„Nicht der Bürokrat, sondern der Proletenparvenu hat die Revolution verraten“ – Zur Sowjetunion der 1920er Jahre

 
 
 
 
Fritz Brupbacher (1874-1944) : „Nicht der Bürokrat, sondern der Proletenparvenu hat die Revolution verraten“ – Zur Sowjetunion der 1920er Jahre

Die Russische Revolution zu Lenins Zeiten

Als 1917 die Oktoberrevolution in Rußland sich vollzog, freuten wir uns unendlich, glaubten zwar nicht, daß alle Blütenträume reifen werden, erwarteten aber, daß die ökonomische Grundlage geschaffen werde, auf der dann ein Sozialismus aufgebaut werde, der im Laufe der Zeit zur Möglichkeit der Entwicklung aller einzelnen Individuen führen wird.
Da wir die siegende Führung, die Bolschewiki, kannten, als brutale Jakobiner und Autoritäre, hatten wir von Anfang an die Furcht im Herzen, daß eine Despotie durch die andere abgelöst werde.

Da aber während der ersten drei Jahre die Bolschewiki ständig gegen die Weißen und ihre Alliierten, die Deutschen, Engländer, Franzosen und Japaner, zu kämpfen hatten, stellten wir unsere Einwände ganz in den Hintergrund. Uns schien vor allem ihr Sieg über die Weißen wichtig. Noch als ich 1921/22 drei Monate lang in der Sowjetunion war, konnte in mir selbst die volle Kritik gegen die Bolschewiki nicht aufkommen. Ich sympathisierte wohl mit der Arbeiteropposition der Chliapnikow und Kollontay, trat auch für sie ein, wandte mich bei meiner Rückkehr an die Zentrale der schweizerischen KP, damit sie dafür eintrete, daß dieser Arbeiteropposition alle Bewegungsfreiheit gegeben werde – aber da ich sah, wie unendlich schwer der Kampf war, den die kleine Gruppe der Bolschewiki gegen die ganze Welt führte, war meine Kritik gedämpft.
Ich hatte damals den Eindruck, daß der Kern der Partei wunderbar sei, daß ihr Despotismus zum Teil begründet sei darin, daß die Masse indolent war – nur eines fürchtete ich sehr. Ich traf überall in den subalternen bürokratischen Stellen ein Publikum, das der Zeit gar nicht würdig war. Auf Schritt und Tritt begegnete man allem, was dem Teufel vom Karren gefallen war. Großtuer, Streber, Unfähige, Schwätzer, die schon in dieser Zeit eine ungeheure Macht hatten. Jeder dieser Parasiten hatte seinen Revolver oder seine Pistole und ein Papier in der Tasche, das ihm alle Rechte über Leben und Tod der gewöhnlichen Bürger zusprach. Ich selber besaß auch so etwas Ähnliches, und auf der Reise in die Hungergegenden manipulierte der Leiter unserer Expedition ständig mit dem Revolver, drohte mit ihm, sobald irgendeinem Befehl nicht sofort Folge geleistet wurde.

Und bevor wir verreisten, schimpfte uns, die wir ohne Revolver waren, ein höherer Bolschewik aus, und als er uns triumphierend seine vielen Schießinstrumente vorzeigte, merkte man, daß bei ihm die Freude an der Gewalt größer war, als es verstandesmäßig nötig gewesen wäre. All die aus Freude am Herrschen Herbeigelaufenen zeigten damals schon den Anfang des Cäsarenwahnsinns. Man schluckte diese Erscheinungen – aber recht ungern. Ich bin damals aus Rußland abgereist, weil ich mit diesen Leuten nicht zusammenarbeiten konnte. Ich formulierte: Ein Kern von prächtigen Revolutionären opfert sich auf für eine Idee, und eine Unmenge von recht unsympathischen Leuten entwickelt sich zu Profiteuren der Revolution.

Ich kam zum Schluß, daß möglichst schnell die dem Teufel vom Karren gefallenen Politikanten entfernt und ersetzt werden müßten durch die Menschen der aufbauenden Arbeit. Ich sprach offen aus, daß es jetzt nötig sei, nicht eine dritte Revolution zu machen – bei der doch wieder neue destruktive Autoritäre aufkämen, sondern daß man mehr die Initiative zur Arbeit und zum Aufbau anzu regen habe und daß allmählich eine andere, aufbauende Menschenschicht leitende Minorität der Sowjetunion werden müsse. Das war anfangs 1922. Es schien, daß sogar der Jakobiner Lenin zugunsten der Initiative der Peripherie einlenken wolle.

