Okt
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Erinnerung an radikale Literaturkritik anlässlich der Buchmesse
(in: Telepolis, 23.10.2022)

Christian Enzensberger (1931-2009) stellt in seinem Buch „Literatur und Interesse“ das Interesse grundlegend in Frage, das Leser an Literatur zeigen. Als idealen Leser können wir uns eine Person vorstellen, die (allerdings nicht übermäßiges) Unbehagen empfindet angesichts einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die ihr als disparat, komplex und undurchschaubar erscheint. Enzensberger zufolge schafft der Autor im Kontrast dazu etwas, das in all seinen Teilen untereinander sowie auf sein Ganzes bedeutungshaft bezogen ist. Im Kunstwerk stehen alle Details in einem Verhältnis einsichtiger Notwendigkeit bzw. sinnvollen Zusammenspiels zueinander. Manchmal brauchen die Leser einige Zeit, um das herauszufinden. Aber gerade das macht ihren anspruchsvollen Lektüregenuss aus. Die erfolgreiche Lektüre kommt zum Ergebnis: Alles im jeweiligen Werk „ist bezogen, alles bedeutet, alles heißt, alles ist interpretierbar“. Literatur stellt eine „Sinnmaschine“ dar (Enzensberger 1977a). Literatur ordnet die dargestellten Elemente „zu eben jener Struktur an, die ich in meiner eigenen Existenz dauernd vermisse“ (Enzensberger 1977, 94).

Bernhard Bolzano (1972, 30) hat bereits 1845 das Resultat beschrieben, auf das es ankommt:

„Am Ende, wenn wir noch einmal alles überblicken, sehen wir, wie jedes Wort dem Zwecke, welchen der Dichter bei seiner Arbeit gehabt, […] entspreche. Dass wir das eine zu ahnen, das andere noch hinterher einzusehen vermögen, [...] ergötzt uns als Beweis unserer Denkfertigkeit, und darin liegt der Grund, dass wir die Dichtung schön finden.“

Die Vorherrschaft interner Kohärenz
Der Autor geht ähnlich vor wie ein Einbrecher. Dieser wirft dem Hund, der das Eigenheim beschützen soll, ein Fleischstück hin, um ihn abzulenken. Der Autor beschäftigt den Leser mit inhaltlichen Themen. Sie sind für den Erfolg des Kunstwerks beim Leser aber nur das Material. Entscheidend ist die Form. Literatur „holt sich mittels der Form eine Überprüfbarkeit zurück; aber nicht an der Erfahrungswirklichkeit, sondern immer nur innerhalb ihrer selbst“ (Enzensberger 1981, 289). Die Schreibweise des Autors hat in sich stimmig zu sein. Die „Selbstübereinstimmung der poetischen Werke tritt an die Stelle der Übereinstimmung von nicht-poetischen Aussagen mit Sachverhalten“ (Hörisch 2005, 140). Die Erfahrungen in der Literatur „stimmen nicht, weil darin alles stimmt“ (Enzensberger 1981, 139).

Literatur kann Sinnlosigkeit „aus Sinnzwang“ nicht adäquat wiedergeben. Selbst wenn im Text inhaltlich erschreckende Botschaften dominieren, „nistet“ sich noch „jedesmal durch formale Sinnkonsistenz die poetische ‚Notwendigkeit’ und der ‚tiefere’ Sinn wieder ein“. In Becketts Breath ist „dieser inhaltlich-formale Widerspruch so weit fortgebildet, dass mit einem einzigen Klageschrei auf einer dunklen Bühne das Welt- und Literaturganze geradezu sinntriefend als ‚vergeblich’ gekennzeichnet ist: ein gutes Beispiel für eine (negative) Pauschal-Sinnüberschreibung, auf die tatsächlich alles zuordenbar ist“ (Enzensberger 1981, 71).

Sinnhafte Darstellung muss nicht „schön“ sein
Beugen wir Missverständnissen vor: Der manifeste „Inhalt“ des Kunstwerks muss nicht schön sein, solange als ansprechend die Art und Weise angesehen wird, wie es ästhetisch gestaltet ist. Kommt Hässliches zur Darstellung, so genießt der anspruchsvolle Leser die Meisterschaft, mit der sich noch Kaputtes in Kunst verwandeln lässt und die Darstellungsmanier über die Hässlichkeit siegt.

