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Andere Schwerpunkte setzen in der Beurteilung der Gegenwart

(erschien in Telepolis, 14.1. 2024)

Der Erfolg der Wirtschaft, die Höhe des Einkommens und die Zahl der Arbeitsplätze dominieren heute als Kriterien. Viele setzen inzwischen die Beachtung ökologischer Imperative dazu. Wir stellen eine Bilanz der Gegenwart jenseits dieser Erfolgsmaßstäbe vor.

Bei den Linksliberalen bis zu den Linken – die Übergänge sind fließend – interessieren sich die allermeisten für Umverteilung, Arbeitnehmerrechte, Ökologie und den Schutz von Minderheiten, derer es immer mehr zu geben scheint. Diese Anliegen sind begrüßenswert, nicht aber deren Verabsolutierung. Sie findet solange statt, wie diesen Anliegen in der Öffentlichkeit andere zentrale Nöte untergeordnet bleiben.

Die Überarbeitung vieler Menschen wirft die Frage nach der Verringerung der notwendigen Arbeit auf. Der Bedarf nach Produkten würde sich reduzieren, wenn der geplante Verschleiß wegfällt. „Müssten die Verbraucher nicht ständig neue Produkte kaufen, weil die alten zu früh kaputtgehen, blieben ihnen im Jahr 100 Milliarden € übrig“ (Süddeutsche.de, 20.3.2013). (vgl. a. Kreiß 2014.)

Werden Güter ausgeliehen bzw. von mehreren Personen und nicht nur von ihrem jeweiligen Privateigentümer benutzt, so sind weniger Produkte und weniger Arbeit erforderlich. Zum gleichen Resultat führt der Ausbau von öffentlichen Gütern. Ein Verkehrssystem, in dem Busse, Bahnen und Sammeltaxis dominieren, bedarf viel weniger Produkte und Arbeit als der gegenwärtig vorherrschende motorisierte Individualverkehr (vgl. Paulsen 2020).

Verzichten lässt sich auf Produkte, die nur dem Profit nützen. Dies betrifft

  • die Produktion von Nutzlosem: „Die Hälfte der modernen Medikamente könnte man aus dem Fenster werfen, wenn man nicht Angst um die Vögel haben müsste“ (Martin Henry Fischer),
  • die Produkte, bei denen vor lauter Geschmacksverstärkern der Nährwert gegen Null geht. Dies betrifft nicht nur die Ernährung, sondern auch mediale Angebote (z. B. „Kitsch“);
  • die Produkte, die einen problematischen Zustand von Fähigkeiten, Sinnen, Sozialbeziehungen und Reflexionsvermögen voraussetzen, bestätigen und befördern. Vgl. u. a. die Bildzeitung, die Yellow Press, die Pornographie sowie ein großer Anteil der Computerspiele.


Der Mangel an gesellschaftlich sinnvoller Arbeit bzw. Tätigkeit

Viele Lohnabhängige halten zu Recht die Produkte oder Dienstleistungen, die sie zu erbringen haben, für wenig gesellschaftlich sinnvoll.

„Das Meinungsforschungsinstitut Yougov hat vor einigen Jahren in Großbritannien eine Umfrage gemacht mit der Frage ‚Leistet ihre Arbeit einen sinnvollen Beitrag zur Welt?’ 37 Prozent verneinten dies, 13 Prozent waren sich nicht sicher“ (Frankfurter Rundschau 4.1. 2019). Auf die Frage „Haben Sie den Eindruck, dass Sie mit Ihrer Arbeit eine wichtigen Beitrag für die Gesellschaft leisten?“ antwortete 29% der Befragten (bei der DGB-Umfrage über ‚Gute Arbeit’ 2022 mit „gar nicht“ oder „in geringem Maße“ (DGB 2022, 36).

Selbst ein bekannter Managementautor wie Reinhard Sprenger betont, wie wenig der Mangel an sinnvoller Arbeit durch Einkommen kompensierbar ist. Er traf nach 30 Jahren die Teilnehmer einer Managementausbildung wieder, bei der er Trainer war.

„Alle waren erfolgreich, verdienten ausnahmslos viel, im Einzelfall sehr viel Geld – aber keiner war richtig glücklich. Jedenfalls nicht über sein Berufsleben. [...] Die Jobdesigns fokussieren sich fast ausschließlich auf eine Binnen-Rationalität, sind an Effizienz, Finanzzielen und Benefits orientiert. [...] Niemand soll glauben, dass Unternehmen so etwas wie Arbeitsfreude entstehen lassen, wenn sie am liebsten ohne den ‚Umweg’ über den Kunden ihren Kapitalmarktwert erhöhen wollen […]. Wie einer der Teilnehmer sagte: ‚Dass wir wussten, dass wir mit unserer Arbeit das Leben unserer Kunden verschönern [...] mein Gott, ist das lange her!’“ (Sprenger 2019).