Anfänge der Verwirklichung der «Philosophie» in der Sowjetunion

In dieser Phase der Revolution war eine der schönsten Erscheinungen die Zerstörung des ganzen alten ideologischen Gerümpels, der Wille, den alten Bürger-Spießermenschen zu Grabe zu legen und für die Realisierung eines neuen Menschen zu kämpfen.
Man stürzte die alten Strafgesetze um, baute neue, in denen die Abschaffung der Bestrafung der Homosexualität, der Abtreibung, des Konkubinats, der Sodomie, der Blutschande usw. proklamiert wurde, als Ausdruck davon, daß künftig alle Vorurteile beseitigt und nur noch bestraft werden sollte, wer einen ändern schädigte. Die Ehescheidung wurde frei. Es genügte künftig, daß einer der beiden Partner sich scheiden lassen wollte. Er konnte einfach die Scheidung anmelden, und damit war sie auch vollzogen. Hatte eine Frau mit mehreren Männern verkehrt und bekam ein Kind, so mußten alle, die in der kritischen Zeit mit ihr verkehrt hatten, Alimente zahlen.

Die Frau erhielt die gleichen Rechte in politischer und ökonomischer Beziehung wie der Mann. Jede Frau hatte das Recht, sich eine unerwünschte Schwangerschaft unentgeltlich in einer staatlichen Klinik beseitigen zu lassen. Niemals wurde eine Frau, die eine Schwangerschaftsunterbrechung an sich machen ließ oder machte, bestraft. Ein intensiver Kampf wurde geführt gegen alle religiösen Vorurteile. Auf dem Gebiet der Schule und der Kunst wurde allen modernsten Experimenten die Möglichkeit des Versuchs offen gelassen.
Es mischten sich in die ökonomisch-politische Revolution all die großen Ideen, die alle Klassen, wenn sie in Gärung geraten, immer und immer wieder vertreten.
Man hatte das Gefühl, da werde nicht nur dafür gestritten, daß eine neue Klasse oder Schicht ans Ruder komme, sondern daß man gleichzeitig auch kämpfe für die Emanzipation des Menschengeschlechts, und wenn man auch vorläufig notgedrungen untolerant und gewalttätig verfahre, so tue man es wider Willen und nur, weil man denke, auf diese Weise am besten seinen hohen menschlichen Idealen Genüge zu tun. Jeder von uns dachte, wenn einmal die größte Not vorbei sei, werde man mit Behagen alle Despotie und alle Diktatur liquidieren und dem freien Menschen, der in freier Solidarität lebt, werde Platz gemacht werden. Gewiß waren die Bolschewiki immer autoritär. Aber noch im Jahre 1922 gab es doch so viel Gedankenfreiheit, daß ein legaler anarchistisch-syndikalistischer Verlag existierte, in dem die Werke von Bakunin, Malatesta, Kropotkin, Nettlau, James Guillaume, Emma Goldmann, Elise Reclus, Landauer, Fabri und von andern offen erscheinen konnten.
Überhaupt war in dieser Zeit noch alles in der lebendigen Entwicklung begriffen.

Etwas Unspießerisches, Originelles war neben dem politisch Revolutionären und Autoritären in der Revolution vorhanden. Es war auch die Zeit, wo wir mit großer Freude alle aus dem Russischen übersetzte Belletristik verschlangen, in der man von dem neuen Menschen sprach und auch von dem neuen revolutionierten Privatleben. Es war die Zeit, in der sich auch in den außerrussischen kommunistischen Parteien ein frisches Leben kundtat und hie und da jemandem etwas in den Sinn kam, ja sogar offiziell gedruckt wurde, was noch originell war und ins Gebiet gedanklicher Neuproduktion gehörte.

Abkehr

Die Abkehr von dieser Phase beginnt mit dem, was man Bolschewisierung der Komintern nannte, und was in Europa mit dem Namen von Sinowjew verknüpft ist.
Es wurde auf einmal die Disziplin als das Allerhöchste betrachtet und durfte nichts mehr gedacht werden, was nicht das oberste Politbüro vorgedacht hatte. Die Diktatur von Moskau wurde in der Zeit absolut. Es mußte in Moskau etwas vor sich gehen, was wir nicht durchschauten, was sich aber im Ausland bemerkbar machte als absolute Diktatur der Kominternleitung über die ausländischen Sektionen. Als Außenstehende konnten wir die ganze interne Entwicklung in Rußland um so weniger verstehen, als die Elemente in Rußland, die der innerpolitischen Entwicklung sich entgegenstemmten, im Ausland gar nicht zu Worte kamen.

Wir wußten die längste Zeit nicht, was der Konflikt Trotzki-Stalin bedeutete.
Ich zum Beispiel war etwas verwirrt, wagte aber nicht öffentlich entscheidend Stellung zu nehmen, wenn ich auch innerhalb der Partei gegen die antitrotzkischen Resolutionen stimmte. Ich schrieb aber etwas ironisch in einem Artikel in der Berliner «Aktion», daß Trotzki mir nicht recht zu haben scheine, da er zu sehr Kulturmensch sei.

