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Ein Überblick über die besondere Lebensart der fortgeschrittensten kapitalistischen Nation der Welt
(in: Junge Welt 5.10.2023, S. 12f.)

Die Vereinigten Staaten von Amerika gelten vielen als Schutzmacht westlicher Werte. In diesem Punkt herrscht in Deutschland Einigkeit von der CSU bis zu den Grünen. Unser kleiner Rundgang durch die US-amerikanische Lebensweise leistet einen Beitrag dazu, Worte wie »Freiheit« ihrer scheinhaften Unmittelbarkeit zu berauben. Es soll gezeigt werden, was die Mehrheit der US-Bürger praktisch unter Freiheit versteht. Der vorliegende Text vergegenwärtigt die Besonderheit, die die USA unter den entwickelten kapitalistischen Nationen darstellen. Dabei geht es ausschließlich um das Innenleben der USA. Die außenpolitischen Vorgehensweisen der US-Regierungen (etwa die Unterstützung des Putsches gegen Salvador Allende in Chile 1973, die Unterstützung der Contras in Nicaragua, der Einmarsch in den Irak 2003 und vieles andere mehr) wird ausgeklammert.

Zu den Besonderheiten der USA gehört, dass es keinen gesetzlichen oder tariflich geregelten Mindesturlaub gibt. Im Durchschnitt verfügt der US-amerikanische Angestellte oder Arbeiter über 15 Tage Urlaub, wobei die meisten »Arbeitnehmer« ihren Urlaub nicht voll ausschöpfen. »Viele US-Bürger kommen über zehn Tage im Jahr nicht hinaus – häufig geht die Hälfte davon für die Weihnachtstage drauf, die in den USA keine arbeitsfreien staatlichen Feiertage sind. Millionen von Amerikanern verzichten auf ihren Urlaub. Aus Angst, den Job zu verlieren, nehmen viele im Jahr keine zehn Tage frei. (…) Zum Teil ist der Urlaubsverzicht eine Folge der Schwäche der Gewerkschaften« (Tagesspiegel, 24.8.2017).

Früher sterben
Die durchschnittliche Lebenserwartung in den USA liegt unter derjenigen der meisten OECD-Staaten. Innerhalb des Landes gibt es große Unterschiede zwischen der Sterblichkeit in armen und reichen Regionen, die solcherart in keinem westeuropäischen Land existieren. Ein flächendeckender oder gar gesetzlich verpflichtender Versicherungsschutz besteht nicht. Im Jahr 2018 waren 28 Millionen US-Amerikaner unterversichert oder hatten überhaupt keine Krankenversicherung (Deutschlandfunk, 11.2.2018). Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von fast zehn Prozent, die geschätzt elf Millionen illegal im Land Lebenden nicht mitgerechnet. Die USA belegen einen Spitzenplatz in Sachen Übergewicht. Der Anteil Übergewichtiger liegt nach einer länderübergreifenden Erhebung aus dem Jahr 2019 bei 73,1 Prozent.

Die Zahl der Tötungsdelikte auf 100.000 Einwohner lag in den USA bei 5,0 (2018). Zum Vergleich: in Dänemark bei 1,1 (2017), in der Bundesrepublik bei 0,7 (2017). Die USA ist auch die Nation mit den meisten Gefängnisinsassen weltweit. Stand Juni 2023 sind es 1.767.200. In Deutschland befinden sich (Stichtag 31.3.2022) 42.492 Menschen in Haft. Auffällig hoch ist auch die Zahl der Drogentoten. Im Jahr 2021 starben laut Statista in den Vereinigten Staaten 106.699 Menschen infolge der Einnahme von Drogen, wobei sich die Zahlen seit Beginn des 21. Jahrhunderts vervierfacht haben. In Deutschland lag die Zahl der Drogentoten im Jahr 2021 bei 1.826.

Die USA sind »eine Gesellschaft, die aus Unsicherheit ein positives Prinzip der kollektiven Organisation macht. Sie ist, indem sie für den Individualismus und die ›self help‹ schwärmt, die Verkörperung einer neodarwinistischen Vision (…), welche in allen Belangen der solidarischen Vision entgegensteht, die die Geschichte der sozialen Bewegungen in die sozialen und kognitiven Strukturen der Männer und Frauen der europäischen Gesellschaften eingeschrieben hat«, wie der Soziologe Pierre Bourdieu, die europäischen Zustände idealisierend, bemerkt.¹ Die USA bilden eine Gesellschaft, in der nicht nur die Gewinner, sondern auch viele der Verlierer die allumfassende Konkurrenz gutheißen. Auch sie sehen Tatkraft, Einsatz- und Risikobereitschaft, Leistungsfähigkeit und Mobilität als Momente des »Amerikanismus« an. Jeder Beeinträchtigung der Konkurrenz sei entgegenzutreten. Die Förderung der Konkurrenz und der kapitalistischen Geschäftstätigkeit sollte nach Ansicht vieler den Dreh- und Angelpunkt der Staatstätigkeit bilden.