Für das gute Leben ist es zentral, den Menschen zu ermöglichen, sich mit ihren Produkten bzw. Dienstleistungen sinnvoll auf deren Empfänger bzw. Kunden zu beziehen. Dafür muss eine Ökonomie überwunden werden, deren erste Frage lautet „was steigert die Rendite, was fördert das Kapitalwachstum“?

Das Bruttosozialprodukt steigt auch, wenn bspw. mehr Autos verunglücken, mehr Abschleppwagen ausrücken und mehr Neukäufe notwendig werden. Die Mainstream-Linke ist auf die Umverteilung zwischen Kapital und Lohnarbeit fokussiert bis fixiert. Dieser Umverteilung schafft günstigenfalls höhere Löhne, aber nicht eine für die Arbeitenden und für die Kunden gute Arbeit.

Der Mangel an Arbeiten, in denen die Arbeitenden ihre menschlichen Vermögen betätigen und entwickeln können
Zur Beurteilung von Lebensqualität innerhalb der Arbeitszeit hilft die Frage: „Gibt diese Tätigkeit mir etwas, das mich am Ende des Tages eine ‚gute Müdigkeit’, eine ‚erfüllte Erschöpfung’ spüren lässt? Damit meinen wir das Gefühl, am Ende eines Tages viel Energie eingesetzt zu haben für Dinge, die es wert sind, getan zu werden? [...] Hilft diese Tätigkeit mir dabei, zu wachsen, zu lernen und mich weiterzuentwickeln? Bin ich dankbar, dass ich diese Aufgaben erledigen kann, und habe ich das Gefühl, dass meine Lebenszeit hier gut investiert ist?“ (Förster, Kreuz 2013, 204).

Es gilt, die Arbeit so zu gestalten, dass sie für die Arbeitenden attraktiv ist und nicht als lästige Zumutungen empfunden wird, die man am liebsten auf andere abwälzen würde. Das heißt, das Arbeiten gesellschaftlich so zu gestalten, dass es „nicht weiterhin ausschließlich unter dem Blickwinkel der Produktion (ihrer Steigerung) oder des Konsums (der immer anspruchsvoller wird), dafür umso mehr unter dem Blickwinkel der Kultur, als menschlicher Wert betrachtet wird“ (Bitot 2009, 90f.).

In der Gesellschaft des guten Lebens ist die Arbeit bzw. Tätigkeit nicht nur Mittel zum Zweck, sondern wird auch daran gemessen, wie sie zur Entwicklung der menschlichen Sinne, Fähigkeiten und Reflexionsvermögen beiträgt. Sie bilden sich in dem Maße, wie sie sich mit ihrem (weit verstandenen) Gegenstand auseinandersetzen.

Erst in diesen Prozessen werden dem jeweiligen Individuum seine Sinne, Fähigkeiten und sein Denken zum Thema. Der Abstand zu ihnen bildet ein für ihre Entwicklung wesentliches Moment. Indem ich mich auf einen Gegenstand konzentriere und mich auf die meinem unmittelbaren Wollen und Meinen gegenüber heterogene Objektivität (das „Gegen“) des Gegenstands einlasse, gewinne ich eine reflexive Distanz zu mir.

Wer diesen Wert des Arbeitens für die Arbeitenden begreift, sagt ja zur Arbeitsteilung und nein zur Überspezialisierung. Daraus folgt, das „Produktionsziel reiche Individualität“ ebenso zu einem zentralen Kriterium der Ökonomie zu machen wie die „Verkürzung der psychologisch unproduktiven Arbeitszeit innerhalb der notwendigen Arbeitszeit“ (Bahro 1977, 489, 495).


