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(erschien in Telepolis, 15.1.2023)

Gegen die Mangelwirtschaft im Schulwesen regt sich Widerstand. Weniger Opposition gilt dem gar nicht so heimlichen „heimlichen“ Lehrplan, der aus den Strukturen der Schule folgt.

Seit zwei Jahren gibt es in Berlin eine Kampagne, die „Schule muss anders“ heißt. In ihr sind Eltern, Schülerinnen, Lehrkräfte, Sozialarbeiterinnen und Erzieherinnen engagiert.
Sie organisieren Veranstaltungen und Demonstrationen für die Ziele „Mehr Personal und mehr Ausbildungsplätze“, „Teams aus unterschiedlichen Berufen an die Schulen“, „Mehr Zeit für Beziehung und Team – Entlastung für alle“.
Nach Angaben des Deutschen Lehrerverbandes fehlen 2022 bundesweit 40.000 Lehrer. Die Schulbauten sind häufig in marodem Zustand. Das Lehramtsstudium und eine gründliche didaktische Ausbildung gelten den Bildungsbehörden faktisch zunehmend als unnötiger Luxus. Sie halten eine behelfsmäßige Anlernung im Schnellverfahren für ausreichend.

Laut DPA-Meldung vom 28.7.2021 sind mittlerweile in Berlin bereits 7.000 „Quereinsteiger“ unter den 33.000 Lehrer. Einer Forsa-Umfrage zufolge geben zwei von drei Schulleitungen bundesweit an, dass Quereinsteiger nicht systematisch pädagogisch vorqualifiziert werden – an Grundschulen sagen das sogar drei von vier Schulleitern (Hoock 2019).
Die in der Kampagne „Schule muss anders“ Engagierten wollen in Berlin eine breite „Bildungsbewegung“ auf die Beine stellen. Angesichts der Misere wären eigentlich bei ihren Demonstrationen 15.000 Teilnehmer statt der bisher regelmäßig knapp 1.500 zu erwarten. Die materielle Misere steht allerdings so im Vordergrund, dass Zurückhaltung herrscht in Bezug auf weitergehende Kritik an Formen und Strukturen der Schule. Wir konzentrieren uns im Folgenden auf die Schule ab der 5. Klasse.


Stoff-Fülle, Zusammenhangslosigkeit und Wechsel der Themen im Stundentakt

Die Stoff-Fülle, die in den Unterrichtstag gedrängt wird, sorgt für Zeitdruck und Hektik. Ein Pädagogikprofessor aus Linz schreibt:

„Selbst die Grundregeln der Lernpsychologie werden nicht berücksichtigt: Man kann maximal 4 Stunden konzentriert lernen – verteilt auf den ganzen Tag. Wenn man eine einstündige Lerneinheit hinter sich hat, ist das Gehirn bis zu zwei Stunden lang damit beschäftigt, diese Inhalte abzuspeichern“ (Stangl 2003).

Gewiss bestehen Schulstunden aus verschiedenen Phasen. Schüler nehmen nicht die ganze Zeit etwas Neues auf. Gute Lehrer räumen dem abwechslungsreichen Üben Zeit ein. Wer die Stoff-Fülle kritisiert, gerät leicht in das Fahrwasser, Bildungsansprüche zu reduzieren.
Das Argument, man habe für seine spezielle Berufstätigkeit viele Schulinhalte nicht gebraucht, legt einen problematischen Maßstab an. Häufig resultiert die Überforderung auch daraus, dass vor lauter Stoff die Fächer den Schülern nicht didaktisch so nahegebracht werden können, dass sie ein Verständnis und eine Wertschätzung für den spezifischen Zugang zu einem Teil der Wirklichkeit erlangen.
Geschieht das nicht, so stöhnen Schüler zu Recht darüber, dass sie mit den Kernfächern kaum zu Rande kommen, und erfahren „Nebenfächer“ als zusätzlich überfordernde Zumutung.

Etwas wissen sollen Schüler schon. Die Schule gewöhnt sie aber häufig daran, dass ihrem eigenen weiteren Nachfragen und -forschen enge Grenzen gesetzt sind. Kaum beginnen Schüler, sich in etwas zu vertiefen, steht bereits der nächste Lernstoff oder ein anderes Lernfach auf der Tagesordnung.