Die in Europa immer weiter vorangetriebene Privatisierung öffentlicher Güter ist in den USA weitgehend erreicht. »Der Staat hat (…) öffentliche Unternehmen verkauft und öffentliche Güter wie Gesundheit, Wohnen, Sicherheit, Bildung und Kultur in Handelsgüter verwandelt und deren Nutzer in Kunden. Er hat die ›öffentlichen Dienste‹ an den privaten Sektor verpfändet (…) und soziale Funktionen an untergeordnete öffentliche Stellen delegiert (Stadt, Region etc.). All das im Namen der alten liberalen Tradition der self help (einer Erbschaft des Calvinismus, dass Gott denjenigen helfe, die sich helfen) und der konservativen Begeisterung für die individuelle Verantwortung (die Arbeitslosigkeit oder wirtschaftliches Scheitern zuerst den Individuen anlastet und nicht der sozialen Ordnung)«.² Ein in Deutschland erhaltenes »Jedermannsrecht«, privates Land wie beispielsweise Wälder zu betreten, existiert in den USA nicht. Die negative Utopie einer naturwüchsigen Gesellschaft zeigt sich auch in der für europäische Verhältnisse laxen Handhabung des staatlichen Monopols physischer Gewalt. In den USA verhindert eine starke Lobby, die National Rifle Association, jede Eindämmung privaten Schusswaffenbesitzes.

Privateigentum und Moral
In den USA ist das Selbst- und Weltverständnis des Privateigentümers im Vergleich zu anderen westlichen Nationen besonders stark ausgeprägt. Die Privateigentümer »sind niemandem etwas schuldig, sie erwarten sozusagen von niemandem etwas; sie gewöhnen sich daran, stets von den anderen gesondert zu bleiben, sie bilden sich gern ein, ihr ganzes Schicksal liege in ihren Händen. (…) Der Eifer, mit dem sie die kleinen Geschäfte betreiben, dämpft sie gegenüber den großen.« ³ Bürger machen einander rechtlich per Schadensersatzforderung für ihr mangelndes Wohlergehen verantwortlich, wenn die Verursachung von wirklichen oder vermeintlichen Schäden sich Individuen zuschreiben lässt. In den USA kamen laut Statista im Jahr 2009 3,79 Anwälte auf 100.000 Einwohner. In Deutschland sind es 1,79, in Frankreich 0,75.

Die in den USA im Vergleich zu anderen kapitalistischen Gesellschaften geringer ausgeprägte gesellschaftliche Gestaltung der Gesellschaft hat eine Kehrseite: die Moralisierung des Lebens. Beispielsweise ist es beim Abschluss eines Mietvertrags nicht unüblich, »Social Reference Letters« und »Business Reference Letters« einzufordern. »Die Miete oder auch der Kauf einer Wohnung, die in Deutschland als bloße Rechtsgeschäfte abgewickelt werden, sind in Amerika Bestandteil der Gemeinschaftsbildung. Während sich der Vermieter in Deutschland nur formal schützt, indem er eine Kaution verlangt und eine Hausordnung festlegt, schützt sich das Coop Board in Amerika zusätzlich dadurch, dass es die Kandidaten einer charakterlichen Begutachtung unterzieht.« Bereits mit diesen Empfehlungsschreiben »hat das Geschäft mit Wohnungen noch heutzutage teil an jener Besserungsanstalt, als die sich Benjamin Franklin die amerikanische Gemeinschaft vorstellte«.4

Zur Moralisierung gehört auch die öffentliche Anprangerung von Vergehen durch die präzise Mitteilung des Delikts und den vollen Namen des Missetäters inklusive Wohnadresse in der lokalen Presse. So heißt es bspw. im Burlington Courier vom 14. Februar 1998: »1:54 a. m. Friday, Howard Stacy Wells, 34, 525 1/2 Church Str., was charged with public intoxication. 12:08 a. m. Friday, Travis John Courtney, 21, 11650 Rabbit Run, No. 152, was charged with providing alcohol to a minor. 6:04 p. m., Friday, Wendy Bonnett, 20, of 612 D. Ave. W., was charged with driving with a suspended licence.« So geht es spaltenlang weiter.