Ohne mir recht bewußt zu sein, hatte ich den Zentralpunkt getroffen, wie wir später sahen. Es waren allerlei kleine Tatsachen, die man in der russischen Belletristik herauslas, oder auch in den Tageszeitungen, die einen eine gewisse Änderung ahnen ließen im Geist der russischen Bewegung. Es waren Kleinigkeiten, über die man hinwegsehen konnte, die einen aber merken ließen, daß irgend etwas Philiströses, Spießerhaftes, das in den ersten Zeiten nicht da war, auftauchte.

Die westlichen Proleten, auch wenn sie das gleiche bemerkt hätten, hätten sich in ihrem Durchschnitt – und in der Politik herrscht immer der Durchschnitt – nicht daran gestoßen, sind sie doch selber Spießbürger. Übrigens erkannten wir die Veränderung in Rußland am besten an den dort ausgebildeten Propagandisten. Da Moskau fand, im Westen gebe es keine richtige führende Schicht, holten sie aus jedem Land junge Arbeiter nach Moskau und schickten sie uns nach einiger Zeit umgemodelt wieder heim. Sie brachten uns den Geist des neuen Moskau mit. Ein Geist, der diesen jungen Proleten übrigens sehr zusagte, da er ihr eigener Geist war, der Geist dessen, der hinauf will, der herrschen will, der alles heruntersetzen will, was nicht er ist und nicht er besitzt. Den Geist des Arrivisten à tout prix erhielten wir von Moskau in Form der Leninschüler und EKI-Vertreter zugeschickt.
Die Knaben wußten ihre Ellenbogen zu gebrauchen, ganz gleich wie die junge Generation in Moskau selber. Wie alle uns berichteten, die Rußland in den Jahren nach 1923 gründlich angeschaut haben, verstand es die Jugend sehr gut, durch gegenseitige Hilfe hochzukommen. Vielleicht nie war die Streberkameradschaft so wunderbar entwickelt wie im neuen Rußland und in der Komintern der ganzen Welt.

Aus vielen Einzeltatsachen, die wir der russischen Presse (Zeitungen und Zeitschriften) entnahmen, schlossen wir, daß eine Art Plüschsofaproletariat, wie wir es nur zu gut aus Europa kennen, im Entstehen begriffen war. Nicht Freude an großen Ideen, sondern an schoflen Möbelstücken und Abendkleidern usw. charakterisierte dies neue Proletariat, das zudem gar keinen Sinn für Gleichheit untereinander hatte. Ungeniert offen gab es in den Speisesälen vieler Institutionen verschiedene Eßklassen, wie ein Beteiligter etwas pointiert sagte: die Klasse derer, die Hühner aßen, die Klasse derer, die gesottenes Rindfleisch aßen, und derer, welche die Reste beider Klassen aßen.

Eine Unmenge kleiner Details ließ uns merken, daß da etwas entstand, was nicht im Programm unseres Sozialismus gestanden hatte.

Und wenn Bolschewiki zu uns nach Europa kamen, waren wir erstaunt über ihr Benehmen. Sie traten auf, als wären sie unsere Vorgesetzten und Kommandanten, und wenn wir Dinge sagten, die ihnen nicht gefielen, so brüllten sie uns an, wie das in kapitalistischen Ländern die Meister in den Fabriken tun und wie es die Lenin-Schüler auch taten, die man uns auf den Hals schickte. Es wuchs da etwas, was einen recht sonderbar anmutete. Eine Mischung von Plüschsofasozialisten mit cäsarenwahnsinnigen Unteroffizieren mit schlechten Emporkömmlingseigenschaften.

Schon früh merkte man, daß es da eine Schicht von Leuten gab, die kommandierten und viel Freude hatten am Kommandieren, und eine andere, die nur folgen durfte. Es fiel einem nicht in erster Linie eine starke Differenzierung in europäisch-ökonomischem Sinn auf, vielmehr eine Differenzierung in der Hierarchie des Befehlens und Gehorchens.
Es gab wohlhabendere und ganz arme Leute, doch keine ganz Reichen.
Aber der, man möchte fast sagen militärische, Gradunterschied im Zivilleben war ausgesprochener als in Europa. Der Unterschied zwischen Herr und Sklave wurde groß. Die Furcht, die der zu gehorchen Habende vor dem Befehlenden hatte, war sehr groß. All das roch man so heraus. Konnte man im Westen ablesen aus der Hierarchie in der Komintern, die den Geist des neuen Rußland wiedergab.

Ob die geistige und moralische Verlumpung russisch oder nur europäisch war, das konnten wir zu Beginn nicht unterscheiden, da wir doch nicht in Rußland lebten. Wir wußten nur, daß die, welche im Westen an dieser Verlumpung teilnahmen, von den Russen nicht etwa gemaßregelt, sondern protegiert wurden und avancierten.