Anthropozentrische Produktionstechnologie

Für die Bundesrepublik wie für die frühere DDR gilt: „Die gesellschaftlichen Aufwendungen für die Entwicklung der Produktionsmittel sind zumeist nur sekundär oder überhaupt keine Aufwendungen für die Entwicklung der Bedingungen subjektiver Fähigkeitsentfaltung und individuellen Genusses in der Arbeit“ (Brie 1990, 140). Not-wendig ist eine Technik, „die menschliche Arbeit nicht allein unter ihren funktionalen Aspekten für die Produktion“ betrachtet, „sondern als eigenen Bezugspunkt für die Entwicklung von Produktionskonzepten“ (Pekruhl 1995, 116).
Das Ziel ist „nicht allein die Bewältigung je gegebener Arbeitsaufgaben, sondern auch die Gestaltung und Weiterentwicklung der Arbeitstätigkeit selbst“ (Ebd., 118). Anzustreben ist eine Technologie, „die von den Arbeitern dazu verwendet werden könnte, bestimmte Bereiche ihrer Tätigkeit zu automatisieren, ohne jedoch gleichzeitig den lebendigen Arbeiter zum bloßen Anhängsel der ‚lebendigen Maschinerie’ zu degradieren“ (Löw-Beer 1981, 93).
Gefragt ist eine „Rückkehr der menschlichen Hand in den Produktionsprozess, die sie nicht wieder an ihn kettet“ (Heinemann 1982, 184). Es geht um einen Paradigmenwandel in der Technik und in den entsprechenden Forschungs- und Entwicklungsprozessen.

Der Stress
Eine zentrale Zumutung, die die Menschen schwer belastet, ist der negative Stress. Er entsteht aus der Überlastung mit Arbeit, aber auch aus gegensätzlichen Handlungsanforderungen.

Im kapitalistischen Erwerbs- und Geschäftsleben bewegen sich die Beteiligten in Gegensätzen zwi-schen Verausgabung von Arbeitskraft und deren Erhalt, Unterordnung und Selbständigkeit, Wahrnehmung von Interessen und Anpassung, Konkurrenz und Kooperation, Unabsehbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung und langfristiger individueller Planung (vgl. Kaplonek, Schroeter 1979).

Die individuelle Existenz in der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist zudem durch Gegensätze zwischen den zentralen Sphären der Gesellschaft geprägt. Eine die Individuen belastende Unverträglichkeit besteht bspw. zwischen der Orientierung an Erwerbsarbeit und Beruf einerseits, an der Familie andererseits. Erfolg in der gegenwärtigen Arbeitswelt heißt häufig, objektiv sehr stark von ihr absorbiert zu werden und sich monokulturell in die Themen der Arbeit zu vertiefen, immer mehr zu arbeiten und damit den Kontakt zu andersartigen „Welten“ – z. B. der der eigenen Kinder – zu verlieren.

Wer den negativen Stress als zentrale Zumutung, unter der Menschen leiden, ernst nimmt, kann es nicht bei erbaulichen Sonntagsreden belassen. Es gilt, die gesellschaftlichen Ursachen für gegensätzliche Handlungsanforderungen zu überwinden und die Gesellschaft so zu gestalten, dass Stress-schaffende Gegensätze abgebaut werden.

Der Zustand der die menschliche Sinne und Fähigkeit entfaltenden gesellschaftlichen Gegenstandswelt

„Unser Lebensraum ist von Verarmung bedroht, und diese Verkümmerung wirkt zurück auf unabsehbare Menschenmassen, lässt ihr Interesse an dieser verödenden Umgebung erkalten“ (Adolf Portmann, zit. n. Warwas 1977, 12).

Gegenüber einer Fixierung auf das schöpferische Tun sind die Gegenstände zu würdigen, an denen sich menschliche Sinne und Fähigkeiten bilden können. Die Stadt- und Landschaftszerstörung zeigt dies auf negative Weise. Bauten sind für Menschen nicht nur faktisch notwendig, sondern tragen dazu bei, wie sich Mentalitäten entwickeln.

Der Architekt und Philosoph Georg Franck beschreibt die Wirkungen weiter Bereiche der gegenwärtigen Stadtbauwelt („zusammengewürfelte Zwischenstädte, Vororte und Gewerbegebiete“) auf die Menschen prägnant: „Da unterscheidet die Bauweise häufig nicht zwischen den Behausungen für Menschen und Müllcontainer. […] Wer hier aufwächst, kommt mit dieser Situation am besten zurecht, indem er abstumpft und eben nicht darauf achtet, wo er ist und wo er sein will“ (Franck 2009, 41, 44).

Weite Abschnitte der Gegenstandswelt, an der sich Sinne erst bilden können, sind in modernen kapitalistischen Gesellschaften durch Verwahrlosung charakterisiert. Dies betrifft neben großen Bereichen der Stadtbauwelt den öffentlichen „Nah“verkehr, viele Billigklamotten aus Ramschläden und viele Medien. Daraus entsteht eine innere Distanz. Sie ist „weniger einer Unempfindlichkeit für das Schöne als dem Verlangen geschuldet, sich gegen jene Traurigkeit zu wappnen, die uns überkäme, wenn wir ständig und überall spürten, wie sehr es am Schönen mangelt“ (Botton 2008, 15).

