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in Neues Deutschland, 31.1.2021.
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Für Trump und „Querdenken“-Agitatoren kann, soll und darf es keine Aussagen über die Wirklichkeit mit Objektivitätsanspruch geben. ‚Die Prinzen’ singen: „es ist alles nur geklaut“. Radikale Gegner der Existenz von ‚Wahrheit’ meinen: „es ist alles nur konstruiert“.

Theoretiker des ‚radikalen Konstruktivismus’ sehen das gewiss sublimer, aber nicht substanziell anders. Einerseits sagen sie über das Bewusstsein: „Objektivität ist eine Wahnvorstellung“ (Heinz von Foerster). Andererseits wollen sie uns ja nicht etwas Subjektives anvertrauen, sondern begründet etwas über eine Realität (hier: die des Bewusstseins) feststellen. Wer Aussagen über die Realität ausschließt, kann nicht wissen, was es mit dem Bewusstsein auf sich hat. Wenn wir nicht mehr unterscheiden können, ob ein Bewusstsein rein subjektiv und bar jedes Realitätsbezug bleibt oder nicht, wird es brenzlig. Wissen und Wahnvorstellung lassen sich dann nicht mehr unterscheiden.

Wenn jede Person nur etwas mitzuteilen vermag, das keinerlei Objektivitätsanspruch erhebt, so befinden wir uns in der Selbsterfahrungsgruppe. Ruth teilt dann ihr Empfinden mit und Hans seins. Ernst von Glasersfeld, ein Theoretiker des ‚radikalen Konstruktivismus’, schreibt: „Der radikale Konstruktivismus ist deswegen radikal, weil er mit der Konvention bricht und eine Erkenntnistheorie entwickelt, in der Erkenntnis nicht mehr eine ontologische Wirklichkeit betrifft, sondern ausschließlich die Ordnung und Organisation von Erfahrungen in der Welt unseres Erlebens.“ Irgendwelche objektive Gesichtspunkte für diese Ordnung fallen dem radikalen Konstruktivismus zufolge aus. Ruth und Hans ordnen ihre Gedanken wie ihre Bücher. Verfasser und Farbe des Einbands bilden mögliche Kriterien. Dem Inhalt bleiben sie äußerlich.

‚Radikale Konstruktivisten’ blicken auf die Erkenntnisarbeit aus großer Höhe. Sie sehen es darauf ab, von einigen kleinen Unterschieden abzusehen. Beliebt ist auch bei Nichtphilosophen der Satz: „Wenn ein Mensch sagt, dass er die Wahrheit gefunden hat, wird er zu einem gefährlichen Tier“ (Heinz von Foerster). Foerster verwendet den Wahrheitsbegriff vieldeutig. Er vermischt Aussagen über den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess mit weltanschaulichen Stellungnahmen. Das Zutreffen von bestimmten Aussagen ist etwas ganz anderes als „die Wahrheit von allem“.

„Wissensansprüche können fehlgehen, Wissen selbst nicht. […] Wissen ist der Name für den Erfolgsfall, für einen erfolgreichen Wissensanspruch“ (Markus Gabriel). Der ‚radikale Konstruktivismus’ knüpft an verbreiteten Vorstellungen an. Eine lautet: „Es gab Irrtümer, also ist nie sicher, ob das, was in der Wissenschaft jetzt als richtig und wahr gilt, auch tatsächlich zutrifft.“ Wer an einem bestimmten Argument Fehler erkennt, kann dafür zutreffende Gründe nennen. Nur deshalb ist er über diesen Irrtum hinaus. Das weiter entwickelte Wissen vermag zu zeigen, welche Aspekte das unentwickeltere Wissen isoliert und verabsolutiert. Für die bestimmte Erkenntnispraxis interessiert sich nicht, wer fragt, wie Erkenntnis unabhängig von ihr und vom vorhandenen Wissen überhaupt möglich sein könne. Diese Frage ähnelt dem Horizont von radikale Anhänger ihrer Religion. Sie wollen sich allein auf Gott verlassen. Alles menschliche Erkennen gilt ihnen als unsicher. Die Haltung des vermeintlich grenzenlosen Zweifels verschwistert sich notorisch mit dem Wunsch, getrennt von der Erkenntnisarbeit eine Substanz beanspruchen zu können, die der Erkenntnis ein sicheres Fundament verschaffe. ‚Radikale Konstruktivisten’ glauben nicht an die Existenz eines solchen Stein der Weisen, halten aber implizit am metaphysischen Anspruch eines absoluten Außen fest. Implizit versteifen sie sich wie viele andere vor ihnen darauf, „die Erkenntnis, die wir haben, an dieser Unmöglichkeit zu orientieren und in diesem Sinne relativ zu nennen“ (Max Horkheimer).