In der Komintern galt Lug und Trug für erlaubt, nicht nur dem Klassengegner gegenüber, sondern auch gegenüber dem politischen Gegner in den eigenen Reihen, und es wurden die, welche das nicht billigten, als Kleinbürger verlacht. Man könnte es noch im Sinne von Netschajeff als revolutionär bezeichnen, wenn man im politischen Kampf alle Mittel für gestattet betrachtete. Aber man ging weiter. Jeder Streber fand, es gebe keine moralische Verpflichtung, und wenn er aufsteigen wolle, so seien Lug und Trug gerade so gestattet, wie die Wahrheit. Vielleicht sogar revolutionärer, und man entwöhnte sich der Ehrlichkeit, als wäre sie etwas Unanständiges, über die ökonomische Lage in Rußland erfuhren wir das Widersprechendste.

Daß die Erzählungen von offiziellen Reisenden wohl stimmten, darüber waren wir nicht gerade im Zweifel. Aber wir kamen bald zum Schluß, daß es zwei Rußland gebe, wie es später, als es siebzehn Lohnklassen gab, deren siebzehn gab. Glaubwürdige Optimisten erzählten uns von dem einen Rußland, dem es ganz ordentlich ging; und Leute, die lang dort gewesen und Augen hatten, erzählten uns von einem ganz andern Rußland, das uns gerade so glaubwürdig vorkam.

Daß Glück und Unglück drüben aber nicht jedem Einzelnen im gleichen Maße zukamen, sondern «klassenmäßig», im Sinne neuer Klassen, verteilt waren, das kam uns erst ganz allmählich zu Bewußtsein. Und von dem Zeitpunkt an hatten wir das neue Rußland, den Kern des neuen Rußland erkannt: Es hatte sich eine neue, glücklichere, herrschende Schicht und eine weniger glückliche und dienende Schicht herausgebildet.

Das war schon an und für sich unangenehm. Daß aber der gute alte Kern der Bolschewiki den Kampf gegen diese neue privilegierte Schicht nicht aufnahm, sondern sie noch deckte, das war das neue Unglück. Und das war für sehr viele leitende Bolschewiki der Fall.

Als ich meine Lebenserinnerungen herausgeben wollte und aus einer Anzeige derselben hervorging, daß ich diese neue Schicht und vor allem die sogenannten Apparatschiki angreifen wollte, schrieb mir ein hervorragendes Mitglied des russischen Zentralkomitees einen flehentlichen Brief, bat, es nicht zu tun, und fügte ausdrücklich hinzu: solange es eine Bourgeoisie gibt, müssen wir jeden Apparat decken. Die Leute sahen nicht ein, daß dieser bolschewistische Apparat selber wieder eine Art Bourgeoisie war, die sich von der alten nur durch größere Unfähigkeit und noch ärgeres Kommandierenwollen unterschied.
Es hatte sich aus dem Proletariat und der Bauernschaft eine Schicht gebildet, die die alten revolutionären Ideen verriet, die das vorhandene Glück monopolisierte. Eine Schicht, die ganz der Schicht entsprach, die nach 1918 in Deutschland ans Ruder kam, die Schicht, die in der deutschen Regierung Scheidemann, Ebert, Severing, Noske und Braun vertraten, die Parvenuproleten, die Verräter des Sozialismus.

Eine Erscheinung, die auch anno 1918 nicht nagelneu war, die sich entwickelt hatte als Durchschnittserscheinung in dem Teil des Proletariats, der in eine gute ökonomische Situation gekommen war.

Es war da etwas Prinzipielles. Es waren die gleichen Leute, die, als es ihnen noch schlechter gegangen, die Fahne der Idee des Sozialismus vorangetragen, die für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gestritten – oder dergleichen getan, dafür zu streiten –, vielleicht sogar geglaubt hatten, sie stritten dafür, und die sich einfach an die Stelle der Bürger setzen wollten, um dann, wie es die Bürger nach ihrem Aufstieg auch getan haben, die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in den Kot zu werfen. So hatte sich in Rußland eine privilegierte, vom Sozialismus abtrünnige Schicht gebildet, eine Schicht von vielleicht fünf Millionen Menschen – unter ihnen lebten weitere 175 Millionen und durften kaum atmen, und nicht viel mehr denken, als das zur Zeit der Zaren gewesen.