Das Elend, das aus dem Mangel (an Objekten) entsteht, ist das eine. Das Überangebot an Objekten, die massiv dazu beitragen, die Sinne und Fähigkeiten auf problematische Weise zu entwickeln, schafft eine andere Misere.

Die Verselbständigung der gesellschaftlichen Strukturen (z. B. der Ökonomie) gegen das Wohl der Bevölkerung
In der Bevölkerung ist das Bewusstsein weit verbreitet, kaum Macht und Einfluss auf die Entwicklung der Gesellschaft zu haben. Das ist angesichts der Übermacht der gesellschaftlichen Mechanismen realistisch. Sie sind den Menschen über den Kopf gewachsen.

Not-wendig wird es, die Gesellschaft so zu gestalten, dass die Bevölkerung souverän ist über das Wirtschaften und über die Gesellschaftsgestaltung. Wenn gegenwärtig von „Grenzen des Wachstums“ die Rede ist, so geschieht dies meistens lediglich aus ökologischen Motiven.

Niemand muss für „small is beautifull“ plädieren, um festzustellen: Es gibt Ausmaße der Größe und Komplexität von Räumen und Materien, die deren gesellschaftliche Gestaltung massiv erschweren bzw. infrage stellen. Beispiele dafür sind die globale Vernetzung, gegenüber der für Deglobalisierung einzutreten ist (vgl. Creydt 2021), und die Komplexität moderner Großtechnologien (Schiffe, Kernkraftwerke, Weltraumflüge).

Die Risiken komplexer und eng gekoppelter Systeme
„Seine Prozesse laufen sehr schnell ab und lassen sich nicht ohne weiteres abschalten, die ausgefallenen Aggregate lassen sich nicht von den übrigen Bauteilen isolieren, oder es besteht keine andere Möglichkeit, einen ungestörten Produktionsablauf zu gewährleisten. [...] In diesem Fall wird sich die Störung rasch und ohne erkennbare Ursache zumindest für eine gewisse Zeit ausbreiten“ (Perrow 1988, 17). Das erhöht die Wahrscheinlichkeit für Unfälle infolge der wenig voraussehbaren und potenziell schädlichen nichtintendierten Verkettungen von für sich genommen sinnvollen Vorrichtungen. Probleme entstehen bei Systemkomponenten, die entweder verschiedene Funktionen bedienen oder benachbart sind, etwa „wenn ein Kurzschluss in einem Kabel ein in der Nähe verlaufendes zweites Kabel außer Funktion setzt, das zu einer Sicherheitsvorrichtung läuft, die sich für den Fall eines Defekts im ersten Kabel einschalten soll“ (Ebd., 199f.). Es bricht also möglicherweise nicht nur ein Feuer aus, sondern zugleich fällt auch die Vorrichtung für den Feueralarm aus. Die Verknüpfung von Komplexität und enger Kopplung führt dann dazu, dass die Sicherheitsvorkehrungen „von verborgenen Pfaden innerhalb des Systems umgangen oder außer Funktion gesetzt werden. [...] Wir sind möglicherweise an einem Punkt angelangt, wo die Kurve unseres Lernfortschrittes fast horizontal verläuft“ (Ebd., 27).

Dass die Bevölkerung die Gesellschaft insgesamt gestalten kann, wird zu einem eigenen Maßstab. Er hat höheren Rang als die Forderungen, die aus wirtschaftlichen und technologischen Projekten entstehen, so nützlich und legitim diese im einzelnen sein mögen. Die Gesellschaft ist kein neutraler Behälter, in dem alles mögliche stattfinden sollen kann, sondern weist eigene Erfordernisse ihrer Gestaltbarkeit auf.

Nicht nur Arbeitsschutz, sondern auch Schutz des Charakters
Es gilt diejenigen zu bestärken, die sagen: Ich will nicht werden, wie die Manager und ihre Advokaten, Lobbyisten, Pressesprecher und Hofnarren sind. Ich will kein Fachidiot werden, der aus lauter Freude daran, sich selbst in die Arbeit einzubringen, für die Gesellschaft schädliche Produkte herstellt und gleichgültig gegenüber den Kollegen ist.