„Die Schüler hüpfen von Thema zu Thema, von Stoff zu Stoff. Es ist ihr Problem, ob sie den Informationssalat jemals unter einen Hut bekommen. Keinen kümmert es“ (Waldrich 2007, 51).

Schüler werden an die Zusammenhangslosigkeit des Wissens gewöhnt. Ein Thema wie z. B. England kommt zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Schulfächern (Englisch, Geschichte, Geographie, Sozialkunde) verdünnt und vereinseitigt vor. Einerseits wird Wissensdurst mobilisiert. Ohne ihn ließen sich keine Kenntnisse erwerben. Andererseits wird der Appetit auf Wissen immer wieder gestoppt.

Der Wechsel der Themen im Stundentakt bereitet Schüler darauf vor, keine „Umschaltschwierigkeiten“ haben zu sollen bei völlig disparaten Anforderungen.

„Schüler und Lehrer dürfen sich geradezu nichts ‚unter die Haut gehen lassen’, sie dürfen sich nicht ernsthaft auf die Materie einlassen, sie sind sonst für die nächste Stunde nicht mehr fit. [...] Die Stundeneinteilung verhindert, dass die geistigen Gehalte irgend tiefer in den Kern der Person eindringen“ (Rumpf 1966, 160f.).

Auch Jahrzehnte später ist der Anteil des fächerübergreifenden Unterrichts klein, der ein Thema aus verschiedenen Perspektiven behandelt. Absprachen zwischen Lehrern über die Behandlung eines Themas in verschiedenen Fächern stoßen auf viele Hindernisse.
Die Zersplitterung des Wissens entspricht einer Gesellschaft mit hoher Arbeitsteilung und Spezialisierung. Das Wissen bleibt fragmentiert und beschränkt sich häufig auf pragmatisch, technisch oder sozialtechnologisch zu lösende Fragen. Experten wissen viel über wenig. „Das Ganze existiert [...] überhaupt nicht“ für sie (Waldrich 2007, 81).

Diese Schule bereitet auf eine Existenz vor, „in der auf sich ständig ändernden Märkten höchste Flexibilität, Wechsel und rapide Anpassung zweckdienlich sind“ (Ebd., 100). Schülergehirne ähneln dann Festplatten, auf denen allerhand gespeichert ist sowie die Routine, die Kenntnisse bei passender Gelegenheit abrufen zu können.

Prozessbezogene Kompetenzen
Eine Gegentendenz zur Dominanz von abfragbarem Wissen besteht in prozessorientierten Kompetenzen. Schüler sollen in Bezug auf ein ihnen präsentiertes offenes Problem selbständig die Lösungswege auswählen und ihre Vorgehensweise begründen können.
In den bundesweit 2005 neu formulierten Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz wurde diesen langfristigen Kompetenzen ein gleichwertiger Rang neben den inhaltsorientierten Zielen eingeräumt.

Folgerichtig testen die obligatorisch vorgesehenen Vergleichs-Arbeiten („Vera“) in der 3. und 8. Klasse im großem Umfang prozessorientierte Kompetenzen. Faktisch wird oft auf die VERA-Testung kurzfristig trainiert. Lehrer üben dann die VERA-Aufgaben der letzten Durchläufe, um sich nicht zu „blamieren“. Dies widerspricht jedoch einer langfristig anzulegenden Entwicklung von prozessorientierten Kompetenzen. Sie haben gewiss ihren Wert, zu ihrer Überschätzung besteht aber kein Anlass.
Zum Problem werden sie, wo es um mehr geht als um isolierte Aufgaben und deren jeweilige „Lösung“. (Dem Alltagspragmatismus gilt das als das non plus ultra bzw. als unübersteigbar. Zur Fragwürdigkeit des Alltagspragmatismus vgl. Creydt 2022.)