Wohl konnte jeder in die obere Schicht aufsteigen, aber nur, wenn er vor den neuen Herren kroch und keinen ändern Charakter hatte, als den eines Lumpenhundes. Diese neue Schicht ist es, die in Rußland herrscht. Den ersten Zusammenstoß zwischen den Revolutionären und den künftigen Spießbürgern kennen wir schlecht. Ich nehme an, es sei der Zusammenstoß zwischen Anarchisten und Bolschewiki gewesen. Obwohl hier noch andere Momente eine Rolle gespielt haben werden. Dieser Zusammenstoß ist für uns noch zuwenig geklärt. Den zweiten kennen wir besser: Das ist der Zusammenstoß mit der antibürokratischen Arbeiteropposition der Kollontay und Chliapnikow. Lenin und Trotzki waren sehr energisch gegen diese Opposition vorgegangen. Schon damals kämpften die Bolschewiki mit allen redlichen und unredlichen Mitteln. Und Kollontay sagte zu mir persönlich: «Wenn Sie hören, daß man von mir sagt, ich hätte silberne Löffel gestohlen, so wissen Sie, daß man mich politisch vernichten will.»

Der dritte Zusammenstoß war der mit Trotzki und seinen Anhängern in den Jahren 1924 bis 1929. Damals verstanden wir ihn nicht recht. Heute wissen wir, daß es der Kampf war der trotzkistischen Revolutionäre gegen die Parvenuproleten, die genug hatten von der Revolution und sich nur mehr kümmerten um den «Aufbau» in Rußland.
Wenn sie den Internationalismus aufgaben, so hieß das: Wir liquidieren unsere revolutionären Ideen. Hätten sie das offen gesagt, so hätten sie die Anhängerschaft des Weltproletariates verloren. Aber es war ihnen aus innen- und außenpolitischen, taktischen Gründen noch daran gelegen, und deshalb verwirrten sie die ganze Frage. Die Trotzkisten aber wurden einerseits gehindert, zum Weltproletariat zu reden, waren selber in dem Irrtum befangen, daß nicht das Proletariat, sondern die Bürokratie im Begriffe war, den Sozialismus zu verraten.
Und doch war eben das erstere der Fall, das heißt der Teil des Proletariates, der ans Ruder gekommen war, verriet den Sozialismus.

Und das war etwas viel Prinzipielleres, als die Trotzkisten gemeint hatten, und hatte ganz andere Konsequenzen. Also nicht der Bürokrat, sondern der Proletenparvenu hat die Revolution verraten. Darin liegt etwas «Gesetzmäßiges». Dieser Prozeß wird sich immer wiederholen. Wo eine bestimmte Schicht ans Ruder kommt, verrät sie ihre idealistische, sozialistische Ideologie. Wir würden sagen, der Durchschnittsmensch aller Klassen und Schichten verrät, wenn er ans Ruder kommt, immer seine idealistische Ideologie. Das ist wohl ein unumstößliches Gesetz.

Abbau der Revolution in Rußland unter dem Druck des bolschewistischen Spießbürgers

In erster Linie will der Neuspießer seine Ruhe haben, und jeder, der davon redet, daß es nicht gut geht im Land, und der etwas ändern will, ist eine persönliche Beleidigung für das Regime und ein Ruhestörer. Er soll die Schnauze halten; hält er sie nicht, dann ins Loch mit ihm.
Deshalb das strengste Verbot, zu reden und zu denken. Strenger als es je in den schwersten Zeiten des Krieges gegen die Weißen war.

Dem Volk fällt es nicht leicht, das Maul zu halten. Denn es geht ihm nicht wunderbar. Auch wird das Volk nervös, weil es sich die «Oblomowerei» abgewöhnen muß. Es muß schaffen lernen. Es ist wahr, es ist schwer, mit dem undressierten russischen vorkapitalistischen Menschen, der durch Krieg, Revolution, Bürgerkrieg etwas verlaust worden ist, eine neue ökonomische Gesellschaft aufzubauen. Die Bürokraten suchen es mit Gewalt zu schaffen. Sie wollen durch Dekret und GPU die neue Welt schaffen. Von Anfang an ist das so gewesen. Das verdarb die Besten unter den Herrschenden. Züchtete Cäsarenwahnsinn. Das russische Volk ist sehr passiv, oder dann explodiert es. Ein passives Volk hat auch gern, daß einer es führe. Alle Passiven erliegen der Gefahr, Despoten zu züchten. Die Passivität der Russen disponierte sie, an Stelle des weißen Zaren einen roten Herrscher zu akzeptieren.
Die Disposition des Volkes zum Despotismus erleichterte das Entstehen der roten Diktatur in Rußland. Der Despotismus, geboren aus der Notwendigkeit, ein passives Volk zur Produktivität zu erziehen, wurde von den Bürokraten verwendet gegen alle, die der Bürokraten Sattheit bekämpfen wollten, die denken, zur Kritik anregen wollten.
Sie benützten den aus «rationalen» Gründen entstandenen Despotismus, um den Weitergang der Revolution zu verhindern. Er wurde Kampfmittel gegen die Revolutionäre. Die Proklamation von Stalin zum Diktator bedeutete: Schaffen eines Führers gegen die Revolution.

