins« erscheint (ebd.). Der Eigensinn und die Verselbständigung von Ökonomie, Technik, Verwaltung usw. lassen sich nicht differenzlos aufheben. Das sittliche Selbstverhältnis kann diese Sphären »nicht als legitim akzeptieren und zugleich gar nicht anders denn als notwendig einsehen. … Deshalb kann die sittliche Praxis sich weder ihre Ansprüche integrieren noch sie restlos unterwerfen: sie vermag sie nur zu ›bezwingen‹, indem sie ihr ›einen Teil ihrer selbst überlässt und opfert‹ (Hegel 2: 494)« (ebd.), z. B. Energie und Ressourcen für die Arbeit an der Durchdringung der Heteronomiesphären mit Praxis und auf Praxis hin.
Eine Hierarchie der Arbeiten und Tätigkeiten in Bezug auf das gelungene Gefüge von A, B und S (= »Praxis«) wird notwendig. Wir haben es mit Produktionen, Diensten, Infrastrukturen und Verwaltungen zu tun, die für Massengesellschaften notwendig sind, zugleich aber »Praxis« infragestellen. Für eine durch »Praxis« bestimmte Gesellschaft stellt sich die Frage nach der Proportion, die es ermöglicht, jene Notwendigkeiten der Verwirklichung von »Praxis« unterzuordnen. Die notwendigen Bereiche haben es mit Massen an Materien zu tun, die allein mit Spezialisierung, langen Handlungsketten und deren unübersichtlicher Vernetzung, Routinisierung, bürokratischen Neutralisierungen usw. zu »bewältigen« sind. Diese »Bewältigung« geht mit der Opakheit, Trägheit und Serialität (Sartre) des Sozialen einher und führt zur Verselbständigung der Bs und der formellen Allgemeinheiten gegenüber den Individuen. Sie wiederum vermögen keine sinnvollen Arbeiten und Tätigkeiten mit derlei As und Bs zu verbinden, sondern wissen nun das Selbstverhältnis allein individuell in der Kultivierung ihrer Persönlichkeit zu realisieren (vgl. Creydt 2000, 3. Teil).
Zur Verringerung der so begründeten Entgegensetzung zwischen »System« und »Lebenswelt« (sensu Habermas) bedarf es einer doppelten Relativierung – auf der Systemseite die der Produktivitäts- und Effizienzgewinne und in der Lebenswelt die der Kultivierung des Selbst – sowie der Arbeit daran, die gegenseitige Steigerung von »System« und »Lebenswelt« rückzubauen. [15] Das Reich der Freiheit existiert nicht neben und unabhängig vom Reich der Notwendigkeit. Nur wo die Arbeiten, Tätigkeiten und sozialen Verhältnisse des Individuums es erfüllen und zugleich zur Welt hin öffnen, nur wo Tätigkeiten und Arbeiten als das, was sie von Menschen sind, zugleich inhaltlich das sind, was sie für Menschen sind (vgl. zur institutionellen Konkretisierung auch Girschner 1990: 172ff.; Ulrich 1993: 434), nur dort entsteht für das Individuum nicht der Drang, in sich selbst eine Ganzheit durch allerhand künstliche Gestaltschließungen, Selbststilisierungen und Überhebungen imaginär zu bewerkstelligen. Für die (im emphatischen Sinne) bürgerliche Gesellschaft ist die Zentrierung um die Subjektautonomie konstitutiv (vgl. Willms 1982; Barber 1994). Not-wendig ist demgegenüber eine Zentrierung des Denkens um den Menschen als nicht nur faktisch, sondern auch für sich selbst wesentlich soziales Wesen. Im nachbürgerlichen Paradigma steht die Teilnahme und -habe der Menschen am gesellschaftlichen Stoffwechsel und seiner Gestaltung im Zentrum. Wenn die Entwicklung der menschlichen Sinne und Fähigkeiten das Leitkriterium des gesellschaftlichen Stoffwechsels ist, und zugleich diese menschlichen Fähigkeiten und Sinne nicht außerhalb der Teilhabe und -nahme an Arbeiten und Tätigkeiten von Menschen für Menschen zu denken sind, so bildet die »Praxis« die Mitte, durch die sich Individuum und Gesellschaft aufeinander beziehen, ohne miteinander identisch zu sein oder sich zueinander als Teil und Ganzes oder Bedingung und Wesen zu verhalten.