Ich will kein Konkurrenzsubjekt werden, das sein Selbstbewusstsein nicht aus dem Inhalt des Produkts oder der Dienstleistung bezieht, sondern aus der eigenen Geschicklichkeit bei der Selbstvermarktung und aus den Tricks, in der Konkurrenz die Nase vorn zu haben. Ich will kein Verkäufertyp werden, der sich an seinen Überredungstricks begeistert, an seiner Gewandtheit und Cleverness. Ich fürchte den Zynismus, der bei vielen dieser Karrieren erforderlich wird.

Not-wendig wird es, die Wirtschaft und die Organisationen nach folgenden Maßgaben zu gestalten:

  • Zurückdrängung bzw. Überwindung des „Egoismus“ („Besitzindividualismus“ bzw. Orientierung im Horizont partikularer Vorteile zu Lasten anderer),
  • Überwindung der Nachfrage für Destruktivqualifikationen („fake for real“; tarnen, tricksen, täuschen; andere klein machen, um in der Konkurrenz bzw. Hierarchie Vorteile zu erzielen),
  • Überwindung des Vorgehens, Erfahrungen mit einer dürftigen Qualität des Arbeitens, der Sozialbeziehungen und der Teilhabe an der Gesellschaftsgestaltung zu überkompensieren – durch Konsum und Aktivitäten in der Freizeit. Mit diesem Konsum und diesen Aktivitäten dünken sich die Menschen reicher, als sie es tatsächlich sind – in ihrem Bezug auf sich selbst und in ihren wesentlichen Sozialbeziehungen. Auch hier – nicht nur in einem problematischen Umgang mit Kindern – koexistieren Vernachlässigung und Verwöhnung.

Fazit
Alle reden vom Bruttosozialprodukt, kaum einer vom Psychosozialprodukt. Die Vergegenwärtigung, was das Arbeiten, die Produkte und die Sozialbeziehungen mit den Individuen „machen“, zeigt die Tiefendimensionen der herrschenden Lebensweise an.

Viele verstehen es nicht, die beschriebenen Probleme in einer von einem problematischen Reichtum beherrschten Welt als dessen Folge wahrzunehmen und daraus dessen existenzielle Infragestellung zu entwickeln. Die Betroffenen schreiben weiter ihre Misere dem eigenen Ungeschick oder den Missetaten anderer zu. Falsche Selbstkritik und zermürbende gegenseitige Beschuldigungen bilden die Folge.

Wir haben die schiefe Ebene skizziert, auf der sich die moderne bürgerlichen Gesellschaft entwickelt. Die Fortschritte in ihrem Rahmen verändern das Quantum, nicht die Qualität. Wir haben das an den benannten Problemen gezeigt. Die Fokussierung auf zentrale Probleme ist bitter nötig. Die genannten Probleme zu identifizieren, das gibt uns einen Maßstab an die Hand. Mit ihm können wir fragen, was ökonomische, technologische und politische Strukturen und Handlungen leisten für die Bewältigung von zentralen Hindernissen, die einem guten Leben entgegenstehen.

Die Misere der sozialtechnokratischen Linken
Viele Vorschläge für eine „andere Gesellschaft“ bleiben sozialtechnologisch. Sie stellen sich gar nicht erst die Frage, wie das Arbeiten, die Verhältnisse zwischen den wirtschaftlichen Akteuren und der Konsum selbst die Lebensqualität formieren bzw. deformieren. Viele wollen nur den bestehenden Reichtum umverteilen, statt ihn von Grund auf umzugestalten. Sie wollen nur anders verwalten. Sie beanstanden am Kapitalismus, dass er Wirtschaftskrisen hat, und deshalb wollen sie alles einer Planung unterwerfen, damit nichts vom bestehenden Reichtum verloren geht. Die Quantität des Reichtums interessiert sie, weniger die Qualität. Für „anders leben, anders arbeiten, andere soziale Beziehungen, sich anders vergesellschaften“ haben sie kein Organ. So kommen sie nur zu einer ökonomistischen Kritik der Ökonomie.

Radikale Bedürfnisse stehen im Gegensatz zu dem, was gesellschaftlich das menschliche Dasein von Grund auf (also „radikal“) in problematischer Weise entwickelt. Eine radikale Transformation geht aus von radikalen Bedürfnissen. Sie wollen die Überwindung der genannten Probleme. Alles andere läuft darauf hinaus, innerhalb der Misere lediglich die Kulissen umzustellen, die Anteile zwischen verschiedenen Gruppen zu verschieben, Verteilungsquoten zu verändern und die Bestände umzugruppieren, ohne ihre Qualität zu verändern.