Also Verschärfung der Diktatur, um die Revolutionäre auszurotten. Unerbittlicher Kampf des Neuspießers gegen den permanenten Revolutionär, wie in allen Revolutionen, sobald sie einer Klasse zur Macht verholfen.

Der Spießbürger war auch in Noskescher Form in Deutschland und in der Mussolinischen Form in Italien brutal. Der russische hatte sich noch dazu verwildert in langem Bürgerkrieg. Das Menschenleben war so entwertet worden durch Krieg und Bürgerkrieg, daß man es auch in dem neuen Kampf, dem Kampf des Spießers gegen den permanenten Revolutionär, nicht hoch einschätzte.

Die allerbesten Bolschewiki kannten nie Rücksichtnahme auf die menschliche Individualität. Aber sie hatten selber eine solche und vergewaltigten die andern nicht mehr, als sich selber. Sie wurden von einer Idee beherrscht, unterdrückten in sich alles, was dieser Idee nicht lebte, und so waren sie auch gegen die andern. Die russischen Neuspießer aber hatten als einzig Individuelles den Willen, ihren Platz zu behalten, etwas vorzustellen und «glücklich» zu leben. Wer sie da störte, der wurde erschossen.

Die Größe ihrer Brutalität wurde stark mitbestimmt durch die ungeheuren Kompetenzen, die in Bürgerkrieg und Revolution oft ganz minderwertigen Menschen zufielen. Und die ihnen zu Kopf stiegen. Die alten Bolschewiki waren Erben gewesen auch des Nihilismus. Waren Basarows gewesen. Hatten in sich die Bürgervorurteile abgebaut.

Die sie beerbten, waren Parvenüs, die alle Spießervorurteile und Spießergeschmäcker erst ansehen. Leute, die etwas scheinen wollten, während die echten alten Revolutionäre nichts so scheuten wie den Schein. Sein war ihr Wille. Aller Firlefanz war ihnen eklig.

Die Neuspießer in Rußland aber erfanden den Scheinbarock in Leben, Kunst, in allem. Sie waren Vorstellungsbegabte – Leute, denen nichts so weh tat, wie wenn sie nicht anerkannt wurden. Das war der neue Mensch, den die Revolution geboren. Der neue Plüschsofaspießer in der Sowjetunion hat die Plüschsofaseele des internationalen Spießertums. Man stelle sich ihn vor als einen Knaben oder Mädchen, dem Arbeiten immer noch nicht leicht geworden ist. Er muß sich sehr vergewaltigen, seine Triebe unterdrücken, wenn er leistungsfähig sein will. Bei schönem Wetter möchte er lieber bummeln als arbeiten und die neue Welt organisieren. Er und auch diejenigen, welche er kommandiert, würden lieber das Leben genießen als organisieren, arbeiten und kommandieren.

Der neue russische Mensch soll sehr launisch und nervös sein, und das kann man darauf zurückführen, daß er noch nicht rationalisiert ist. Und er selbst und jedermann verlangt das von ihm.

Deshalb ist er böse auf alles, was ablenkt, auf alle Triebe. Wie Frau Oberst Gygax bös ist auf die Liebesgefühle ihrer Dienstmagd, weil sie meint, diese seien daran schuld, daß ihre Dienstmagd ihre Arbeit nicht recht macht, so ist der russische Spießer böse auf den Drang nach Lust bei sich und noch mehr beim «Untertan». Er haßt die sinnlichen Ablenkungen. Das ist typisch für den Spießbürger. Er hat einen Antisexualkomplex.

Man stellt sich unter dem russischen Revolutionär etwas anderes vor. Man denkt an eine typische Figur, etwa die dritte in der «Liebe» von Kollontay. Stimmt gar nicht. Wenn sie eine Fortsetzung geschrieben hätte, hätte sie eine vierte Figur gezeichnet: den uns allen bekannten Spießer mit der doppelten Sexualmoral. Eine, die er von sich und den andern verlangt, und eine, die er lebt.

Da er sehr moralisch ist, hat er die Homosexualität, die sein revolutionäres Strafrecht als nicht mehr strafbar ansah, wieder zu strafen angefangen. Auch ist er sehr streng geworden in bezug auf die Scheidung. Es müssen wieder beide Teile einverstanden sein, wenn geschieden werden soll. Scheidung ist auch Monopol der Wohlhabenderen geworden. Man zahlt eine Art Scheidungs-«strafe». Die Schwangerschaftsunterbrechung wird wieder bestraft, und es gibt nicht einmal mehr eine medizinisch gestattete Schwangerschaftsunterbrechung aus sozialen Gründen. Und die Wissenschaft fängt auch an, zu schreiben, daß eine Tuberkulose durch eine Schwangerschaft nicht verschlimmert werde.