Sünde statt Krankheit
Ein aktuelles Beispiel für den Moralismus zeigt das Plädoyer der Staatsanwältin Sherri A. Stephan im Verfahren gegen den Priester und US-Staatsbürger William McCandless, der wegen des Besitzes von Kinderpornographie zu 37 Monaten Gefängnis verurteilt wurde: »Der sexuelle Missbrauch von Kindern hat den Angeklagten so erregt, dass er immer wieder danach gesucht hat. In William McCandless wohnt das Böse. Aber deshalb wurde er nicht verurteilt, sondern weil er es nicht kontrollieren konnte« (Bunte, 6/2023, S. 35). Die Moralisierung entdeckt in der Pädophilie das Böse und keine psychische Störung der Sexualpräferenz. »Sünde« statt »Krankheit« bildet den Interpretationsrahmen.

Die Moralisierung ist eng mit der US-amerikanischen Art der Individualisierung verknüpft. Selbstverantwortung und Selbstvertrauen gelten in den USA als zentrale Größen der Lebensweise, die durch staatliche Unterstützungsleistungen für die Bürger geschädigt würden. Die Kehrseite der Moralisierung und des Individualismus ist die private Wohltätigkeit. Im Jahr 2022 spendeten US-Bürger laut des aktuellen „Giving-USA“-Berichts insgesamt 499 Milliarden US-Dollar. Bei der privaten Spendentätigkeit gibt es einen hohen Anteil von sehr großen Spenden, schon aus dem Grund, dass Spender steuerliche Vorteile genießen. Private Großspender entscheiden mit zweckgebundenen Spenden über gesellschaftliche Entwicklungen, etwa im Schul- und Gesundheitswesen. Vermögende Einzelpersonen erhalten auf diesem Wege großen Einfluss auf die Entwicklung allgemeiner Existenzgrundlagen.

»Antideutschen« Kritikern eines ressentimenthaften »Antiamerikanismus« zufolge stehen die USA »für die Befreiung des Individuums von der Geiselnahme durch das Kollektiv, für die Diskreditierung des Anspruchs an ein Individuum, seine Interessen und Bedürfnisse denen einer realen oder imaginieren Gemeinschaft regelmäßig unterzuordnen. (…) Individuelle Freiheit ist bei aller Imperfektion und logischer Begrenzung durch den Zwang zur Selbstverwertung in der warenproduzierenden Gesellschaft wohl in der Geschichte nirgends so weit verwirklicht worden wie in den USA.«5

Solche Thesen sehen ab davon, dass die auf die Spitze getriebene Vereinzelung in die mentale Abhängigkeit von partikularen Kollektiven umschlägt, in deren »Wärme« man sich flüchtet (z. B. Kirchen- und Nachbarschaftsgemeinden). In den USA ist der Rückzug der Menschen in Familie, Gemeinschaft und ethnisch wie sozial homogene Nachbarschaften weit verbreitet. In den »Nachbarschaftsinseln, die klar voneinander abgegrenzt und verschieden sind«, »wohnen Menschen, die die gleiche ethnische oder rassische Herkunft haben; die ungefähr das gleiche wöchentliche oder monatliche Einkommen verdienen; die über etwa das gleiche Sozialprestige verfügen; die in die gleiche Kirche gehen, die die gleiche Schulbildung haben und deren Kinder wiederum die gleiche Schule und ähnliche Colleges und Universitäten besuchen; die in vergleichbaren Einfamilienhäusern, Eigentums- oder Mietwohnungen leben (…); und denen schließlich in unverschuldeten Notfällen von der gleichen Kirchengemeinde oder der gleichen privaten gemeinnützigen Vereinigung geholfen wird. Dies sind Inseln der Gleichheit (…), deren Bewohner zum Verwechseln ähnliche Werte, Einstellungen und Überzeugungen haben. Wer mehr Geld verdient, sozial aufsteigt und dadurch seine politischen Ansichten verändert, der zieht in eine andere Wohngegend, in eine bessere Nachbarschaft: Es ist auch nicht ungewöhnlich, wenn er – allerdings gilt dies nur innerhalb des Protestantismus – seine Kirchenzugehörigkeit wechselt, vom Baptisten zum Methodisten oder gar – sozial noch besser angesehen – zum Presbyterianer wird. (…) Innerhalb der Inseln besteht großer Konformitätsdruck, zwischen den Nachbarschaften hingegen ist die größte, farbigste Vielfalt zu beobachten.«6 Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Immer umziehen
Die Lebensweise in den USA ist geprägt von einer »Pendelbewegung« zwischen »Überintegration« und »Überindividualisierung«.7 Die Enge der jeweiligen Community motiviert dazu, Bindungen zu lösen. Die damit entstehenden Unsicherheiten »werden ihrerseits zum Ausgangspunkt der oft hektischen Suche nach Anschluss, Zugehörigkeit, Gemeinschaft. (…) Nicht trotz, sondern wegen der außerordentlichen Beweglichkeit der amerikanischen Bevölkerung gewinnt die Gemeinde für viele US-Amerikaner ihre Bedeutung«.8