Der ‚radikale Konstruktivismus’ hat Schwierigkeiten mit der Unterscheidung zwischen Konventionen (Rechts- oder Linksverkehr?) und wissenschaftlicher Erkenntnisarbeit. „Lebende Systeme sind interagierende Systeme, die mit anderen Systemen konsensuelle Bereiche als sozial akzeptierte Wirklichkeiten aufbauen“, so der ‚radikale Konstruktivist’ Siegfried J. Schmidt. Alle „Konstrukte“ und „Narrative“ unterliegen dieser Theorie zufolge der Absprache, der Mehrheits-Entscheidung der Individuen oder des Sicheinspielens eines Konsens. Die Konsenstheorie hat eine subjektivistische Schlagseite. Ihr Subjektivismus ist nicht solitär, sondern intersubjektiv. Unerklärlich bleibt der Konsenstheorie, warum Forscher überhaupt noch Überraschungen erfahren. Dass eine lange Zeit die euklidische Geometrie herrschte, hat nicht verhindert, dass man später im Rahmen einer nicht-euklidischen Geometrie dachte.

Wenn Positionen nicht inhaltlich diskutiert werden, sondern an ihnen zählt, ob sie von der Mehrheit befürwortet werden, dann war z. B. der Nationalsozialismus lange Zeit ein „soziales Konstrukt“, das „Viabilität“ aufwies. Es scheiterte solange nicht in der Realität und erwies sich als überlebensfähig, wie der NS existierte. Mussolini hat bereits 1921 erklärt: „Wenn Relativismus Verachtung für feste Kategorien und diejenigen, die die Träger der objektiven und unsterblichen Wahrheit zu sein behaupten, bedeutet, […] dann gibt es nichts Relativistischeres als die faschistische Haltung und Aktivität. […] Ausgehend von der Tatsache, dass alle Ideologien den gleichen Wert haben, dass alle Ideologien bloße Fiktionen sind, kommt der moderne Relativist zu der Einsicht, dass jeder das Recht hat, seine eigene Ideologie zu erschaffen und zu versuchen, sie mit aller Energie, die ihm zur Verfügung steht, durchzusetzen.“

Um eine dürftige Welt handelt es sich, wenn in ihr Erkenntnis allein subjektiv konstruiert und die Wirklichkeit uns kognitiv unzugänglich bleibt. Technik oder Naturwissenschaft, Medizin oder Pädagogik könnten sich unter dieser Voraussetzung sich nicht entwickeln. Der ‚radikale Konstruktivismus’ schließt so etwas wie die Übereinstimmung des Wissen sowie der dieses Wissen praktisch umsetzenden Praxis mit der Wirklichkeit aus. Ingenieure und Mediziner gehen von dieser Korrespondenz aus. Ein Zufall ist das nicht. Sie sehen unsere Sprache und unsere Erkenntniswege nicht als Hindernis dafür an, etwas von der Wirklichkeit zu begreifen. Zur Praxis wissenschaftlicher Wissensproduktion setzen sich ‚radikale Konstruktivisten’ in Gegensatz. Sie nehmen implizit an, wir müssten unsere Köpfe verlassen können, um einen direkten Zugang zur Welt zu erreichen. Dies sei ebenso wenig möglich wie über den eigenen Schatten zu springen. Behauptet wird eine Befangenheit im Diskurs, dessen Eingeborene wir wohl oder übel blieben. Eine Voraussetzung für diese These besteht darin, die Widerspruchslosigkeit des Diskurses anzunehmen.

Was als Wissenschaft auftritt, ist nicht szientistisch als letztes Wort anzusehen. In wissenschaftliche Untersuchungen gehen zeitgebundene und für die jeweilige Gesellschaft typische Sichtweisen und Denkformen ein. Erkenntnisgehalte von solchen Formungen zu unterscheiden ist schwierig. Daraus folgt aber nicht, wie Jürgen Ritsert gegen den Radikalen Konstruktivismus zu Recht bemerkt, „dass alles, was der Fall ist, nur aufgrund“ solcher Formung „der Fall ist“. Dass Wissenschaftler keine neutralen Monitore der Wirklichkeit sind, diese Erkenntnis gab es schon lange vor dem ‚radikalen Konstruktivismus’. Er geht jedoch über die Analyse unserer begrifflichen „Repräsentationssysteme“ weit hinaus. Seine These lautet: Diese Formen – „bringen all ihre Referenten, also das, worauf sie sich beziehen, hervor“ (so Karin Knorr-Cetina in ihrer Auseinandersetzung mit dem Radikalen Konstruktivismus).