Man fängt wieder an zu reden von der Heiligkeit der Familie. Hat auch den Weihnachtsbaum wieder eingeführt.

In einem vielgerühmten Roman von Awdejenko, «Ich liebe Dich», ist der Höhepunkt die Stelle, wo dem Liebhaber das süße Geheimnis der Schwangerschaft mitgeteilt wird. Im Schulbetrieb kehrt man zu den autoritären preußischen Schulmethoden zurück und empfindet sie als fortschrittlich. Die Todesstrafe für Kinder über zwölf Jahre wird eingeführt.
Weshalb diese Rückbildungen auf kulturellem Gebiet? Die Bolschewiki waren insofern immer Bolschewiki, als ihnen die Freiheit des Individuums verhaßt war, sie brachten für sie kein Verständnis auf. Sie sind Erben des Zarismus, das heißt eines Volkes, das aus langer Gewohnheit der Unfreiheit fast keine Lust hat, selber zu denken und zu handeln. Sie übernahmen es, dieses Volk in die Revolution zu führen. Als dieses Oblomow-Volk explodierte, schlug es alles zusammen, was es an Fesseln gab. Das war die erste Phase der Revolution, in der eine Art Freiheit fürs Individuum «ausbrach».

Nach der Explosion wurde das Volk, besonders weil die Bolschewiken alle freiheitlich Gesinnten (Anarchisten, Anarchosyndikalisten) erschossen, wieder zum passiven Volk, das sich führen und despotisch beherrschen ließ, sich überhaupt nur bewegte, wenn es von den Bolschewisten am Kragen genommen wurde. Sie versuchten nicht, zur Freiheit zu erziehen. Sie verachteten die Freiheit. Gleichzeitig zog zu ihnen hinüber alles, was herrschen, sadistisch sein wollte. Was dem Teufel vom Karren fiel.

Und nun kam die Phase des Austobens der Herrschlust (sehr stark ökonomisch, selbsterhalterisch bedingt). Den Herrschenden war jede individuelle Regung ein Dorn im Auge. Dagegen wehrten sich wenige. Die Feigheit des Menschen und sein Wille, an den Augen der Herrschenden abzulesen, wie man sich verhalten müsse, um heraufzukommen, taten das ihrige. Damit war die Revolution zu Ende. War eine neue Despotie erschienen. Man freute sich, als Herrschender dem Untertanen «zuleid zu werken». In diesem Stadium befindet sich Rußland seit langem.

Der Wille zur Lust beim Untertanen ist dem Herrscher ein Dorn im Auge.

Wer einmal zu tun gehabt hat mit einem Bolschewiken der späteren Jahre, in dessen Auge es aufflammt bei jedem Wort, das ihm nicht gefällt, der einen anbrüllt bei jedem Satz, der Freiheit atmet, der jedesmal lügt, wenn er mit der Wahrheit das System nicht verteidigen kann, der kann sich das Leben des Individuums, das sich für seine Freiheit wehrt, in Rußland vorstellen! Und wer im Ausland nicht nur diese Bolschewiki, sondern auch die Leute, die in Missionen herkamen, gesehen hat und von ihnen nichts erfahren konnte, als was in den Zeitungen der Bolschewiki steht – außer sie waren mal besoffen und heulten dann über die Last der Lüge und Unfreiheit, die sie bedrückte –, wer das gesehen, der kann sich eine ungefähre Vorstellung machen von dem, was aus der Revolution wurde.

Und wenn man sich fragt, wie wird das denn ertragen, so muß man daran denken, daß die, welche die Macht haben, Menschen sind, die von zuunterst kamen und sich freuen, daß sie zuoberst sind. Es gibt einen Film: «Die letzten Tage von St. Petersburg». Einen Sowjetfilm. Zum Schluß des Films sucht eine Proletin ihren Mann. Sie sucht und sucht und muß immer höher steigen, ihn zu suchen. Zulegt findet sie ihn zuoberst auf einem Turm. Von da kann er auf alle herabsehen und alle beherrschen. Dort oben steht er und betrachtet die Welt – und seinen Nabel. «Wir sind das Salz der Erde.»