Viele wollen den Kuchen anders verteilen, dabei geht es um einen anderen Kuchen sowie um eine andere Art des Kuchenbackens. Die Herangehensweise von Polit-Technokraten ähnelt der Bewegung eines Croupiers, der auf einem Tisch die Chips von einem Teilnehmer zum anderen harkt. Im Unterschied dazu gilt es, jede ökonomische Aktivität und Relation durchsichtig zu machen auf deren problematische Auswirkungen auf das Alltagsleben sowie auf die Bildung der menschlichen Vermögen der Individuen.

Viele orientieren sich in ihren Alternativvorstellungen zum Bestehenden an den „Erfolgs“-Kriterien der modernen bürgerlichen Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie. Dieser Artikel plädiert nicht nur für andere Antworten, sondern auch für andere Fragen. Die genannten Nöte sollen nicht länger latent und denjenigen Problemen (Umverteilung, Arbeitnehmerrechte, Ökologie und der Schutz von Minderheiten) untergeordnet bleiben, deren Artikulation nicht ohne Grund bereits zum vorfindlichen Politikbetrieb gehört bzw. zu ihm die kritische Ergänzung bildet.

Literatur
Bahro, Rudolf 1977: Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln
Bitot, Claude 2009: Was für eine andere Welt ist möglich? Zurück zum kommunistischen Projekt. Weggis (Schweiz). Zuerst Mailand 2008 (in französischer Sprache)
Botton, Alain de 2008: Glück und Architektur. Von der Kunst, daheim zu Hause zu sein. Frankfurt M.
Brie, Michael 1990: Wer ist Eigentümer im Sozialismus? Berlin
Creydt, Meinhard 2021: Deglobalisierung – Zeitdiagnose und Perspektive. In: Telepolis 4. 4. 2021 www.meinhard-creydt.de/archives/1076
Creydt, Meinhard 2021a: Produktionstechnik vom Standpunkt der Arbeitenden. In: Telepolis 11. 9. 2021 www.meinhard-creydt.de/archives/1247
DGB 2022: Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung zum DGB-Index Gute Arbeit. Berlin
Förster, Anja; Kreuz, Peter 2013: Hört auf zu arbeiten! Eine Anstiftung, das zu tun, was wirklich zählt. München
Franck, Georg 2009: Abweisende Neubauten. Interview in Psychologie Heute, H. 10
Heinemann, Gottfried 1982: Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren wie die Natur selbst. In: Michael Grauer, Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis. Kasseler Philosophische Schriften Bd. 7. Kassel
Kaplonek, Hanna; Schroeter, Roswitha 1979: Psychische Prozesse als Problem der Lebensbewältigung. In: Heiner Keupp (Hg.): Normalität und Abweichung. München
Kreiß, Christian 2014: Geplanter Verschleiß. Berlin
Löw-Beer, Peter 1981: Industrie und Glück. Der Alternativplan von Lucas Aerospace. Berlin
MEW: Karl Marx, Friedrich Engels Werke. Berlin (DDR) 1956 ff.
Paulsen, Kai 2020: Bernd Riexingers illusionäre Erwartungen an die Konversion der Autoindustrie. In: Der Rabe Ralf – Berliner Umweltmagazin, Dezember 2020, S. 5 /
Pekruhl, Ulrich 1995: Lean Production und anthropozentrische Produktionskonzepte – Ein Spannungsverhältnis? In: Bruno Cattero, Gerd Hurrle, Stefan Lutz u.a. (Hg.): Zwischen Schweden und Japan. Lean Production aus europäischer Sicht. Münster
Perrow, Charles 1988: Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Frankfurt M.
Sprenger, Reinhard 2019: Warum Sie Ihren Job verachten. In: Wirtschaftswoche, H. 18, 26.4.2019, S. 93

(Die Telepolis-Redaktion hat dem Artikel folgende Überschrift und folgenden Untertitel gegeben:
„Geld oder Leben: Vom Bruttosozialprodukt zum Psychosozialprodukt
Umgestaltung statt Umverteilung: Mensch und Natur droht Burnout – die sozial-technokratische Linke muss umdenken. Wie radikale Ansätze für eine bessere Gesellschaft aussehen.“
Der Artikel enthält weder den Gegensatz „Geld oder Leben“ noch Aussagen über die Natur. Auch die Zwischenüberschrift „Die Rückkehr des Menschen“ stammt von der Redaktion.)