In Bezug auf psychische, soziale und gesellschaftliche Probleme sind übergreifende Strukturen zu begreifen. Erst das ermöglicht eine Antwort auf „die Frage, warum jeweils gerade dieses und kein anderes Problem sich stellt oder gestellt wird, aus welchen Zusammenhängen das Aufkommen des Problems selbst wieder zu verstehen ist“ (Holzkamp 1976, 354).
Die im günstigen Fall kreative „Lösung“ bestimmter einzelner Probleme ist häufig ein Vorgehen, das das Bewusstsein für die not-wendige Transformation des jeweiligen „Ganzen“ blockiert. Diese Herangehensweise passt zu einer Situation, in der die Nutznießer des jeweiligen familiären, organisatorischen oder gesellschaftlichen Systems wissen:

„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, müssen wir zulassen, dass sich alles verändert“ (Giuseppe Tomasi di Lampedusa).

Umfassendes Lernen
Folgen Schülern intensiv ihrem inhaltlichem Interesse an einem Thema und vertiefen sie sich in es, so können sie angesichts der Eile des Durchmarschs durch den Lernkanon in anderen Fächern ins Hintertreffen geraten.
Der ständige Zeitdruck führt zur oberflächlichen Behandlung der Themen. Er fördert die Immunisierung gegen Inhalte. Es kommt zum „Verlust ihrer subjektiven Bedeutsamkeit“ (Boenicke u. a. 2004, 16).
Das „vorzügliche Lernkind“ gleicht einem Schwämmchen, „welches das wieder von sich gibt, was es ohne besondere Verwendung ins Ich aufgespeichert hat“ (Robert Musil). Tiefere Dimensionen des Stoffs zu erschließen erfordert affinitives im Unterschied zu definitivem Lernen (Galliker).
„‚Affinitive’ Zu- und Abwendungen“ sind im Unterschied zu „‚definitiven’ gekennzeichnet durch […] ein ‚Sich-Zurücklehnen’, Übersicht-Gewinnen, […] die Aufhebung von Festlegungen und Beschränkungen durch das In-den-Blick-Nehmen des ‚Ganzen’“ (Holzkamp 1995, 328).

„Thematisch dominiertes expansives Lernen ist demnach [...] immer auch ein Prozess der Vermeidung von Einseitigkeiten, Fixierungen, Verkürzungen, Irrwegen, Sackgassen beim Versuch der Gegenstandsannäherung. Dies wiederum kann nicht durch eine angespannte operative Lernplanung und konsequente Zielverfolgung o. ä. gelingen“ (Ebd., 480f.).

Benotung und instrumentelles Verhältnis zu den Unterrichtshalten
Der Unterricht gewöhnt die Schüler häufig an eine Zielverschiebung. Das Kriterium ist dann nicht mehr, „was von der Sache her und für sich selbst betrachtet bedeutsam ist.“ Stattdessen lautet nun die Frage: „Was bekomme ich dafür, wenn ich mir etwas einpräge, diese Handlung ausführe, mich so und so verhalte oder wenigstens ein bisschen so tue“ als ob ? (Waldrich 2007, 93, vgl. a. 22).
Die Benotung legt es Schülern nahe, nicht zu viel Mühe in Themen zu ‚investieren’, die sich nicht in relevanten Noten ‚auszahlen’ bzw. von darauf bezogenen Aktivitäten ‚ablenken’. Die Benotung erschwert es dem Schüler in einer dem Lernen abträglichen Weise, sich Rechenschaft abzulegen von seinem Nichtwissen, statt es zu vertuschen.
Schon in der Schule lernen Schüler vor allem, eine Leistung eigener Art zu erbringen. Sie gewöhnen sich daran, etwas oft Unangenehmes und für sie Uneinsichtiges (das Lernen eines ‚Stoffes’, dessen Bedeutung ihnen oft nicht klar ist) hinter sich zu bringen, weil sie vorrangig über die erzielte Note etwas vom Lernen ‚haben’.
Soweit Schüler auswählen können, werden sie aufgrund der schulischen Dominanz der Note über den Inhalt jenen Stoff vorziehen, bei dem sie (durch Vorwissen oder Neigung etc.) leichter eine gute Note erzielen. Das Nachsehen haben diejenigen Inhalte, von denen sie vielleicht gern mehr wüssten, dies aber eben auch mehr Arbeit nach sich zöge.
Damit aber nicht genug. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen wird auch in puncto schulisches Wissen gern so getan, als ob es sich nur um Mittel handele, über die das souveräne Subjekt später frei verfügen könne, wenn es die Lehrjahre hinter sich und die „Herrenjahre“ erreicht habe.
Diese Fiktion sieht von den abträglichen Effekten des instrumentellen Verhältnisses zu Inhalten auf die Subjektivität ab.