Die Zahl der jährlichen Umzüge beläuft sich in den USA auf ein Vielfaches im Vergleich zu europäischen Ländern. In den 1950er Jahren zog jeder fünfte US-Amerikaner einmal im Jahr um, gegenwärtig ist es jeder zehnte (Neue Zürcher Zeitung, 6.1.2021). Wer häufig umzieht, wird seine Kontakte eher lose gestalten. »Der japanische Alptraum sei Ausschluss, behauptet die japanische Anthropologin Lebra, der amerikanische im Gegensatz dazu das Gefühl, sich nicht separieren zu können. ›Don’t fence me in‹, so beschreibt auch Erikson eine für Amerikaner typische Furcht«.9

Touristen imponiert in den USA die Umgänglichkeit und Unkompliziertheit ihrer Bewohner. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. »Die bei uns übliche Unterscheidung zwischen Fremden und Bekannten findet (…) in den USA kaum statt. Der soeben aufgegabelte Tourist kann dem Nachbarn ohne weiteres als ›friend‹ vorgestellt werden, denn man ›macht‹ schnell Freunde in Amerika.«10

Keine kleine Rolle spielt hier der Opportunismus, es sich mit niemandem verderben zu wollen, man wisse ja nie, wofür er einem noch nützlich sein könnte. Stets anschlussfähig sein zu müssen und dies auch zu wollen wird zur zweiten Natur. »Keine engen oder dauerhaften menschlichen Beziehungen einzugehen«, diese »Haltung wird in den USA als Voraussetzung zum sozialen Aufstieg kulturell toleriert. (…) Die Unverbindlichkeit in den sozialen Beziehungen verschärfte die Armutsproblematik. Die Missachtung, die der älteren Generation traditionell entgegengebracht wurde, hat eine nur sehr lückenhafte Altersversorgung entstehen lassen.«11

Separatismus und Nationalismus
Die USA stellen eine Nation dar, die im Vergleich zu anderen westlichen Ländern in höherem Ausmaß in kleine homogene Gemeinschaften zerteilt ist. Diese Segmentierung »lässt ein Solidaritätsgefühl, das durch mehrere Klassen und Schichten, durch verschiedene ethnische und rassische Gruppen und durch alle Landesteile geht, nur schwer entstehen«.12 Bereits die Emigranten und Migranten, die in die USA strömten, aber auch die US-Bürger lösen »Konflikte durch Vermeidung ihres Austrags, durch Separatismus und Sezession«.13

Verbindendes finden US-Amerikaner auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene vorrangig in der Idee ihrer Nation. In ihr verkörpern sich jene Rahmenbedingungen, die die individuelle Interessenverfolgung der »Self made men« und des »Pursuit of happiness« fördern. »Die zentralen Ideen dieser Doktrin abzulehnen heißt ›unamerikanisch‹ sein. Es gibt kein britisches oder französisches, kein deutsches oder japanisches ›Glaubensbekenntnis‹; die Académie Francaise macht sich Sorgen um die Reinheit der französischen Sprache, nicht über die Reinheit der politischen Ideen Frankreichs. Was wäre denn auch eine ›unfranzösische‹ politische Idee? Aber die Beschäftigung mit ›unamerikanischen‹ politischen Ideen oder Verhaltensweisen ist ein stets wiederkehrendes Thema im amerikanischen Leben geblieben. ›Es ist unser Schicksal als Nation gewesen‹, hat Richard Hofstadter bündig bemerkt, ›keine Ideologie zu haben, sondern eine zu sein.‹ Diese Identifikation der Nationalität mit dem politischen Glaubensbekenntnis oder Werten verleiht den USA im Grunde ihren einzigartigen Charakter.«13

Dementsprechend sind dann auch der Fahneneid, das Zeigen der US-amerikanischen Flagge, das Tragen patriotischer T-Shirts u. ä. weit verbreitet und sehr beliebt. In keinem anderen modernen Land ist die Vorstellung, beispielgebendes Vorbild für die Welt zu sein, der Glaube an die eigene Auserwähltheit und ein mit der eigenen Nation verbundenes Sendungsbewusstsein so ausgeprägt wie in den USA.