Eine zu große Nähe zwischen dem Kunstwerk und dem Rezipient ist dem ambitionierten Leser suspekt. Angesichts seiner Beschäftigung mit dem ästhetischen Text will ein solcher Leser sich herausgefordert fühlen. Der Leser, so wie der Autor sich ihn wünscht, will die „Verfremdung der Dinge und die Komplizierung der Form, um die Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlängern. Denn in der Kunst ist der Wahrnehmungsprozess ein Ziel in sich und muss verlängert werden“ (Šklovskij 1966, 14). Die Lektüre soll bloß nicht allzu schnell enden.

Die Verheißung der Verstehbarkeit und das Ideal der Erlebbarkeit
Literatur antwortet auf eine Erfahrung.

„Wir können einander nicht verstehen, es sei denn in groben Umrissen und höchst flüchtig; wir können, selbst wenn wir möchten, uns nicht rückhaltlos geben; was wir Intimität nennen, ist nur ein Notbehelf; völliges Vertrautsein eine Illusion. Im Roman aber können wir die Menschen durch und durch kennenlernen und können, abgesehen von dem allgemeinen Vergnügen der Lektüre, einen Ausgleich für ihre Undurchschaubarkeit im wirklichen Leben finden“ (Edward M. Forster (1879-1970), zit. n. Rutschky 1985, 608f.).

Das sich unverstanden fühlende Individuum tröstet sich damit, in der Lektüre zu erfahren: Totales Verstehen ist möglich. Allerdings findet eine Verschiebung statt: Das literarische Kunstwerk simuliert Verständnis, indem es das zu Verstehende ästhetisch zu Verständlichkeit und Sinnhaftigkeit transformiert.

Literatur bearbeitet die von ihr beschriebenen Themen auf eine bestimmte Weise. Das Interesse besteht nicht primär darin, sie „in der literarischen Bearbeitung deutlicher, klarer, einfacher über- und durchschaubar“ zu machen. Es geht um etwas anderes:

„Ihre Erlebtheit wird über alles real Erlebbare gehoben, sie werden existenziell durchgängig beziehbar gemacht, und nur in dieser illusionären Qualität sind sie den wirklich erfahrenen überlegen“ (Enzensberger 1981, 111).

Durch ihre literarische Bearbeitung soll das Dargestellte „wirklicher als die Wirklichkeit“ erscheinen. Das „Erdichtete“ soll „intensiver erlebt werden“ können als das reale Geschehen. „Die Literatur verwandelt ihre Abbilder in existenziell überzeichnete (hypermimetische) Überabbilder“ (Enzensberger 1977, 83). Besonders passionierte Leser vermissen an der Realität, dass sie nicht so sei wie ein Roman. Angesichts großer Kunst erscheint die prosaische Wirklichkeit als eine lachhafte Kopie unserer großen literarischen Werke (Arno Schmidt).

Exzessive Intensität erlangt die sinnhafte Komposition des Textes bei Gedichten.

„Zucker eignet sich zum Süßen des Kaffees, nicht aber dazu, mit dem Löffel vom Teller gegessen zu werden wie Grütze. An der reinen, in Versen geschriebenen Poesie quält mich das Übermaß; das Übermaß an Poesie, das Übermaß an poetischen Wörtern, das Übermaß an Metaphern, das Übermaß der Sublimierung, endlich das Übermaß der Kondensierung und der Säuberung jeglicher antipoetischer Elemente – Gedichte gleichen derart einem chemischen Produkt“ (Gombrowicz 1987).

Die Aufmerksamkeit fixiert sich auf den Stil
Viele anspruchsvolle Leser konzentrieren sich auf den Stil und die Schreibweise. Dann geht es „nicht primär um Inhalte, sondern um die Mittel, Inhalte auszudrücken und um ihre Begutachtung.“ Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen die „formale Originalität“ (Schulze 1992, 288), die „raffinierte formale Idee, der prickelnde kleine Schock noch unverbrauchter Stilbrüche, die Eindrücklichkeit der Aufmachung“ (Ebd., 546).