Dem In-der-Welt-Sein der Individuen und der Ver-mitte-lung von Individuum und Gesellschaft steht auf der Seite der Gesellschaft die Eigenstruktur und Emergenz des Sozialen gegenüber, auf der Seite des In-dividuums die Einzelheit, also seine Eigenstruktur. Wir stehen also in bezug auf Praxis vor der Koexistenz von positiver Interdependenz und Independenz zwischen Gesellschaft und Individuum. Dass die Mitte des nachbürgerlichen Paradigmas auch »gebrochen« (Meulen 1958) ist, stellt es nicht tragizistisch infrage, sondern bildet die ›Unruhe‹ einer nachkapitalistischen Gesellschaft, die bei allen strukturellen Vorkehrungen für die Ermöglichung des In-der-Welt-Seins der Individuen und der Konvivialität von Organisationen und Institutionen mit »Praxis« sich keinerlei prästabilierter Harmonie und millenaristischer Versöhnung sicher wähnen kann, muss und will.

Anmerkungen
[1] Für Kritik und Diskussion bedanke ich mich bei Dr. Brigitte Hahn und Dr. Michael Kohlstruck.
[2] Ich knüpfe an Hegels einschlägigen Überlegungen an. Sie sind für Gesellschaftstheorie bislang kaum fruchtbar gemacht worden. Der prinzipielle Unterschied zwischen Gesellschaftstheorie und Philosophie sowie die für die gesellschaftstheoretische Verwendung unumgänglichen Einbußen an Hegelimmanenz mögen dazu beigetragen haben. Ich »ersetze« Hegels Terminus ›Einzelheit‹ durch ›Selbstverhältnis‹.
Hegel wird gemeinhin primär als Dialektiker wahrgenommen, obwohl für ihn nicht nur in seiner Gesellschaftstheorie (›Rechtsphilosophie‹), sondern auch in seiner Logik das bestimmte Gefüge von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit die (auch die Dialektik) übergreifende Einheit bildet. Erst von ihr her erschließt sich die spezifische Rolle der Hegelschen Dialektik – im Unterschied zu vielfältigen anzutreffenden Verabsolutierungen der Dialektik, sei sie nun positiv oder negativ gefasst, zum Dreh- und Angelpunkt des Denkens.
[3] In einer »reflexiven Ethik« »verläuft die Vermittelung nicht nur in eine Richtung von den Zielen zu den Mitteln, sondern (ist) wechselseitig, indem sie auf der Grundlage eines erweiterten Mittelbegriffs auch inhaltliche Vorgaben für moralische Normen macht« (Rohbeck 1993: 271). Es stellt sich also nicht nur die Frage, ob bspw. Fotografie (B) Kunst (A) ist, sondern, ob Fotografie den Begriff der Kunst selbst verändert.
[4] Eine Gegenprobe wäre zu fragen, ob Vielheit das unmittelbare Ziel der Kultur abzugeben vermag oder nur die Folge einer lebendigen und freien Kultur sein kann, in deren Zentrum die zwanglose Einheit der Menschen steht. Antithetisch zur Zwangsvereinheitlichung, die alle(s) über einen Leisten schlägt, führt das Votum für Vielheit allzu leicht dazu, die Aufspaltung der Bevölkerung in indifferente und feindliche Gruppen naiv pluralistisch zu affirmieren. Auch die Forderung nach Einheit übergeht die Arbeit an den Gründen ihrer Nichtexistenz und verhandelt das Phänomen ebenso im Modus der Vorstellung wie die Vielheitsemphase.
[5] Vgl. zu »Praxis« u. a. Hassenpflug 1990, Demmerling 1994, Creydt 1999.
[6] »Öffentliche Entwicklungswerkstätten für Produktentwicklung und -innovation« (vgl. auch bspw. die holländischen Wissenschaftsläden) sind »der geeignete Ort, an dem Ideenträger, Experten, Nutzer und Produzenten zusammenkommen und gemeinsam nach Lösungswegen suchen« (Forschungsprojekt 1994: 31).