Wenn alles als Konstrukt gilt, dann herrscht die Maxime: „anything goes“. Manche feiern das als Freisetzung von Möglichkeiten. Die Verbeliebigung und Entwirklichung aller Erkenntnis passt gut dazu, dass die Bevölkerung abhängige Variable von gesellschaftlichen Prozessen bleiben, die sich nicht nur von, sondern auch gegen die Menschen verselbständigt haben. Der ‚radikale Konstruktivismus’ ist ein Angebot: Wer faktisch diesen Prozessen unterworfen ist, möchte wenigstens im eigenen Räsonieren sich keine Grenzen setzen lassen durch Maßstäbe von Objektivität und Wahrheit. Das Individuum avanciert zum Subjekt, indem es seine Souveränität durch die Einbildung gewinnt, sich als Freigeist an seinen unendlichen Möglichkeiten zu erfreuen – auch und gerade dann, wenn sie vornehmlich darauf hinauslaufen, die gesellschaftliche Wirklichkeit durch deren Uminterpretation anzuerkennen.

Eine antiautoritäre Szene mit feuilletonistischer Mentalität hat sich den ‚radikalen Konstruktivismus’ angeeignet und ihn mit Foucaults Macht- und Diskursanalyse verknüpft. Alle drei kultivieren den ebenso allumfassenden wie imposanten Vorbehalt gegen jeden Diskurs. Er schließe prinzipiell die Menschen in sich ein. Eine Kritik folgt daraus nicht. Diese vermeintlich abgeklärte Überzeugung lautet: So ist sie nun einmal, die Welt der „Diskurse“ und „Konstrukte“. Ihr entrinne niemand. Das „ganz Andere“ oder Subversive habe einen ähnlichen Status wie Kants noumenon. Es entziehe sich unserer Vorstellung, sei aber alles andere als irreal. Die Opposition zu den herrschenden „Diskursen“ und „Narrativen“ könne schlechterdings nicht auf ihrer Ebene operieren. Zum Dogma der Widerspruchslosigkeit der gesellschaftlichen Realität tritt eine exquisite Ausrichtung hinzu: Bereits die inhaltliche Annäherung an das Subversive gefährde es. Das „ganz Andere“ zu retten heiße, sich an einer halb ästhetischen, halb religiösen Utopie zu orientieren. Die Reflexion auf bestimmte soziale und kulturelle Grenzen und Formen von Erkenntnis gilt als zu prosaisch und profan. Vielmehr soll das poetisch-gläubige Sensorium den Zugang zu unergründlichen Zuständen jenseits der als unausweichlich repressiv angesehenen Sprachen und „Diskursen“ eröffnen.

Die große Erzählung von den in sich geschlossenen Diskursen passt zu einer Post-truth-Praxis. Sie folgt dem „Motto ‚Meine Wahrheit ist so gültig wie deine, völlig unabhängig von Fakten und Belegen“ (Eric Hobsbawm). Um „rationales Erklären“ kann es dann nicht gehen, „sondern um ‚Bedeutung’, nicht um die Frage, was geschehen ist, sondern wie ein Geschehen von den Mitgliedern einer Gruppe empfunden wird, die sich aufgrund religiöser, ethnischer und nationaler Kriterien oder nach Geschlecht, Lebensstil usw. abgrenzen“ (Hobsbawm). Demagogen wie die Brexiteers oder die „Querdenken“-Agitatoren belassen es nicht dabei zu lügen. Harry G. Frankfurt zufolge ist den Vertretern von „bullshit“ egal, ob das von ihnen Gesagte stimmt oder nicht. Auf die Stimmungsmache kommt es ihnen an. Bullshitter wollen, dass zwischen Lüge und Erkenntnis mit Objektivitätsanspruch nicht mehr unterschieden werden kann. (Der ‚radikale Konstruktivismus’ bestätigt das auf metatheoretischer Ebene.) Für Demagogen ist das günstig, für ihre Gegner fatal.