Die eine einfache Erklärung der Ursachen für die in den USA dominierende Lebensweise gibt es nicht. Gewiss existierte nach der Vertreibung und Ermordung der indigenen Ureinwohner viel »freies« Land, das den Siedlern ermöglichte, immer weiter gen Westen zu ziehen und sich als Farmer selbständig zu machen. Zum Puritanismus gehörte ein bestimmter Persönlichkeitskult. Ihm zufolge verleihe Stärke fast gottgewollte Rechte. Schwäche sei ebenso wie Armut des Individuums eigene Schuld und ein Zeichen für dessen Versagen. Bei solchen alten Traditionen fragt sich allerdings, was die Ursachen dafür sind, dass sie sich noch heute auswirken.

In den USA fand ein Nation-buildung ohne ein vorausgehendes State-buildung statt. Die USA haben bis heute keinen Angriff einer anderen Nation auf ihr Kernland erlebt. Auch das trug dazu bei, dass der Staat im Bewusstsein der Bevölkerung eine geringere Rolle als in Europa spielt(e). Die USA stellen zudem in besonderem Maße eine Einwanderernation dar. Die Neuankömmlinge waren und sind damit beschäftigt, sich zurechtzufinden. Die USA galten den Einwanderern als gegenüber ihrem jeweiligen Herkunftsland vorzugswürdige Alternative. Auch das minderte die Wahrscheinlichkeit radikaler politischer Betätigung. Das »Wir-Gefühl« erstreckt(e) sich, wenn überhaupt, auf die Alteingesessenen und schließt Neuankömmlinge aus. Ähnlich wirkt der Rassismus. Die Spaltung zwischen den verschiedenen Herkunftsnationalitäten wie zwischen Schwarzen und Weißen ist bis heute groß. Netzwerke sind häufig ethnisch homogen. Die Rede vom »Melting Pot« ist schon lange der Rede von der Salatschüssel gewichen. In ihr bleiben die »Zutaten« getrennt voneinander.

Werner Sombart veröffentlichte 1906 sein Buch »Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?«. Er spricht von einem zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Vergleich zu Deutschland doppelt so hohen durchschnittlichen Reallohn in den USA. Der Reichtum der US-Wirtschaft, ihre Stellung auf dem Weltmarkt, der US-Imperialismus und die Rolle des Dollars als Weltgeld seit 1944 erlaubten den Kernschichten der Arbeiterklasse, an der in den USA besonders früh entwickelten »Konsumkultur« teilzuhaben. Wir belassen es bei diesen notwendigen Hinweisen und beanspruchen nicht, hinreichend zu erklären, warum in den USA solche sozialistischen Kräfte bislang so schwach waren und sind, die eine grundlegende Alternative zum »American Way of Life« vertreten.

Anmerkungen:
1 Pierre Bourdieu: Die Durchsetzung des amerikanischen Modells und seine Effekte. In: Sozialismus (1999), H. 12, S. 28
2 Ebd., S. 27
3 Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987, S. 149 u. 247
4 Dieter Thomä: Unter Amerikanern – Eine Lebensart wird besichtigt, München 2000, S. 51 f.
5 Emanzipation & Frieden: Was ist Antiamerikanismus? (2015)
6 Peter Lösche: Amerika in Perspektive. Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten, Darmstadt 1989, S. 46 f.
7 Maurice Stein: The Eclipse of Community. Princeton 1960, S. 44
8 Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, Frankfurt am Main 1968, S. 82 f.
9 Christel Schachtner: Das autonome Subjekt – Ideal und Risiko. In: Psychosozial 17 (1994), H. 1, S. 11
10 Hans R. Grundmann: USA/Canada. Das Handbuch für individuelles Reisen, 9. Aufl., Bielefeld 1997
11 Gert Raeithel: Geschichte der nordamerikanischen Kultur. Bd. 3, Weinheim 1989, S. 436 f.
12 Lösche (Anm. 6), S. 62
13 Klaus-M. Kodalle: Zivilreligion in Amerika. In: ders. (Hg.): Gott und Politik in USA. Über den Einfluss des Religiösen, Frankfurt am Main 1988, S. 68 f.
14 Samuel P. Huntington: American Politics. The Promise of Disharmony, Cambridge/London 1982, S. 25