„Weniger wichtig ist die Frage, ob solche Kompetenzen eingesetzt werden, um Hoffnung auszudrücken oder Verzweifelung, Affirmation oder Kritik, Schönes oder Hässliches. Im Vordergrund steht die Frage, wie die Darstellung gemacht ist, nicht, worauf sie hinaus will“. (Ebd., 288)

Marcel Reich-Ranickis Kommentar zu Botho Strauß’ ‚Die Fehler des Kopisten’ (im ‚Literarischen Quartett’ vom 24.4.1997) lautete entsprechend: „Seine Ansicht, die Welt sei verbraucht und debil, eine gefährliche Behauptung, würde ich ihm verzeihen – wenn er besser schriebe“ (zit. n. Berliner Morgenpost, 14.12.2001, S. 19). Der Aufmerksamkeit, die sich auf die Schreibweise fixiert, entgeht, dass manche Autoren besser schreiben als sie den dargestellten Stoff begreifen.

Die Aufgabe der Enträtselung
Manche Künstler geben ihren Lesern eine schier unendliche Enträtselung auf.

Arno „Schmidt arbeitet ständig mit verdeckten Zitaten, Anspielungen und Vieldeutigkeiten, so dass der Leser den Sprachspuren wie ein Detektiv folgen muss. Nehmen wir nur die erste Zeile (von ‚Zettels Traum’ – Verf.): Links steht ‚Anna Muh-Muh!’ So, ‚ana moo-moo’ rufen die Eingeborenen in Poes ‚Gordon Pym’. Die deutsche Lautschrift sagt uns, dass wir vor einer Kuhweide stehen, deren Stacheldrahtzaun wir in der ge-x-ten Doppelreihe erkennen. Er wird in der Mitte auseinandergedrückt, um die Personen durchzulassen, wobei eine hängen bleibt, was den Metallton ‚king’ und den nur angedeuteten Fluch ‚fu’(cking) verursacht. Das ist aber nicht alles, denn das umrahmte ‚king!’ bedeutet nämlich vor allem: Jetzt tritt König Arno auf, der sich hier seinen Traum erfüllen wird. Der Titel ‚Zettels Traum’ verweist natürlich auf die seit Wielands Erstübersetzung ‚Zettel’ genannte Figur aus Shakespeares ‚Sommernachtstraum’, deren originalen Namen Bottom man aber auch mit Arsch übersetzen könnte, womit wir bei Ar(no) Sch(midts) und Po(e)s Traum angelangt wären“ (Fuld 2004, 208).

Wie gern feiert die Kunstbegleit-Rhetorik die „produktive Annahme widersprüchlicher Komplexität“. Welche Kränze werden der „Verweigerung bequemer Identifikation“ geflochten. Selten sprechen professionelle Kunstbewunderer schnörkellos aus, was ihnen vorschwebt: Der Künstler solle bei seinem Rezipienten nicht nur „Mühe fordern“, sondern … „schwierige Übereinstimmung“ (Stelzmann 1979, 223).

PS: Christian Enzensberger wurde 1963 mit seinen Übersetzungen von „Alice im Wunderland“ und „Alice hinter den Spiegeln“ bekannt und war Professor für Englische Literaturgeschichte in München. Viel beachtete Werke sind neben „Literatur und Interesse“ sein „Größerer Versuch über den Schmutz“ (1969) und sein Roman „Was ist Was“ (1987).

Literatur:
Bolzano, Bernhard 1972: Über den Begriff des Schönen. In: Ders.: Untersuchungen zur Grundlegung der Ästhetik. Frankfurt M.
Enzensberger, Christian 1977: Literatur und Interesse. München
Enzensberger, Christian 1977a: Der Leser hat es immer schon gewusst. In: Die Zeit, H. 49
Enzensberger, Christian 1981: Literatur und Interesse. Zweite, fortgeschriebene Fassung. Frankfurt M.
Fuld, Werner 2004: Die Bildungs-Lüge. Berlin
Gombrowicz, Witold 1987: Gegen die Dichter. Frankfurter Rundschau, 21.3.1987
Hörisch, Jochen 2005: Warum lügen und was wissen die Dichter? In: Konrad Liessmann (Hg.): Der Wille zum Schein. Wien
Rutschky, Michael 1985: Erinnerung an das richtige Lesen. Über die Romane von E. M. Forster. In: Merkur, Nr. 437, 39. Jg.
Schulze, Gerhard 1992: Die Erlebnisgesellschaft. Frankfurt M.
Šklovskij, Viktor B. 1966: Theorie der Prosa. Frankfurt M.
Stelzmann, Volker 1979: Erkenntnis und Genuss. In: Internationaler Realismus heute. Katalog des Kunstvereins und des Kunsthauses Hamburg