[7] Anders bindet Sinn an die Vergegenwärtigung der Gründe und Effekte des eigenen Tuns und ihrer Konstitution im sozialen Zusammenhang.
[8] Ich kann hier aus Platzgründen auf meine Darstellung angelsächsischer Vorschläge zur ›Sozialisierung des Marktes‹ und ›partizipatorischen Planung‹ nur verweisen. Vgl. Creydt (2001). Für politische Institutionen vgl. bspw. Barbers Vorschläge (1994) und Tiefenbach (2002).
[9] Gesellschaftskritik vermag sich dann auf jene in der bestehenden Gesellschaftsform hervorgebrachten Sinne, Fähigkeiten und Kräfte zu beziehen, die zu einer nachkapitalistischen Gesellschaftsform im Sinne von Praxis tendieren. Gesellschaftskritik ist dann möglich ebenso ohne den anfangs genannten pragmatischen Zirkel wie ohne die Konfrontation von Ideal und Wirklichkeit der Gesellschaft. In ihr scheint am Ideal dessen Beitrag zur Reproduktion der herrschenden Realität in Gestalt deren verfremdender (eben: idealisierender) Artikulation nicht mehr auf.
[10] Dem Geist ist weder Selbstgenügsamkeit noch ein immerseiendes Sein eigen, er hat seine Wirklichkeit nur in der »Vermittlung der Objektivierung.« Er muss sich »eine Welt ausbilden«, damit er »sich seiner bewusst werde, dass er ein wirklicher Geist sei« (Hegel 1955: 131). Geist existiert nur als »Anwesungsgeschehen in den Werken der Menschenwelt« (Riedel 1976: 57).
[11] »Ohne die Antezipation jenes strukturellen Moments, des Ganzen, das in Einzelbeobachtungen kaum je adäquat sich umsetzen läßt, fände keine einzelne Beobachtung ihren Stellenwert« (Adorno 1976: 127).
[12] »Wir wissen nichts über Krebs, aber wir verstehen sofort, inwiefern der Terror Krebs der Gesellschaft ist. Wir wissen nichts über die wirklichen Ursachen von Wirtschaftskrisen, begreifen aber sofort, dass die Regierung notbremsen muss« (Link 1982:11).
[13] Aus Platzgründen verzichte ich hier darauf, das Gefüge von A, B und S auf das von Begriff (»Grundlage« Hegel 6: 245, 569), Idee (»Übereinstimmung des Begriffs mit der Realität« ebd. 290) und Geist (das sich erst vermittels seiner Entäußerung zu sich selbst Entwickelnde) zu beziehen. Beide Ordnungen sind nicht hierarchisch strukturiert, sondern kreisförmig (ebd. 570 f.). Die Hegelsche Schlusslehre stellt dar, wie jedes der drei Momente »ebensowohl die Stelle eines Extrems als auch die der vermittelnden Mitte einnimmt« (Hegel 8: § 187). Ebenso muss ich auf die Diskussion der Frage verzichten, inwieweit Hegels Konzeptualisierung des Verhältnis Geist-Natur für das Verhältnis von Praxis zu den gesellschaftlich notwendigen, aber Praxis infragestellenden »sekundären Systemen« (Freyer), dem »System« (sensu Habermas) oder der »Heteronomiesphäre« (Gorz) lehrreich ist.
[14] »Der Geist ist Tätigkeit in dem Sinn, in welchem schon die Scholastiker von Gott sagten, er sei absolute Aktuosität. Indem nun aber der Geist tätig ist, so liegt darin, dass er sich äußert. Man hat deshalb den Geist nicht als prozessloses ens zu betrachten, wie solches in der alten Metaphysik geschehen, welche die prozesslose Innerlichkeit des Geistes von seiner Äußerlichkeit trennte« (Hegel 8: § 34).
[15] »Das sachliche Abhängigkeitsverhältnis ist nichts anderes als die dem scheinbar unabhängigen Individuum gegenüber verselbständigten Produktionsbeziehungen« (Marx 1974: 81).

Literatur
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