„Wer die Schule durchlaufen hat, dem fällt oft gar nicht mehr auf, dass ihm auch ein ganzes Stück seiner Lebendigkeit und des wirklichen Interesses an der Welt genommen wurde. Wie kommt es sonst, dass auch Akademiker häufig keine Bücher lesen, dass ihnen philosophische oder weltanschauliche Fragen gleichgültig sind“ (Waldrich 2007, 93).

Der Satz „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir“ bekommt angesichts dieser negativen Effekte schulischer Sozialisation eine bittere Bedeutung.

Der heimliche Lehrplan
Der gegenwärtige Schulunterricht erhebt „die Schnelligkeit der Auffassens und der Aufgabenbewältigung, die Kürze der Reaktionszeit bei der Anforderungserfüllung u. ä. schuldisziplinär zu einem inhaltlich nicht gedeckten, abstrakten Wert, der das Weiterkommen oder Zurückbleiben der Schülerinnen/Schüler unmittelbar beeinflusst“ (Holzkamp 1995, 482).
Lernpsychologisch ist das fatal. „Für das Lernen ist wichtig: Gelernt wird immer dann, wenn positive Erfahrungen gemacht werden“ (Spitzer 2002, 181).
Die Möglichkeiten des Gehirns lassen sich nur nutzen, wenn es nicht durch negativen Stress abgelenkt und absorbiert wird.

„Wenn wir [...] wollen, dass unsere Kinder und Jugendlichen in der Schule für das Leben lernen, dann muss eines stimmen: die emotionale Atmosphäre beim Lernen“ (Spitzer 2003).

Der Zeitdruck schadet dem Lernen. Es wirkt eher lernhemmend. Für die Schule aber hat er eine wichtige Funktion. Er ist auf „die Verstärkung, wenn nicht auf die Herstellung von Leistungsunterschieden angelegt [...] und auf deren Verfestigung. [...] Der institutionelle Effekt des Lernens pro Zeit besteht darin, an den Schülerinnen und Schülern Unterschiede im Wissen herzustellen oder vorhandene zu verstärken“ (Nüberlin 2002, 11).

Selektion
Dass bei den Angstträumen Erwachsener das Thema Schule einen so großen Raum einnimmt, ist ein deutliches Indiz für die dort erlebte Versagensangst. Wie in anderen zentralen Bereichen der Gesellschaft stehen einzelne Leistungsanforderungen im Vordergrund zulasten der Entwicklung des Individuums.
In der Schulklasse ergibt sich faktisch eine Hierarchie zwischen besseren und schlechteren Schülern.

„Zurück bleibt dann nicht nur das Unvermögen, nicht Englisch sprechen zu können, sondern ein gestörtes Selbstvertrauen. [...] Die Ich-Stärkung des Schülers, wichtigstes pädagogisches Ziel, wird verfehlt“ (Singer 1981, 172).

„Der Lehrer glaubt Mathematik zu lehren, tatsächlich aber lehrt er diese Schüler Misserfolg, Demütigung, Beschädigung des Selbstwertgefühls“ (Singer 1998, 153).

Die Selektion ist umso unerbittlicher, desto weniger Fördermaßnahmen für „leistungsschwächere“ Schüler vorgesehen sind bzw. an ihnen gespart wird.

Die Schule bereitet auf ein Geschäfts- und Erwerbsleben vor, in dem es darum geht, besser zu sein als die anderen.
Neben den offiziellen Lerninhalten gibt es den gar nicht so heimlichen „heimlichen Lehrplan“.
Zu ihm gehören der Zweifel bzw. die Furcht, die anderen seien „viel besser und perfekter, jedenfalls immer dabei, uns zu überflügeln. Wir sehen uns auf einer Leiter, die wir niemals ganz erklimmen können, ständig vom Absturz bedroht. Oben stehen diejenigen, ‚die etwas erreicht haben?. Wir hassen sie im Grunde unserer Seele, wollen zugleich aber auch ganz dort oben sein“ (Ebd., 40).
Gute Lehrer bemühen sich zwar darum, dass Schüler, die leichter Zugang zu einem Unterrichtsstoff finden, anderen helfen, die sich dabei schwerer tun. Die Schüler haben im durch Konkurrenz um Noten dominierten Unterricht aber wenig Raum dafür, Hilfe und Kooperation zu entwickeln.
Die mangelnde innere Ichstärke ist der Marktwirtschaft dienlich. Die Ichschwäche und das Rivalisieren bilden zwei Seiten einer Medaille:

„Der Ehrgeizige ist weder seiner selbst noch der Verlässlichkeit der existenziellen Zustimmung der anderen sicher. Wie das in seinem Bestätigungsbedürfnis letztlich nicht ganz befriedigte Kind reagiert er mit verstärkter Anstrengung“ (Buchkremer 1972, 28).

Status- und Karriereerfolge sollen dafür sorgen, dass der innere Mangel nicht gespürt wird. Zwar versuchen gute Lehrer, Schülern nicht nur abfragbaren Stoff beizubringen, sondern zu ihrer persönlichen Entwicklung beizutragen.
Gewiss gibt es in Schulen immer wieder Reformbemühungen, die beabsichtigten, die benannten Probleme anzugehen. Im Endeffekt können sie sich nicht durchsetzen. Die Gegenkräfte und -tendenzen bleiben stärker.

Politische Relevanz der Kampagne „Schule muss anders“
Diese Kampagne steht in einer Reihe mit Bewegungen, die das Allgemeine (die Formen und Strukturen der Gesellschaft) ausgehend vom besonderen Feld, in dem die Arbeitenden jeweils tätig sind, infrage stellen können.
Im Gesundheitswesen Arbeitende bemerken, wie dessen gegenwärtige Strukturen einer sorgsamen Krankenbehandlung oft entgegenstehen. Mit der Landwirtschaft Befasste nehmen war, dass die kapitalistischen Geschäftskriterien dem pfleglichen Umgang mit der Natur und der Qualität der landwirtschaftlichen Produkte abträglich sind.
Zugleich ergeben sich aus den besonderen Tätigkeitsfeldern der Arbeitenden soziale Beziehungen zu denjenigen Teilen der Bevölkerung, die in besonderem Maße an diesem Bereich interessiert sind. Bei der Schule sind das die Eltern. Es handelt sich nicht einfach um einen Protest gegen Zumutungen, sondern um Personen, die Kompetenzen und Qualifikationen haben.

In der Gesellschaft entstehen solche auf die Arbeitsinhalte bezogenen Bedürfnisse und ein derartiges professionelles Ethos, die zu den herrschenden gesellschaftlichen Zwecken und Formen in Differenz und Gegensatz geraten können.
Zugrunde liegt ein Widerspruch: Die Arbeitenden haben Qualifikationen und Reflexionsvermögen entwickelt. Sie ermöglichen es ihnen zu sagen: Ausgehend von dem, was wir gelernt haben und was wir können, sind wir imstande, mit unseren Arbeiten und Tätigkeiten sowie mit unseren Kompetenzen uns sinnvoller auf die Adressaten der Arbeit zu beziehen, als dies unter den Imperativen einer kapitalistischen Ökonomie möglich ist.

Der Protest stellt dann keine bloße Ansichtssache dar. Er ist bei den genannten Gruppen anders geerdet – in ihrem professionellen Ethos bzw. in ihren die Generativität betreffenden menschlichen Vermögen.
John Kotre unterscheidet zwischen biologischer Generativität (dem Großziehen eigener Kinder), elterlicher Generativität (dem Sich-Kümmern um fremde Kinder), technischer Generativität (der Weitergabe und Vermittlung von Fertigkeiten und Wissen an die nächste Generation) sowie kultureller Generativität (der Weitergabe, Vermittlung und Transformation kultureller Werte) (Psychologie Heute 4/2001, S. 26f.).
Sie schließt auch das Inhalte-Weitergeben bzw. -Weiterentwickeln ein.