Die Ermordung der Revolutionäre

Daß die echten Revolutionäre vor einer solchen Entwicklung erschraken und eine neue Revolution gegen dieses herrschende Geschmeiß anstrebten, ist selbstverständlich. War das nun das, was sie gewollt, was sie angestrebt? Wollten sie die Monopolisierung der Errungenschaften der Revolution durch Stalin, das heißt durch den repräsentativen Typus des emporgekommenen Seminaristen, der die andern Spießbürger führte und von ihnen Generalvollmacht erhielt, weil er sie in der hundertsten Potenz darstellte? Als ich 1921/22 in Moskau war, sprach man in der Arbeiteropposition von der dritten Revolution, die nötig sein werde gegen die damals Herrschenden, Lenin, Trotzki, Sinowjew usw. Die Opposition sagte, die Revolution ist verloren und in die Hände der Bürokraten geraten. Die Arbeiterorganisationen haben keine Macht mehr. Ein neuer Bürokratenstaat ist entstanden; gegen ihn muß der Arbeiter seine Revolution machen. Das war schon 1921. Noch unter Lenin und Trotzki, und beide unterdrückten, wenn auch mit etwas weniger grausamen Mitteln, diese Kritik und Kritiker.

Stalin und seine Gefolgschaft sind groß geworden dank dem System von Lenin und Trozki. Dank dem autoritären Zentralismus. Weil man die Arbeiteropposition unterdrückt hat, weil man alles mit Macht, Gewalt, Autorität, Tscheka, GPU glaubte durchsehen zu müssen. Man glaubte nicht an die Notwendigkeit, sich auf die guten Elemente stützen zu müssen. Man wollte einfach alles aufdrängen. Mit wessen Hilfe schien gleichgültig. Man nahm einfach die Leute, die einem gehorchten, kamen sie aus der Ochrana oder aus der Wrangel-Armee, um die zu bändigen, die Lenin, Trozki, dem Politbüro nicht gehorchen wollten.

Alles wollte man mit Gewalt durchsetzen. Solange man eine Minorität ist und keine Macht zu vergeben hat, mag das gehen, weil dann niemand zu einem kommt, außer er sei überzeugt und wolle sterben für seine Idee. Wenn man aber einen Goldschatz hat, Staatsmacht hat, dann kommt aller Dreck zu einem, und mit diesem Dreck zusammen haben schon Lenin und Trozki die wahrhaftigen Revolutionäre zu Paaren getrieben.

Lenin und Trotzki haben Stalin, haben die Organisation geschaffen, diejenige Regierungsmethode und Menschen herangezogen, die heute die Revolutionäre erschießen lassen. Ihre Generation hat angefangen, die Disziplin des Idioten höher zu schätzen, als das ungenierte Aussprechen der Wahrheit durch einen anständigen Menschen. Sie haben immer mit den Unanständigen die Anständigen geschlagen. Sie wußten es. Sie hielten die Disziplin für die Haupteigenschaft des Revolutionärs und töteten so den fruchtbarsten Menschen, schlossen ihn aus, den intellektuell und moralisch fruchtbaren Menschen. Da sie von dem Wahn besessen waren, sie wüßten die Wahrheit, sie allein, nach Marx, würden den Weg zur Emanzipation der Arbeiterklasse kennen, fanden sie, daß alle ihnen zu gehorchen hätten. Da ihnen in der Zeit, da sie keine Macht hatten, nur besondere Individuen gehorchten und nicht der Lump, kam die Falschheit ihres Systems erst zur ganzen Auswirkung, als sie an die Macht gekommen waren und nun alle zu ihnen kamen, die durch ihren Kadavergehorsam zu etwas kommen wollten.

Sie haben die heutige Bürokratie geschaffen, die miserable Qualität dieser Bürokratie und ihres Anhangs.

Sie haben durch Schaffung dieses Apparates die Weiterentwicklung der Revolution verhindert. Sie schufen den Apparat, der die alten Bolschewiki erschossen hat.
Trotzki schuf den Apparat, der ihn aus Rußland verbannte. Zwanzig Jahre lang haben die Bolschewiki daran gearbeitet, den Apparat zu schaffen, der sie schließlich zugrunde richtete. Wenn dieser Apparat nicht alle tötet, die davon zu berichten wissen (was schon möglich ist), wird der letzte Bolschewik die Tragödie des Irrtums der Bolschewiki erzählen: Wie Lenin die Revolution, die er geschaffen, zugrunderichtete.

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(Auszug aus: Fritz Brupbacher: Der Sinn des Lebens. Zürich 1946.

Eine Auswahl u. a. aus diesem Band, die auch den hier dokumentierten Text umfasst, ist unter der Überschrift „Hingabe an die Wahrheit – Texte zur politischen Soziologie, Individualpsychologie, Anarchismus, Spießertum und Proletariat“ 1979 im Karin Kramer Verlag (Berlin) erschienen.

Lesenswert ist auch die Autobiographie Brupbachers: „Ich log so wenig als möglich“, zuerst erschienen Zürich 1935, 2. Auflage 1973 Zürich.

Karl Lang hat eine Biographie von Brupbacher verfasst unter dem Titel „Kritiker - Ketzer - Kämpfer. Das Leben des Arbeiterarztes Fritz Brupbacher“. Zürich, 1976.)