Schule muss wirklich anders
Genauso wie es in Berlin – besonders vor dem Enteignungs-Volksentscheid – eine Mieterbewegung gibt, kann eine Gesundheits- oder eine Bildungsbewegung an Zustrom gewinnen.
Solche Bewegungen entstehen in einer Gesellschaft, deren Bruttosozialprodukt wächst, während zentrale Bereiche, die für die Entwicklung der menschlichen Vermögen wesentlich sind (wie z. B. das Bildungswesen), in schlechtem Zustand bleiben.
Im Bruttosozialprodukt gelten alle Inhalte gleich bzw. sind in ihm gleich gültig. Es steigt, wenn z. B. mehr Produkte schnell schnell veralten bzw. leicht kaputt gehen und mehr Ersatzkäufe stattfinden. (Einer 2013 erschienenen Studie über „Geplante Obsoleszenz“ (also über vorsätzlich in die Produkte eingebauten Verschleiß) zufolge könnten die Verbraucher pro Jahr 100 Mrd. Euro sparen, wenn sie „nicht ständig neue Produkte kaufen, weil die alten zu früh kaputtgehen“, Süddeutsche.de, 20.3. 2013).
Das Bruttosozialprodukt ist das Pseudonym des abstrakten Reichtums. Er orientiert sich an der Akkumulation des Kapitals. Die Vorherrschaft dieses abstrakten Reichtums schadet auch den Schulen. Die skizzierten Strukturen des Unterrichts entsprechen einer Gesellschaft, in der im Alltag – nicht am Sonntag – das Individuum als „Humankapital“ gilt.
Es muss danach streben, sich auf Arbeitsmärkten als verwertbar zu erweisen (‚employability?). Vielerlei Lernstoffe entwickeln „eine selbst objektive Seite oder Qualität, die an uns haftet“, aber „nicht eigentlich uns“ (Simmel 1986, 207).

Diejenigen, die „Schule muss anders“ wollen, können es nicht dabei belassen, die Beschränkung der Schule durch knappe Mittelzuweisung zu bekämpfen. Gewiss würde sich einiges am Lernen ändern, gäbe es kleinere Klassen, mehr Förderunterricht, Teams aus unterschiedlichen Berufen u. ä. Lehrer sind sich schnell einig darüber, dass „eigentlich“ mehr Geld in das Schulwesen gehört.
Brisant werden Kontroversen im „Kollegium“ aber erst, wenn es um die Frage nach den Strukturen des Schulunterrichts geht. Die not-wendige qualitative Veränderung wird sich nicht als Wirkung der quantitativen Erweiterung (mehr Lehrer, Sozialarbeiter usw.) einstellen.
Um den skizzierten Gegensatz zwischen zentralen Formen der Beschulung und dem guten Leben zu überwinden bedarf es – wir belassen es bescheiden bei einer Aussage über die Bildungsanstalten – nicht nur eines „mehr“ an Schule, sondern einer anderen Schule.

 
 
Literatur:
Boenicke, Rose; Gerstner, Hans-Peter, Tschira, Antje 2004: Lernen und Leistung. Vom Sinn und Unsinn heutiger Schulsysteme. Darmstadt

Buchkremer, Hansjosef 1972: Ehrgeiz. Stuttgart

Creydt, Meinhard 2022: Die Fehler des Alltagspragmatismus. In: Telepolis, 8.1.2023

Holzkamp, Klaus 1976: Sinnliche Erkenntnis – Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung. Kronberg

Holzkamp, Klaus 1993: Lernen. Subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt M.

Hoock, Silke 2019: „Der härteste Umbruch meines Lebens“. In Der Spiegel Job&Karriere, 11.04.2019

Nüberlin, Gerda 2002: Selbstkonzepte Jugendlicher und schulische Notenkonkurrenz. Herbolzheim

Rumpf, Horst 1966: 40 Schultage. Tagebuch eines Studienrats. Braunschweig

Simmel, Georg 1986: Philosophische Kultur. Berlin

Singer, Kurt 1981: Maßstäbe für eine humane Schule. Frankfurt M.

Singer, Kurt 1998: Die Würde des Schülers ist antastbar. Reinbek bei Hamburg

Spitzer, Manfred 2002: Lernen, Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg

Spitzer, Manfred 2003: Medizin für die Pädagogik. In: Die Zeit, Nr. 39

Stangl, Werner 2003: Lernen wurde aus der Schule ausgelagert. In: Die Furche, Wochenzeitung